Kempinski erobert Berlin. Horst Bosetzky

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Kempinski erobert Berlin - Horst Bosetzky


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      »Na, die Luise sprechen.«

      Da erschien Luise Liebenthal auf der kleinen Terrasse, die man vor die Küche gesetzt hatte, um vom Hochparterre über eine Treppe in den Hof und zu den Ställen zu gelangen.

      Ein Hahn krähte, ein Kater schmiegte sich an ihre Beine, aber die Szene war dennoch alles andere als idyllisch, denn Berthold Kempinski hatte schnell begriffen, dass auch der andere ein Auge auf Luise geworfen hatte und sie nicht kampflos hergeben würde.

      »Berthold!«, rief Luise von oben. »Du hier?«

      »Ja, um dich zu holen!« So schoss es aus ihm heraus, ohne dass er eine Chance gehabt hätte, es zu verhindern.

      »Luise gehört mir!«, schrie da der Mann auf dem Misthaufen und kam mit seiner Forke drohend auf Berthold zu. Der wich einen Schritt zurück und fragte Luise, wer das denn sei.

      »Heinrich, der Sohn vom Bauern. Er will mich auch.«

      »Und wen willst du?«

      »Lass mir einen Augenblick Zeit.«

      Luise Liebenthal schloss die Augen, und Berthold Kempinski hatte das Gefühl, sie warte auf eine Eingebung des Himmels.

      Als sie sich dann sicher war, kam sie die Treppen herunter und in seine Richtung gelaufen. Er breitete schon die Arme aus, um sie aufzufangen.

      Da machte sie einen kleinen Schlenker und warf sich Heinrich Gurkow an die Brust.

      In Kongresspolen waren die Aufständischen 1864 endgültig gescheitert. Sie hatten es nicht verstanden, ein tragfähiges Programm für die Bauernbefreiung zu entwickeln, und so war die Unterstützung aus dem Lande weithin ausgeblieben, erst recht, als der Zar mit einem Ukas die Leibeigenschaft aufgehoben hatte. Unter Romuald Traugutt hatte man schließlich den Partisanenkrieg gegen die Russen verloren. Die überzogen das Land mit Terror und henkten Traugutt und andere Rädelsführer. Hunderte Rebellen waren es, die öffentlich hingerichtet wurden, und es hieß, zwanzigtausend Polen seien nach Sibirien in die Verbannung geschickt worden.

      »Das ist aber noch nicht alles«, sagte Friedrich Wilhelm von Kraschnitz. »Tausende von polnischen Adelsfamilien sind enteignet worden, die katholische Kirche wird unterdrückt, Russisch ist Amts- und Schulsprache geworden. Kongresspolen existiert nicht mehr und ist russische Provinz geworden. ›Weichselland‹ nennen sie es oder ›Gouvernement Warschau‹.«

      »Mich interessiert Witolds Schicksal. Und Sie mit Ihren vielen Verbindungen nach Russland können doch da sicher etwas ausrichten.« Vor allem deswegen Berthold war Kempinski aufs Gut gekommen, nicht wegen des Weines, den Kraschnitz bestellt hat. »Ich flehe Sie geradezu an!«

      »Ich werde alles versuchen, was in meiner Macht steht, aber wenn er schon auf dem Weg nach Sibirien ist, dann …« Er brach ab, denn sein Leibdiener war in den Raum getreten und kam zu ihm hin, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Kraschnitz nickte und blickte dann zu Berthold Kempinski hinüber. »Ihr Vater weiß, dass sie hier sind, und hat jemanden geschickt. Ihre Mutter liegt im Sterben, und Sie sollen so schnell wie möglich nach Raschkow kommen.«

      Mit Rosalie Kempinski ging es zu Ende, und alle ihre Kinder und näheren Verwandten hatten sich an ihrem Bett versammelt. Sie sah so elend aus, dass Berthold es kaum schaffte, in ihre Richtung zu blicken.

      Obwohl es ihr furchtbar schwerfiel und sie immer von Hustenkrämpfen erschüttert wurde, wollte sie ihrem Mann und ihren Kindern noch ein letztes Wort mit auf den Weg geben. »Moritz, du kümmerst dich um Berthold und machst ihn zum Kompagnon. Und du, Berthold, bist Moritz ein ehrlicher Partner und fügst dich in alles ein.«

      Kapitel 4 1871

      Mit der Schlacht bei Sedan am 2. September 1870 und der Gefangennahme von Napoleon III. war der Deutsch-Französische Krieg entschieden, und die Deutschen sollten am 18. Januar 1871 den preußischen König Wilhelm I. zum Kaiser krönen. Nicht alle Menschen zwischen Maas und Memel und von der Etsch bis an den Belt stimmten in den nationalen Jubel ein, aber es gab in den deutschen Landen einen Aufbruch ohnegleichen. Die deutsche Agrarrevolution kam zum Abschluss, die industrielle Revolution strebte ihrem Höhepunkt entgegen. Jetzt musste man wagen, wollte man gewinnen.

      Vor diesem historischen Hintergrund wollte Breslau sein Schiffer-Silvester ganz besonders ausgelassen feiern. Es war ein einzigartiges Fest der Lebensfreude, das die Oderschiffer abbrannten. Begannen sie ihren Umzug, sprach sich das wie ein Lauffeuer herum, und wer sich vergnügen wollte, der stürzte aus dem Haus, um sich ihnen anzuschließen. Durch die Altstadtgassen wälzte sich der Strom, um den Ring und über den Neumarkt, und ergoss sich schließlich in die Straßen zur Oder, wo in den vielen kleinen Schifferlokalen bis weit in den Neujahrstag hinein gefeiert wurde. Getrunken wurden Breslauer Spezialitäten wie der Schirdewan und die Hennig-Creme. Für die Musik sorgten Schnutenorgel und Schifferklavier, also Mund- und Ziehharmonika, und es wurde tüchtig getanzt und gesungen.

      »Wie die Welle hüpft vom Kiel,/wie der Wind fegt über Deck,/ jagen plötzlich Tanz und Spiel/alle Müh’ des Jahres weg./Schiffer-Karle, Schiffer-Franz/mit der Frieda und Sophie/drehen sich im Dauertanz/junge Welt, was kostet sie!«

      Berthold Kempinski kämpfte sich mit seinen Freunden Leopold Leichholz und Witold Klodzinski durch die Menge. Die beiden waren unheimlich aufgekratzt und wollten ordentlich feiern. Grund dazu hatten sie. Der eine hatte im vergangenen Jahr sein Studium beenden können und verdiente seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer bei einer wohlhabenden jüdischen Familie, der andere war mit nur leichten Blessuren aus Frankreich heimgekehrt.

      Witold Klodzinski hatte sich vor sechs Jahren schon auf dem Weg in ein sibirisches Arbeitslager befunden, als es Kraschnitz mit seinen Verbindungen zu deutschen Diplomaten in St. Petersburg gelungen war, ihn den Russen doch noch zu entreißen. Voller Dankbarkeit für seine Rettung hatte er sich dann widerstandslos in sein Schicksal ergeben, mit den Ostrower Ulanen in den Krieg zu ziehen. Natürlich war ihm das contrecoeur gegangen, denn das Herz der Polen hatte immer schon für Frankreich geschlagen, und der Sieg über die Franzosen stärkte nur die Deutschen und ließ ein freies und großes Polen in eine noch fernere Zukunft rücken, aber zuerst kam das Menschliche, und er wollte Kraschnitz nicht enttäuschen.

      Berthold Kempinski freute sich über das Glück seiner beiden besten Freunde, haderte aber doch ein wenig mit dem eigenen Schicksal. Er hatte kein Studium beendet, konnte sich weder Professor nennen und seiner Gelehrsamkeit rühmen, wie der eine, noch hatte er etwas Abenteuerliches erlebt und galt als Held, wie der andere, er verschleuderte weiterhin all seine Gaben und war im Grunde nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Ladenschwengel. »Da darf ich Ihnen zuerst die alles entscheidende Frage stellen, mein Herr: Rot oder weiß?« Er sah sich als armseliges Zirkuspferd Abend für Abend, Jahr für Jahr durch die Arena laufen, immer im Kreis herum, obwohl er doch die Anlage zu einem Rennpferd hatte, das immerzu siegen und wertvolle Preise einheimsen konnte. Im neuen Jahr musste alles anders werden, musste er endlich raus aus seinem Trott. Breslau war eine Sackgasse, in Berlin spielte die Musik.

      Sie mussten langsam zusehen, dass sie in einer der vielen Kneipen und Gaststätten einen Platz ergatterten, wollten sie auf das neue Jahr mit Sekt anstoßen, doch das Gedränge vor den Eingängen war so groß geworden, dass sie kaum noch hoffen konnten.

      »Witold, geh du mal voran!«, rief Berthold Kempinski. »Du hast Kampferfahrung und kannst den Durchbruch schaffen.«

      Witold Klodzinski sagte nicht nein und spielte den Rammbock, die beiden anderen folgten ihm.

      Anfangs ging es ganz gut, dann aber verlor Berthold Kempinski ein wenig den Anschluss, und der Druck der Menge trieb eine junge Frau wie einen Keil zwischen ihn und Klodzinski. Es ließ sich nicht vermeiden, dass er ihr kräftig auf den Fuß trat. Sie schrie auf.

      »Pardon!« rief er. »Aber das ist mein erster Auftritt heute.«

      »Sie haben mir den Fuß gebrochen, Sie Gawwalier! Ich werd gleich ohnmächchdch.«

      »Kommen Sie, ich stütze Sie.« Dessen bedurfte es eigentlich keiner besonderen Aufforderung, denn sie wurde von den Nachdrängenden


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