Tod im Thiergarten. Horst Bosetzky

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Tod im Thiergarten - Horst Bosetzky


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desto größer wurde auch die Nachfrage nach Lesefutter, und der Kolportagebuchhandel, der seine Wurzeln in Frankreich hatte, blühte auch in Preußen langsam auf - von den Herrschenden argwöhnisch beobachtet, fürchtete man doch die Verbreitung revolutionärer Gedanken.

      Bevor er Beschäftigung als Kolporteur gefunden hatte, war Karbusch Mitglied einer Bande von Kollidieben gewesen und von ihr als »Kletterer« eingesetzt worden, das heißt, er hatte sich an Speditions- und Geschäftswagen herangeschlichen und dieselben erklommen, um das Kollo in einem günstigen Augenblick abzuwerfen. Die älteren Genossen hatten dann die Bergung übernommen. Von ihnen war er auch in die Zunft eingeweiht worden und hatte gelernt, mit Dietrich und Stemmeisen umzugehen. Wegen seiner vergleichsweise hohen Intelligenz war er nie erwischt worden, und Frieda, eine Näherin vom Hausvogteiplatz, hatte es geschafft, sein Leben in eine ehrbare Richtung zu lenken.

      Doch als Frieda dann an der Cholera verstorben war, hatte er der Versuchung nicht widerstehen können, einfacher als durch seiner Hände Arbeit zu Geld und Gut zu kommen. Hatte er genug beisammen, wollte er nach Amerika auswandern und dort eine Kleiderfabrik eröffnen. Das war sein Lumpensammlertraum … Seine ersten Einbrüche hatte er als »Klingelfahrer« verübt, das heißt, er hatte vorher nichts ausgekundschaftet und auf gut Glück bei reichen Leuten geklingelt. War ihm geöffnet worden, hatte er gebettelt oder um Auskunft über irgendeinen Mieter gebeten, war aber niemand zu Hause, hatte er sich mit Hilfe seines Dietrichs Zutritt verschafft und alles mitgenommen, was sich abtransportieren ließ, ohne dadurch Aufsehen zu erregen. Bald aber war er zu einem anderen System übergegangen: der gründlichen Observation vielversprechender Objekte, dem Ausbaldowern, wie es in seinen Kreisen genannt wurde. Am einfachsten war dies im Sommer, wo die fortgesetzt verhängten Fenster verrieten, dass die Herrschaften in die Sommerfrische gefahren waren. Das zurückgelassene Dienstmädchen ließ sich schnell

      »ablavieren«. Einmal hatte er es sogar mit zwei Kumpanen zusammen geschafft, eine ganze Wohnung mit Hilfe eines Möbelwagens auszuräumen.

      In diesem Jahr führte er seine beiden Professionen –

      Kolporteur und Einbrecher - in höchst geschickter Weise zusammen, und da er sein inzwischen angehäuftes kleines Vermögen niemanden sehen ließ und nach außen hin einen höchst ehrbaren Lebenswandel führte, war ihm auch noch niemand auf die Schliche gekommen. Er hatte immer Glück gehabt - selbst als er in der Neuen Friedrichstraße einen Rentier, von dem er bei einem Einbruch überrascht worden war, mit mehreren Messerstichen traktiert und fast getötet hätte, war kein Verdacht auf ihn gefallen. Er wusste aber genau, dass man sein Glück nicht überstrapazieren durfte, und hatte deshalb vor, im August dieses Jahres Berlin zu verlassen und in Holland an Bord eines Seglers zu gehen, der ihn nach New York bringen sollte.

      Nun, beim Victualienhändler Vogel wollte er noch einmal fette Beute machen. Die örtlichen Verhältnisse bis hin zu den Schlössern kannte Karbusch gut, da er das Dienstmädchen regelmäßig mit Liebesromanen belieferte. Er hatte eruiert, dass Wilhelmine Vogel und ihr Mädchen das Haus immer Punkt zehn Uhr verließen, und seine heutige Tour danach ausgerichtet. Und in der Tat traten die beiden Frauen zur erwarteten Zeit auf das Trottoir hinaus und entfernten sich Richtung Schadowstraße. Karbusch wartete hinter dem Karren eines Mannes, der frischen Sand anlieferte. Ein schneller Blick die Straße hinunter zeigte ihm, dass niemand in der Nähe war, der ihm gefährlich werden konnte. Auch hinter den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses blieb alles ruhig. Schnell zog er seinen Dietrich heraus und machte sich am Schloss zu schaffen. Seine große Umhängetasche und sein breiter Rücken boten Sichtschutz genug. Er brauchte nur Sekunden, dann war er im Haus. Da er das Dienstmädchen ausgehorcht hatte, wusste er, dass beim Victualienhändler Victor Vogel Geld und Schmuck im Schlafzimmer versteckt waren, und so stieg er, ohne zu zögern, ins erste Stockwerk hinauf.

      Wilhelmine Vogel hatte für ihre Einkäufe nie weniger als eine Stunde gebraucht, also musste er sich nicht übermäßig beeilen. In aller Ruhe legte er seine Umhängetasche auf das breite Doppelbett und setzte sich auf dessen Kante, um sich umzusehen und die Tapete zu mustern: Oft gab es da eine geheime Tür. Doch kaum hatte er sich niedergelassen, da sprang er auch schon wieder auf, denn nach all den Jahren als Einbrecher hatte er eine Witterung für drohende Gefahren entwickelt, die der eines Tieres kaum nachstand, und so wusste er von seinem Instinkt her in diesem Augenblick ganz genau, dass noch ein anderer Mensch in diesem Zimmer war. Und richtig: Die Schranktür flog auf, und ein Mann wurde sichtbar, der mit einer kleinen Pistole auf ihn zielte.

      »Nehmen Sie die Arme hoch, stehen Sie auf und gehen Sie zur Tür!«

      Karbusch wusste, dass sein Leben auf der Kippe stand. Jetzt entschied sich: Zuchthaus oder Amerika. Und da er nichts mehr zu verlieren hatte, riss er ein Messer aus seiner Umhängetasche und stürzte sich auf den Mann, der ihn dingfest machen wollte.

      Die Vereinigte Artillerie- und Ingenieurschule war 1816 gegründet worden und seit 1823 Unter den Linden 74, Ecke Wilhelmstraße in einem repräsentativen Gebäude untergebracht, das kein Geringerer als Karl Friedrich Schinkel entworfen hatte. Hier fand in einjährigen Kursen die Aus- und Fortbildung der Lieutenants statt, die zuvor eine Kriegsschule besucht und anschließend ein zwei- bis dreijähriges Truppenpraktikum absolviert hatten. Um ihre Ausbildung abzuschließen, mussten sie am Ende ihr Examen bestehen. Lehrveranstaltungen fanden in den Fächern Artillerie- und Ingenieurwissenschaften, Mathematik, Chemie, Physik, Terrainlehre, Taktik, Kriegsgeschichte, Pferdekenntnis, Zeichnen, Englisch und Französisch statt. Dazu kamen Übungen im Terrainaufnehmen und Besuche bei den technischen Artillerie-Instituten.

      Christian Philipp von Gontard vertrat das Fach Physik unter besonderer Berücksichtigung der Ballistik. Der galt auch seine heutige Einführungsveranstaltung: »Ballistik, meine Herren, leitet sich vom griechischen Wort für ›werfen‹ ab - und ist die Lehre von den geworfenen Körpern. Als Vater der Ballistik gilt der italienische Mathematiker Nicolo Tartaglia, geboren 1499 oder 1500 in Brescia, so genau weiß man das nicht, gestorben 1557 in Venedig. Er entdeckte die Wurfparabel. Sein Familienname ist nicht bekannt, er nannte sich aber selbst Tartaglia, und zwar aus folgendem Grund: Als die Franzosen im Februar 1512 seine Geburtsstadt Brescia plünderten und ein schreckliches Massaker anrichteten, wurde er von einem Soldaten mit Schwerthieben am Kopf und im Gesicht schwer verletzt, so dass er ohne Vollbart wie ein Monstrum ausgesehen hätte. Eine der Verletzungen ging quer durch den Mund und die Zähne, weshalb er eine Zeitlang nicht richtig sprechen, sondern nur stottern konnte. Das brachte ihm den Spitznamen Tartaglia, der Stotterer, ein, unter dem er noch heute bekannt ist.«

      Gontard machte eine kleine Pause, um die Neugierde seiner Zuhörer zu befriedigen, denn es wurde heftig getuschelt, dass er, Gontard, dann wohl Glück gehabt habe.

      »Ja, meine Herren, das habe ich wohl. Die Verletzung an meiner rechten Wange ist nicht die Folge des Auftreffens eines geworfenen Körpers, sondern die eines abgewehrten Messers, mit dem ein seit langem gesuchter Einbrecher seine Festnahme durch mich verhindern wollte.«

      Man klatschte Beifall, und er verbeugte sich kurz.

      »Danke! Nun aber zurück zu unserem zentralen Untersuchungsgebiet: der ballistischen Kurve, deren Idealisierung die Wurfparabel ist. Genauer gesagt ist die ballistische Kurve die von der idealen Wurfparabel abweichende Kurve unter Einfluss des Luftwiderstandes. Versuchen wir, dies mit Hilfe der Mathematik besser zu verstehen, und wenden uns dem ersten Newton’schen Gesetz zu, dem Trägheitsgesetz …«

      So verging der Tag, und als Gontard die Artillerieschule verließ, war er ziemlich erschöpft. Der Kampf mit Franz Karbusch forderte seinen Tribut. Es war nicht einfach gewesen, den Mann zu überwältigen. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, auf ihn zu schießen, und nur mit Mühe und Not geschafft, dessen Messer auszuweichen. Der Griff ans Handgelenk war zwar spät gekommen, aber immerhin noch rechtzeitig genug, um Schlimmeres zu verhindern. Im Ringkampf war er dem Kolporteur dann um einiges voraus gewesen und hatte ihn schließlich nach einem Warnruf aus dem Fenster einem Constabler übergeben können.

      Gontard schlenderte die Linden hinunter und hoffte, auf jemanden zu treffen, mit dem sich bei einem Schoppen Wein über das Erlebte plaudern ließ. Doch es war wie verhext: Es lief ihm niemand über den Weg, den er gut genug kannte. So blieb ihm nur der Gang ins Café. Sein Freund Friedrich Kußmaul war aber zu dieser Zeit sicherlich noch nicht bei


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