Berliner Leichenschau. Horst Bosetzky

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Berliner Leichenschau - Horst Bosetzky


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      Als der Kommissar spätabends im Bett lag, ging er in Gedanken noch einmal den mysteriösen Fall durch, und da kam ihm die Idee, dass Löwe genauso gut auch ein geliehenes Fahrzeug benutzt haben konnte.

      Am nächsten Morgen telefonierten Granow und seine Leute alle Unternehmen ab, die Mietwagen anboten. Doch auch hier kamen sie zu keinem Ergebnis. Aber vielleicht hatte sich Löwe auch bei Freunden oder Bekannten einen Wagen geliehen?

      Und siehe da: Ihre Recherchen ergaben, dass einer seiner Nachbarn drei Wochen verreist gewesen war und Löwe auf dessen Haus nebenan im Schuchardtweg aufgepasst hatte. Der Verdächtige hatte alle Schlüssel in Verwahrung gehabt – auch die Autoschlüssel.

      Was nun folgte, war für Kriminalhauptkommissar Granow und seine Assistentin Theresa Marotzke reine Routine. Im Wagen des Nachbarn wurden in der Tat DNS-Spuren gefunden, die eindeutig Verena Löwe zuzurechnen waren. Und der Nachbar schwor, Frau Löwe nie in seinem Wagen mitgenommen zu haben.

      Insgesamt zehn Stunden dauerten die Vernehmungen des Tatverdächtigen Leonhard Löwe, dann hatte der ein umfassendes Geständnis abgelegt. Schlussendlich kam heraus, dass seine Motive genau die waren, die ihm seine Schwägerin unterstellt hatte.

      ***

      Prof. Robert Schwarz wollte gerade seinen Kittel gegen das Sakko tauschen, als das Telefon klingelte. Es war bereits gegen zwanzig Uhr – also längst Zeit für einen gemütlichen Feierabend. Doch weil er auf dem Display die Nummer der Mordkommission erkannte, hob er ab. Am anderen Ende meldete sich gut gelaunt der Kriminalhauptkommissar Gunnar Granow. »Hallo, Robert, hier ist Gunnar! Wir haben den Ehemann von Verena Löwe festgenagelt. Und zwar haben wir ihm die rechtsmedizinischen Befunde so lange unter die Nase gerieben, bis er aufgegeben hat. Ich wollte dich gleich informieren. Das haben wir doch wieder einmal prima hingekriegt, mein Lieber! Eines wollte ich dich bei der Gelegenheit noch fragen: Warst du nicht etwas mutig mit deiner Annahme, Frau Löwe sei erschlagen worden? Sie hätte doch auch gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen sein können.«

      »Nein, das hätte sie nicht«, erwiderte Schwarz fachkundig. »Dagegen sprachen nämlich drei Umstände: Erstens lag die Kopfverletzung zu hoch für einen Sturz zu ebener Erde, und am Fundort gab es weder einen nennenswerten Höhenunterschied noch eine Treppe. Das besagt die sogenannte Hutkrempenregel. Zweitens war die Schädelfraktur auffallend gut geformt, da hätte es schon ein entsprechendes Widerlager vor Ort geben müssen. Drittens unterscheiden sich die Hirnverletzungen nach einem Schlag auf den Kopf von denen nach einem Aufschlag des bewegten Schädels, wie beispielsweise bei einem Sturz. Das ist als Contrecoup-Phänomen bekannt. Du siehst, ich konnte mir ziemlich sicher sein.« Und nach einer kurzen Pause fügte Schwarz lachend an: »Vielleicht solltest du wieder einmal in meine Vorlesung kommen!«

      Granow erwiderte trocken: »Wenn wir von der Kripo das alles wüssten, wärt ihr Rechtsmediziner doch überflüssig.«

      Nachdem die beiden das Gespräch beendet hatten, ging Schwarz zu seinem Wagen. Nun war es schon so spät, dass er den Berufsverkehr nicht mehr fürchten musste. Bei der ruhigen Fahrt nach Köpenick hatte er Zeit zum Nachdenken. Über die Hutkrempenregel hatte er früher wissenschaftlich gearbeitet. Sie wurde in der Fachliteratur meist dem deutschen Gerichtsmediziner Kurt Walcher zugeschrieben, der dazu in den dreißiger Jahren publiziert hatte. Schwarz hatte dann bei seinen Recherchen die Erkenntnis bei dem Österreicher Julius Kratter gefunden, der schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts darüber berichtet hatte. Und was käme wohl heraus, wenn man weitersuchte? So war das oft mit dem Ruhm durch Namensgebungen – nicht immer traf es den Richtigen. Aber die Regel war sehr nützlich.

      Oft konnte man in seinem Fach durch simple Erfahrungsregeln bei richtiger Anwendung wichtige Schlussfolgerungen ziehen. Die hochtechnisierte Glitzerwelt der forensischen Laboratorien in amerikanischen TV-Krimiserien war zwar hübsch anzusehen, hatte aber mit der Realität wenig gemein.

      Die Hutkrempenregel besagte, dass beim Sturz zu ebener Erde entstehende Kopfverletzungen nicht oberhalb der gedachten Hutkrempenlinie lagen. Der Sachverhalt war aber nicht so einfach, wie sich die Regel anhörte. Die war sogar in einigen Lehrbüchern falsch dargestellt. Und was er in Staatsexamensprüfungen alles zu hören bekam! So lautete eine häufige Fehlinterpretation: »Schlagverletzungen liegen oberhalb, Sturzverletzungen unterhalb der Hutkrempenlinie.« Oft vergaßen die Prüflinge, dass die Regel nur für den Sturz zu ebener Erde anwendbar war – denn beim Fahrradsturz, Treppensturz oder Sturz aus der Höhe konnten die Verletzungen auch auf der Scheitelhöhe liegen. Wenn er die Studierenden fragte, ob die Verletzungen unterhalb der gedachten Linie immer Sturzverletzungen seien, sah er sich häufig ratlosen Gesichtern gegenüber und musste ärgerlich einwerfen: »Haben Sie noch nie von einem Veilchen oder einer Backpfeife gehört … oder einer gebrochenen Nase beim Boxkampf?«

      Als eine weitere Besonderheit galt, dass Sturzverletzungen häufig durch charakteristische Hautabschürfungen an hervorstehenden Gesichtsteilen wie Augenbrauenwülsten, Nasenrücken, Jochbeinregion und Kinn zu erkennen waren.

      Schwarz musste grinsen, denn in dem Zusammenhang erinnerte er sich an den Fall eines prominenten Lokalpolitikers, den Schwarz vor Jahren zu untersuchen hatte. Der hatte angegeben, bei einem Überfall geschlagen und sowohl seiner Brieftasche wie auch wichtiger Schriftstücke beraubt worden zu sein. Die rechtsmedizinische Untersuchung ließ aber ausschließlich sturztypische Gesichtsverletzungen erkennen. Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen ergaben dann, dass der Mann nach einem Alkoholexzess sturzbetrunken auf dem Nachhauseweg mehrfach zu Boden gegangen war und dabei seine Habseligkeiten verloren hatte, die übrigens bald darauf von einem ehrlichen Finder abgegeben wurden. Der Verletzte gestand schließlich, den Überfall aus Angst vor Vorwürfen der Ehefrau und aus Scham vor seinen Parteikollegen erfunden zu haben.

      Noch interessanter fand Schwarz das Contrecoup-Phänomen, das bei der Unterscheidung zwischen Sturz und Schlag nutzbringend einsetzbar war. Schon früh war Ärzten aufgefallen, dass beim Aufschlag mit dem Hinterkopf die stärksten Hirnschäden in Form sogenannter Rindenprellungsherde an der Gegenseite, also am Stirnhirn, auftraten. Die Académie Royale de Chirurgie in Paris hatte schon Mitte des achtzehnten Jahrhunderts einen Preis für die Klärung dieser Schädel-Hirn-Verletzung ausgeschrieben. Seitdem wurden dazu zahlreiche biophysikalische Theorien entwickelt. Aber erst seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wusste man, dass der entscheidende Mechanismus ein am Gegenpol des Aufschlagpunktes auftretender Unterdruck war, der die Hirngewebsschäden durch eine Zugbeanspruchung oder Sogwirkung verursachte. Diese Erkenntnisse wurden sowohl empirisch, also durch Fallauswertungen, als auch experimentell gewonnen. An verkehrsmedizinischen Forschungsprojekten rechtsmedizinischer Institute arbeiteten neben Medizinern zunehmend auch Physiker. Und in der Fahrzeugindustrie untersuchten interdisziplinäre Forscherteams aus Ingenieuren, Physikern und Medizinern die Verletzlichkeit respektive Belastbarkeit des menschlichen Körpers. Dabei konnten lebende Menschen (Freiwillige) natürlich nur begrenzten Belastungen ausgesetzt werden. Für Experimente mit höheren Energien war man auf Leichen oder Modelle (Dummies) angewiesen, was beides nicht unproblematisch war. Neben rechtlichen und ethischen Fragen bei der Verwendung von Leichen mussten auch Probleme der Übertragbarkeit so gewonnener Ergebnisse auf Lebende beachtet werden.

      Als Rechtsmediziner wusste Schwarz: Der Kopf war unbedingt zu schützen! Wenn er die Radfahrer ohne Helm durchs Gelände rasen sah oder mitansehen musste, wie sie in der Stadt zwischen Autokolonnen und über rote Ampelkreuzungen manövrierten, konnte er nur den Kopf schütteln. Er kannte sogar Fachkollegen, die einen Schutzhelm beim Radfahren leichtsinnig ablehnten. »Wie das aussieht! Und außerdem schwitzt man darunter!«, argumentierten sie. Dabei wusste doch heute jedes Kind, wie verletzlich das menschliche Gehirn war. Ein einfacher Sturz mit dem Rad reichte für schwere, mitunter tödliche Hirnverletzungen. Das galt auch für den Sturz von Fußgängern etwa bei Glatteis. Bei Gewalttaten, die mit bleibenden oder tödlichen Hirnschäden endeten, reichte das Spektrum von Raubüberfällen mit Umstoßen von alten Damen bis zu Attacken mit Baseballschlägern oder den ungeheuerlichen Tritten auf den Kopf eines am Boden liegenden Opfers. Vor allem die letztgenannten Taten hatte er in den siebziger und achtziger Jahren noch nicht gesehen.

      Schwarz war sich mit vielen Fachkollegen einig, dass die Schwelle zur Anwendung brutalster Gewalt in den letzten Jahren deutlich gesunken war. Ebenso beobachtete er mit Sorge, dass die


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