Kempinski erobert Berlin. Horst Bosetzky

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Kempinski erobert Berlin - Horst Bosetzky


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zwar kein richtiger Liebesbrief war, aber immerhin eine gewisse Anbetung erkennen ließ. Ins Theater lud er sie ein, und Theater war etwas für Herrschaften. Sein genaues Alter kannte sie noch nicht, aber sie schätzte, dass er mehr als zehn Jahre vor ihr auf die Welt gekommen war. Es war nichts Außergewöhnliches, dass ein Mann so viel älter war als die Frau, die er heiratete, es war sogar gut so, da hatte er sich schon die Hörner abgestoßen. Ein Beau war Berthold Kempinski nicht, aber durchaus ansehnlich und vor allem ein lustiger Kerl. Und in ihm steckte viel Energie, das hatte sie bei ihrer kurzen Begegnung zu Silvester instinktiv gespürt. Wenn er nun wirklich ernsthafte Absichten hatte … Sie war doch erst sechzehn und kannte die Welt nur aus Kolportageromanen. Mit wem sollte sie reden? In Breslau hatte sie noch keine beste Freundin gefunden.

      Ich gehe mit ihm ins Theater, ich gehe nicht. Ich gehe, ich gehe nicht. Sie konnte sich nicht entscheiden. Schließlich nahm sie einen Würfel. Eins, zwei oder drei bedeutet: Ich gehe nicht. Vier, fünf oder sechs heißt: Ich gehe. Der Würfel rollte über die Marmorplatte.

      Kommissarius Wilhelm Owieczek schlenderte über den Markt von Krotoschin. Er war gerufen worden, weil man an der Straße nach Ostrowo einen ausgeweideten jungen Mann gefunden hatte. Dem Leichnam hatten Herz, Leber und Teile aus dem rechten Oberschenkel gefehlt. Das war die Handschrift des Mannes, den er nun schon seit über fünfzehn Jahren suchte. Es war mit Sicherheit einer, der das Fleisch seiner Opfer kochte und konservierte. Da, wo es Leichenfunde gegeben hatte und junge Männer als verschwunden gemeldet waren, hatte er bunte Nadeln in die Karte der Provinz Posen gesteckt, und sehr schnell war ihm klargeworden, dass der Täter von Berufs wegen viel unterwegs sein musste. Außerdem konnte er davon ausgehen, dass der Mann alleinstehend war, denn vor einer Ehefrau oder einer Haushälterin hätte er sein Treiben nicht über so viele Jahre hinweg verheimlichen können. Im langen Winter hatte er sich nun mit mehreren Gehilfen darangemacht, die Melderegister aller Gemeinden zwischen der Stadt Posen und der schlesischen Grenze nach Männern abzusuchen, die alleinstehend waren und ihr Geld als Handlungsreisende, fliegende Händler, Schauspieler, Musiker, Akrobaten, Trödler, Lumpenmänner, Saisonarbeiter oder Lokomotivführer verdienten. Hunderte von Namen waren zusammengekommen, und Owieczeks Vorgesetzter hatte seine Arbeit als verlorene Liebesmüh bezeichnet.

      Von den vielen Namen hatten sich nur wenige in sein Gedächtnis eingeprägt, und einer von denen war Krojanke. Warum, das wusste er nicht. Wahrscheinlich, weil seine Mutter eine geborene Jahnke war.

      Und nun hörte er den Namen Krojanke am Stand eines Mannes, der Scheren, Messer, Sägen, Feilen, Äxte und Beile verkaufte und gerade mit einem Förster verhandelte.

      »Die nehm ich, Krojanke«, sagte der Forstbeamte und prüfte die scharf geschliffene Klinge noch einmal mit Zeigefinger und Daumen.

      »Da können Se Papier mit schneiden.« Krojanke ließ sich die Axt noch einmal geben, um es zu demonstrieren.

      Dabei entdeckte Owieczek einen rötlichen Fleck auf dem Stiel, und zwar da, wo sich ein kleiner Ratscher in der Lackierung befand. Dieser Fleck war ganz einfach zu erklären, denn Krojanke hatte Stunden zuvor Rote Beete gegessen, und dabei war ein wenig Saft auf seine Auslagen gekleckert. Owieczek aber hatte eine ganz andere Assoziation: Blut! Es schoss ihm durch den Kopf, wie ein Reflex, und gleichzeitig fiel ihm wieder ein, dass damals in Raschkow der Regierungsreferendarius Sigismund von Schecken mit einer Axt erschlagen worden war. Vielleicht hatte er sterben müssen, weil er den Kannibalen schon damals entdeckt hatte? Ach, alles Hirngespinste!

      Dennoch setzte sich Owieczek am Abend hin und schrieb einen Brief an seine Kollegen in der Stadt Posen. Sie mögen doch bitte in Erfahrung bringen, wo dieser Krojanke ansässig war, und sich einmal in dessen Wohnung umsehen.

      Moritz Kempinski war wenig erbaut davon, dass sich sein Bruder mit Fräulein Hess verloben wollte.

      »Ein Dienstmädchen, Berthold, ich kann es nicht fassen! Wollen wir mit unserer Firma expandieren, brauchen wir dringend neues Kapital. Und ich habe so sehr mit der Mitgift deiner Braut gerechnet.«

      »Es ist Liebe – und gegen diese Himmelsmacht kann keiner an.«

      »Das Leben ist kein Kolportageroman!«

      Berthold Kempinski lachte. »Dann mache ich’s eben dazu.«

      »Das Lachen wird dir schon noch vergehen.«

      Und diese Prophezeiung sollte sich alsbald erfüllen, denn bei ihnen in der Ohlauer Straße 73, wohin sie inzwischen mit ihrer Firma umgezogen waren, erschien ein Mann, der sich als Kommissarius Wilhelm Owieczek aus Posen vorstellte.

      »Ich komme wegen eines versuchten Mordes.«

      »Wir sind nicht Kain und Abel!«, rief Berthold Kempinski, nachdem man sich gegenseitig vorgestellt hatte. Jetzt erst ging ihm ein Licht auf. »Gott, Sie sind doch der, der mich damals in Raschkow vernommen hat, weil ich den erschlagenen Regierungsreferendarius gefunden habe.«

      »Ja, in der Tat.« Auch Owieczek konnte sich wieder daran erinnern. »Da waren Sie noch ein Schuljunge.«

      »Und jetzt stehe ich kurz davor, die Frau fürs Leben zu heiraten.«

      »Gratuliere.« Owieczek schüttelte ihm die Hand. »Zu Ihrer Braut und dazu, dass sie dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen sind.«

      »Wie das?« Berthold Kempinski konnte nicht verhindern, dass er doch ein wenig blass wurde.

      »Setzen wir uns erst einmal.« Der Kommissarius nahm Platz und ließ seine Blicke über die Weinregale schweifen. »Ein Glas Wasser haben Sie nicht für mich?«

      »Doch«, sagte Moritz Kempinski und gab dem Gehilfen einen Wink, in die Küche zu eilen.

      Berthold Kempinski hielt den jungen Mann zurück. »Sie dürfen ja keinen Schnaps im Dienst trinken, aber wohl ein Glas Wein, Posen ist schließlich weit weg.«

      »Oh, gerne!« Owieczek freute sich immer wieder, wenn er auf Menschen traf, die Gedanken lesen konnten. Nachdem er sich gelabt hatte, begann er zu erzählen. Wie er durch den roten Fleck auf der Axt, aber auch durch die anderen Fakten auf Krojanke gekommen war und dass sie in seinem Haus in Obersitzko grausiges Beweismaterial in Hülle und Fülle gefunden hatten.

      »Das habe ich schon alles in der Zeitung gelesen«, sagte Berthold Kempinski ein wenig enttäuscht. »Und warum soll ich da dem Tod von der Schippe gesprungen sein? Weil ich den Regierungsreferendarius gefunden habe?«

      »Nein, weil Sie auf Krojankes Liste gestanden haben, auf einer Liste mit jungen Männern, auf die er mächtig Appetit gehabt hat. Und einmal hatte er sie auch schon an der Angel, wie er mir erzählt hat. Irgendwann im Jahre 1861. Da waren Sie zu Fuß von Ostrowo nach Raschkow unterwegs, und er hat sie auf seinem Wagen mitgenommen. Wenn nicht das Rad gebrochen wäre, dann … Die Axt lag schon bereit.«

      Berthold Kempinski schwieg. Fast hätte er ein Dankgebet gen Himmel geschickt.

      Des Menschen Seele ist ein merkwürdig Ding, hatte Dr. Dramburger immer gesagt, und daran musste sich Berthold Kempinski in den nächsten Tagen des Öfteren erinnern, denn jetzt, wo Krojanke hinter Schloss und Riegel saß und bald geköpft werden würde, kam die Angst. Er sah Krojanke mit seiner Axt hinter jeder Ecke lauern, und ein Gedanke beherrschte ihn mehr und mehr: Bloß weg von hier, weg von Posen und Breslau!

      Das deckte sich mit Helenes Wunsch, lieber heute als morgen nach Berlin zu ziehen, denn die Reichshauptstadt war für sie, wie er immer wieder spottete, das, was für die alten Griechen der Berg Ida war, der Geburtsort des Zeus.

      »Das ist doch widernatürlich, dass du als Sächsin nach Preußen willst.«

      »Jetzt sind wir doch alle ein Land – und Schlesien ist schließlich auch preußisch.«

      Berthold Kempinski konnte sich nicht entscheiden, ob er Berlin herrlich oder scheußlich finden sollte. Er kannte es nur vom Hörensagen, vor allem aus den Erzählungen seines Freundes Caspar Sprotte. In Raschkow war er wer, in Breslau kannten ihn und die Firma M. Kempinski & Co. immerhin alle Honoratioren der Stadt, aber in Berlin war er ein absoluter Niemand.

      »Was soll ich denn da?«, fragte er seine zukünftige Gattin, als er mit Helene und


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