Seidenkinder. Christina Brudereck

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Seidenkinder - Christina Brudereck


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Matt in einer Welt, die aus Nationen und Mächten, Geschichte, Wirtschaftsinteressen und Systemen, Ideologien und großen Zusammenhängen bestand. Er hatte sich nie damit abfinden können, wie diese Welt tickte. Er hatte immer versucht, zu verstehen. Zu hinterfragen. Den Konflikten auf den Grund zu gehen. Hinter die Kulissen von Wahlergebnissen und Reden zu blicken. Er hatte immer betont, dass jede Stimme zählt. Dass jeder Mensch einen Beitrag leisten konnte. Leisten musste. Dass man sich nicht gewöhnen durfte an die Gewalt. Dass Gleichgültigkeit die unmenschlichste Regung von allen war und Desinteresse eigentlich nicht zu verzeihen. Er hatte die unmöglichsten Fälle vor Gericht durchgefochten, angeklagt, verteidigt, um Gerechtigkeit gekämpft.

      Amy lebte in einer Welt, die aus Tanz, Musik, Ballett und Theater bestand. Sie trainierte hart und der Erfolg gab ihr recht, zumindest innerhalb ihres Wirkungsbereichs.

      Als die zwei sich kennengelernt hatten, damals an der Universität, waren sie beide rebellisch gewesen und hatten sich gegenseitig inspiriert mit Ideen, das Establishment aufzurütteln. Amy hatte die Bühne nutzen wollen, um die allzu Sesshaften mit ihren Tanz-Inszenierungen aus den Sitzen zu holen und wachzurütteln. Mit der Zeit aber, so dachte Anne, hatte sie diese Ziele und Ideale aus den Augen verloren und war selbst immer mehr Teil einer künstlichen Theaterwelt geworden. Ihre jetzige Protesthaltung wirkte zu gewollt. Und wenn sie das Publikum auch animierte, aufzustehen, konnte sie ihm doch nicht genau sagen, wofür oder wogegen eigentlich. Matt hatte ihr ihren Erfolg immer gegönnt, sie unterstützt. Aber er hatte sie gleichzeitig auch beständig dazu herausgefordert, sich treu zu bleiben. Bis er ihr irgendwann vorwarf, ihre gemeinsamen Ideale verraten zu haben. Nur um im Gegenzug von ihr zu hören, dass er nie wirklich erwachsen geworden sei und auf dem Niveau eines Träumers lebte.

      Anne wurde traurig bei dem Gedanken, wie wenig sich die beiden inzwischen noch zu sagen hatten. Sie dachte an eine kleine Szene, die ihr offenbart hatte, wie es um ihren Sohn und seine Frau stand: Amy war schweißgebadet vom Training oder vom Joggen, sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, nach Hause gekommen und war in die Küche gegangen, um sich eine Flasche Wasser zu holen. Matt hatte sie vom Treppenabsatz aus gesehen und einen kleinen Kommentar abgegeben: „Was für ein Luxus, in einer Welt zu leben, in der einen sonst nichts mehr zum Schwitzen bringt.“

      Ob er gewollt hatte, dass Amy diesen spitzen Satz hörte, war Anne nicht klar. Aber sie hatte ihn gehört. Und seit diesem Tag war sie immer seltener zu Hause, blieb immer häufiger im Theater, auch über Nacht, wie, um seinem Zynismus auszuweichen. Anne wusste, dass hinter den bissigen Worten eine tiefe Unruhe lag, eine Sehnsucht, wirklich etwas zu verändern. Und sie wusste, dass sie selber ihrem Sohn diese Haltung vererbt hatte, anerzogen, weitergegeben. Wenn diese Sehnsucht ihn jetzt nach Indien bringen würde, könnte er vielleicht sein Glück finden, dachte sie. Aber er musste seinen eigenen Weg dorthin finden, sie würde sich nicht zu sehr einmischen dürfen. Wie sie sich wünschte, er würde Priya sehen! Und Priya würde ihn sehen - und sie würden das alte Versprechen einlösen können, das sie sich gegeben hatten. Sie merkte, wie unruhig sie bei dem Gedanken wurde. So war es immer schon gewesen: Wenn ihr etwas wirklich am Herzen lag, wollte sie unbedingt, dass Matt es mit ihr teilte. Aber er sollte es freiwillig tun, selbstständig.

      Sie kreuzte die Arme vor dem Oberkörper, schloss die Augen und begann sich selbst hin und her zu wiegen. Dazu summte sie ein Kinderlied, aus einer anderen Welt.

      Kapitel 3

      Priya stand vor der Tür ihres Hauses. Gleich würde Jaya kommen und sie wollte ihn heute direkt hier empfangen. Der Himmel war den ganzen Tag über schon strahlend blau gewesen, die Sonne heiß. Die Mangos am Baum waren reif, auch heute Abend würden sie wieder eine Frucht essen können.

      Ein Geräusch ließ sie aufhorchen und zum Nachbargrundstück hinüberschauen. Erst auf den zweiten Blick bemerkte sie die Tochter ihrer Nachbarin, die auf dem Boden vor dem Eingang zu ihrem Haus kniete und traditionelle Ornamente auf den Boden malte. Sie grüßten einander freundlich, die jüngere Frau verbeugte sich, aber Priya gab ihr mit einem Lachen und einem Wink zu verstehen, dass sie es nicht übertreiben solle mit diesen Gesten des Respekts, weil sie sich lieber unterhalten wollte.

      Shanti war gerade einmal sechzehn Jahre alt. Sie würde wahrscheinlich demnächst verheiratet werden. Dass ihre Mutter es ihr überließ, die althergebrachten Verzierungen zu malen, sprach dafür, dass sie wie eine erwachsene Frau angesehen wurde. „Was malst du?“, wollte Priya wissen. Shanti trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick frei auf das Muster. Es zeigte eine Lotusblüte, ganz nach herkömmlichem Vorbild. Priya nickte anerkennend, die junge Frau hatte sehr sorgfältig und ebenmäßig gearbeitet. Die Blüte wirkte sehr symmetrisch; ihre Mutter würde zufrieden sein. Priya schaute noch genauer hin und musste sich dafür auf die Zehenspitzen stellen, um über die Hecke sehen zu können.

      „Aber womit malst du denn da?“, fragte sie und Shanti zeigte ihr ein Stück Kreide. Priya schüttelte ärgerlich den Kopf. „Warum nimmst du nicht gemahlenen Reis?“

      Aber Shanti konnte nur mit den Schultern zucken. Priya wollte gerade anheben, die junge Frau zu belehren, entschied sich dann aber dagegen. Sie behielt ihre Gedanken für sich. Aufmunternd und zum Abschied nickte Priya ihr zu, lobte sie noch einmal für die Genauigkeit, mit der sie gearbeitet hatte, und ließ einen Gruß an ihre Mutter bestellen. Sie wandte sich wieder ihrem Haus zu, drehte sich dann aber im Gehen doch noch einmal um und forderte Shanti auf, ihre Mutter danach zu fragen, seit wann die Ornamente mit Kreide gemalt wurden statt mit zermahlenem Reis.

      Priya setzte sich auf die Stufen vor ihrer Haustür. Der Reis gäbe den Ameisen Futter und würde so verhindern, dass sie ins Haus kämen. Über diesen praktischen Nutzen hinaus war es aber auch eine religiöse Handlung, auf diese Weise Reis zu opfern. Priya selbst hatte sich von den hinduistischen Traditionen ihres Landes gelöst, aber sie dachte doch, dass Bräuche, wenn man sie denn ausübte, auch ihren Sinn behalten müssten und dass Eltern ihren Kindern diesen Sinn begreiflich machen sollten. Sonst sähen die Kinder eines Tages nicht mehr ein, warum sie eine Tradition bewahren sollten. Warum Rituale pflegen, deren Bedeutung man nicht mehr verstand? Von solchen Bräuchen würde man sich über kurz oder lang lösen.

      Sie setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, die Treppen vor ihrem Haus. Ornamente und gemahlenen Reis gab es hier nicht. Aber sie hatte einige Niemblätter auf den Stufen ausgebreitet, grüne und einige junge kleine Blätter, die bei diesem Baum rötlich, pink waren. Mit dem Niembaum verbanden sich viele alte Geschichten, dem Baum, seinen Blättern, seinen weißen Blüten und dem Öl seiner Früchte wurden magische Kräfte zugeschrieben, ja manche meinten auch, dass im Niembaum ein Gott wohne. Früher hatte sie gesehen, wie ihre Tante und die anderen Frauen Niemblätter in ihre Kleider nähten und sich davon eine Art übermenschlichen Schutz versprachen. Für Priya war ein Baum ein Baum, kein Gott. Aber sie wusste auch, dass hinter den alten Riten oft nicht einfach ein naiver Aberglaube steckte, sondern etwas Wahres oder eine alte Weisheit. Sie wusste, dass sie nicht wie ihre Tante mit einer unbestimmten Angst vor den Göttern leben wollte, ständig darum bemüht, Geister und Kräfte zu beruhigen oder durch bestimmte Riten für sich zu gewinnen. Dennoch, sie wollte immer gerne herausfinden, ob mit einem Ritual eine hilfreiche Erkenntnis verbunden war, und war immer bereit, zu glauben, dass hinter einer Tradition etwas zum Vorschein kam, das dem Leben diente. Und wenn diese Entdeckung ihren eigenen spirituellen Auffassungen nicht widersprach, würde sie die Erkenntnisse, ihre tiefe Weisheit, vielleicht sogar die Rituale dann auch gerne bewahren.

      So hatte sie als Erstes entdeckt, dass der Niem gegen Bakterien und Viren wirkte, und sie hatte schon damals, als ihre Kinder noch klein waren, ihren Husten damit gelindert. Oder einmal hatten ihre Kinder und die des weißen Missionars auch alle miteinander Kopfläuse gehabt und sie hatte ein bestimmtes Gemisch aus den Blättern und dem Öl des Niems genommen und die kleinen Insekten damit besiegt.

      Ihr Sohn Jaya war ein echter Gärtner. Hier, rund um ihr kleines Haus und auch in dem Garten hinter dem Kinderheim, erst recht aber auf dem großen Gelände in den Bergen, wo das Kinderhilfswerk ein Camp führte, hatte er schon oft bewiesen, dass er geschickt war im Umgang mit


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