Tod im Thiergarten. Horst Bosetzky
Читать онлайн книгу.einer Ohnmacht nahe und musste von Werpel und dem Constabler gestützt werden. »Det er mir det antun musste!«, schluchzte sie.
»Gott, Kind, es gibt noch tausend andere Männer auf der Welt, die du heiraten kannst«, sagte Werpel. Es war eigentlich gut gemeint, löste aber einen Weinkrampf bei Anna aus.
Ein Dienstmädchen aus der Nachbarschaft war neben der kleinen Gruppe stehen geblieben und hatte mitbekommen, worum es hier ging. Sie wartete, bis Werpel und der Constabler Anna auf einen schnell herbeigeschafften Stuhl gesetzt hatten, um dem Commissarius ins Ohr zu flüstern:
»Ich weeß ooch, warum der sich uffjehangen hat. Die Anna hat nämlich ooch andre Kerle jehabt und is ’n janz liederliches Frauenzimma. Det hatta nich ertrag’n könn’n.«
Werpel nahm es interessiert zur Kenntnis. Dann wartete er, bis Anna sich so weit erholt hatte, dass man wieder mit ihr reden konnte. Er zeigte ihr den Abschiedsbrief, den sie in Dölaus Kammer gefunden hatten.
»Ist das seine Handschrift?«
»Ja, det isse«, bestätigte das Dienstmädchen.
»Meiner Meinung nach auch«, sagte Hoppe. »Aber dass er so viele Fehler drin hat …«
»Das wird die Aufwallung gewesen sein«, vermutete Werpel. »Niemand hängt sich ja zweimal auf, so dass einem beim ersten Mal die Übung dabei fehlt.«
»Ich bitte Sie!«, rief der Auskultator Krüger. »Das schickt sich nicht. Anna, du gehst am besten wieder ins Haus.«
Werpel wurde nun sehr direkt. »Mischen Sie sich da nicht ein! Dies ist ein Verhör, denn dieser Dölau war ein Verbrecher, und die hier könnte seine Komplizin gewesen sein.« Er zeigte auf das Dienstmädchen.
»Wieso soll ihr Bräutigam ein Verbrecher gewesen sein?«, fragte der Auskultator.
Werpel zeigte auf den Abschiedsbrief. »Hier! Warum sollte er sonst von einer schweren Schuld sprechen? Es handelt sich also um ein schweres Verbrechen.«
»Ick weeß von nüscht!«, rief Anna.
»Du lügst!«, herrschte Werpel sie an, denn mochte er auch als grober Klotz gelten, so viel Berufserfahrung hatte er, um genau zu spüren, ob jemand die Wahrheit sagte oder nicht. »Gut, wenn du nicht mit der Sprache raus willst, kommst du eben mit. Wir haben immer eine Zelle frei für Geschöpfe wie dich.«
Da brach es aus Anna heraus: »Ick weeß würklich von nüscht, ick weeß nur, detta manchmal mehr Jeld jehabt hat, alßa von sei’m Meesta jekriegt hat.«
»Und du hast nie nachgefragt, woher er das Geld gehabt hat?«
»Nee, hab ick nich, ick hab ihn ja jeliebt, Herr Commissarius.«
Drei
Der Königlich Preußische Major der Artillerie Christian Philipp von Gontard musste sich am Montag erst gegen Mittag auf den Weg zur Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule machen, wo er das Fach Physik vertrat, und so konnte er die freien Stunden nutzen, endlich den Dieb zu fangen, der seit Wochen die Gegend unsicher machte: einen Kerl, der nicht etwa bei Nacht und Nebel in gutbürgerliche Wohnungen einbrach, sondern am helllichten Tage, wenn der Hausherr seinem Broterwerb nachging, die Kinder in der Schule waren und die Frau des Hauses mit dem Dienstmädchen unterwegs war, um auf den Märkten ringsum Frisches einzukaufen.
Der Commissarius Werpel war ratlos. »Ich glaube langsam, dass dieser Mann nur in der Phantasie der Bestohlenen existiert«, hatte er zuletzt geäußert. »Die Leute selber oder ihre Dienstboten schaffen etwas beiseite, warum auch immer, und schieben es einem Phantom in die Schuhe.«
Gontard war da anderer Meinung gewesen. »Von Kammergerichtsrath Harrassowitz kann ich mir schwer vorstellen, dass er zu einer solchen Tat fähig ist. Und bei ihm ist letzte Woche eingebrochen worden.«
Werpel hatte unwirsch reagiert. »Sie sollten bei Ihren Leisten bleiben, Herr von Gontard, und mir nicht immer ins Handwerk pfuschen!«
»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Commissarius, aber es ist nun einmal meine große Leidenschaft, dem Verbrechen auf die Spur zu kommen. Es ist ein geheimer Drang in mir, jedes Rätsel zu lösen - in welcher Profession und Wissenschaft auch immer.«
Gontard war klar, dass es sich bei dem Einbrecher um einen intelligenten Menschen handeln musste, der im Gewand eines ehrlichen Bürgers durch Berlin streifte und günstige Gelegenheiten auskundschaftete. Er hatte schon eine Zeitlang fliegende Händler, Scherenschleifer und Laufburschen beobachtet, ohne aber eine verdächtige Person entdecken zu können. Nun hatte sich Gontard eine ganz spezielle List ausgedacht, und zwar hatte er den Victualienhändler Vogel überredet, allen seinen Kunden zu erzählen, er habe eine große Erbschaft gemacht und nun sei bei ihm einiges zu holen. Wenn das kein Köder war, den Unbekannten in die Falle zu locken!
Gontard bewohnte eine Etage in einem Haus in der Dorotheenstraße und hatte bis zum Laden Victor Vogels in der Mittelstraße nur ein paar Schritte durch die Neustädtische Kirchstraße zu gehen. Er hoffte nur, keinen Bekannten zu treffen, denn so unterhaltsam kleine Plaudereien waren, sie hielten immer auf. Doch als er um die erste Ecke bog, lief er Madame Cossé in die Arme. Ihr auszuweichen war bei ihrer Körperfülle schier unmöglich. Andere Damen hätten darunter gelitten, doch als Opernsängerin war sie ausreichend exkulpiert.
»Man ist ja in dieser Stadt seines Lebens nicht mehr sicher!«, begann sie. »Wissen Sie eigentlich, Herr von Gontard, was gestern bei uns in der Mittelstraße passiert ist?«
»Nein, es tut mir leid, ich war bei meiner Familie auf unserem Gut bei Wutike.«
»Na, das hätten Sie erleben müssen!«, rief Madame Cossé. »Stehen plötzlich der Commissarius Werpel und ein Constabler beim Schneidermeister Hoppe vor der Tür und wollen Ludwig sprechen, seinen Gesellen, aber der hatte sich in der Nacht im Thiergarten aufgehängt.«
»Das ist ja weniger schön«, sagte Gontard, der auch zu Hoppes Kunden zählte und Ludwig deutlich vor Augen hatte. »Aber warum fühlen Sie sich nicht mehr sicher, Madame Cossé, wenn ein Schneidergeselle seinem Leben ein Ende macht?«
»Es ist die Angst, dass mir auch einmal in den Sinn kommen könnte, mich aufzuhängen - nach hämischen Kritiken beispielsweise.«
Gontard konnte ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Ein Ast, der das Gewicht der Madame Cossé ausgehalten hätte, war kaum zu finden. Zum Glück aber fiel ihm eine Entgegnung ein, die wesentlich charmanter war. »Ich bitte Sie, Gnädigste, bei Ihnen ist doch die Wahrscheinlichkeit einer schlechten Kritik noch geringer als die, jetzt im Mai einen brennenden Weihnachtsbaum zu entdecken.«
»Danke für die Blumen, Herr von Gontard!« Für Madame Cossé war der Tag gerettet, und sie zog frohen Herzens weiter zur Probe.
Gontard machte, dass er zum Victualienhändler Vogel kam. Dessen Frau war in alles eingeweiht und ließ ihn in die Wohnung, ohne dass groß Worte gewechselt werden mussten.
»Am besten, Sie verstecken sich im Schlafzimmer hinter dem Vorhang«, schlug sie Gontard vor. »Denn mein Mann hat gehört, dass sich die Einbrecher immer dorthin begeben, weil sie dort, unter der Wäsche versteckt, Schmuck und Goldstücke vermuten.«
»Eine gute Idee.« Gontard nickte und setzte sich, als sie und das Dienstmädchen die Wohnung verlassen hatten, auf die Bettkante und begann, einen Criminalroman zu lesen, der ihm wärmstens empfohlen worden war. Der Titel lautete Adele oder das grausame Verhängnis, und geschrieben hatte ihn der Jurist Jodocus Donatus Hubertus Temme, den Gontard vor Jahren als Criminaldirector in Stendal kennengelernt hatte. Temme wäre gern nach Berlin gegangen, doch wegen seiner liberalen Gesinnung sah ihn der König gerne weit weg von seiner Residenz, und so hatte man ihn zum Hofgericht Greifswald geschickt.
Nun hieß es warten …
Franz Karbusch stammte aus der Familie eines Lumpensammlers und hatte es anfangs durchaus als sozialen Aufstieg empfunden, mit einem kleinen Bauchladen durch Berlin und die Orte ringsum zu ziehen und auf billigem Papier gedruckte Schriften zu vertreiben, fromme Texte, Lieder, Abenteuergeschichten, Märchen,