Namenlose Jahre. Marina Scheske
Читать онлайн книгу.du frei, auch wenn du in einem Gefängnis sitzt. Die einzig wahre Freiheit ist die innere Freiheit. Niemand kann dein Herz, deine Seele und deinen Geist einkerkern, auch wenn dein Leib hinter Stacheldraht sitzt. ... Nun schau mich nicht so an, junger Freund! Sicher denkst du jetzt, der meschugge Alte hat gut reden, er hat sein Leben gelebt. Aber ich, ich bin der junge Held und will hinaus in die Welt! Das sollst du auch. Doch es wird der Tag kommen, da wirst du verstehen, wovon ich rede. ... Weißt du, es ist seltsam. Dort drüben, da wo du hin willst, kann jeder nach seiner Fasson leben. Aber sie tun es nicht. Sie sind geradezu süchtig danach, sich in Abhängigkeiten zu begeben, Klischees zu erfüllen und sich anzupassen. Aber lassen wir das für heute, du musst schlafen, wir brechen morgen sehr früh auf. Gute Nacht!“
Hans Rosenbaum kann in dieser Nacht nicht schlafen. Er sitzt am Küchentisch und denkt an Herfried Seewaldt. Der Sohn seiner Cousine Eva stand ihm so nah wie ein eigenes Kind.
Eine Szene steigt aus seinem Gedächtnis auf. Seine Frau Martha steht am Herd und füllt ihnen die Teller voll. Herfried protestiert lachend und behauptet, er hätte schon drei Kilo zugenommen, weil alles so lecker schmeckt. Und überhaupt würde sie die besten Klöße der Welt machen. Martha aber meint grummelnd, wie soll denn einer zunehmen, wenn er sich den ganzen Tag in der Stadt herumtreibt. ... Seine Frau Martha starb im letzten Winter an einer Lungenentzündung, zwanzig Jahre nach Herfrieds Tod.
Er steht am Fenster, schaut hinab in den kleinen Hof und denkt an die, die vor ihm gegangen sind. Schließlich geht er ins Wohnzimmer und schaltet die Stehlampe an. Ein verblichenes, amerikanisches Magazin in deutscher Sprache liegt vor ihm. Er weiß, welche Seite er aufschlagen muss und er spürt sein altes Herz klopfen, als er über dem Artikel Herfrieds Bild sieht.
„Der Tag, an dem die Panzer kamen. Ein Bildbericht von Herfried Seewaldt.“
Am Mittag des folgenden Tages sahen sie ihn zum letzten Mal. Lebhaft war er immer, aber an diesem Tag schien er geradezu atemlos. Er nahm sich nicht die Zeit, mit ihnen zu essen und lief nervös in der kleinen Küche auf und ab. Aufgeregt gestikulierend berichtete er, was auf den Straßen geschehen war.
„Geht um Gottes Willen nicht vor die Tür“, sagte er zu Martha und dann nahm er sie in den Arm.
„Und du, Junge“, antwortete sie ihm mit bebender Stimme, „sei mir bloß nicht so waghalsig. Pass gut auf dich auf!“
„Mach ich, Tante Martha“, rief er ihr zu, schon unten am Treppenpodest und wie immer in Eile. „Was soll mir schon passieren, außerdem ist der Spuk bald vorbei.“
Du hattest recht, Herfried, der Spuk war schnell vorbei. Allerdings mit einem anderen Ausgang, als wir es uns erhofft hatten. Der Tag, an dem die Blüten des Prager Frühlings von einem Hagelschauer zerstört wurden, war jener Tag, an dem Herfried ermordet wurde und man ihn tot aus der Moldau barg. Seine Filme und Aufzeichnungen aber verließen auf wundersame Weise das Land. Dafür sorgte Hans Rosenbaum und so entstand dieser Artikel.
Hans nimmt seine Brille ab und reibt sich die müden Augen.
Und nun, so denkt er, schläft dein Cousin dort oben in deiner Mansarde. Eva hat recht, er sieht dir sehr ähnlich. Ich glaube, ihr hättet euch gut verstanden.
Gerhard Erdmann, Sohn eines Offiziers und offensichtlich tüchtig aus der Art geschlagen, will morgen in die Botschaft. Was wohl sein Vater dazu sagt? Und wenn er dann auch noch hört, bei wem er in Prag übernachtet hat, na das wird was geben in Schwedt an der Oder!
Karl-Heinz Erdmann. ... Nahtlos vertauschte er nach dem Krieg die Fronten, schlüpfte von einer Uniform in die andere, wechselte seine Gesinnung so schnell wie andere ihr Hemd. Wobei man sagen muss, die Verwandlung war rein äußerlich nicht besonders groß. Die Uniform der Nationalen Volksarmee hat eine geradezu penetrante Ähnlichkeit mit der Naziuniform. Und der Gerechtigkeit wegen muss man dem Mann zugutehalten, dass er sich, bevor er sich neuen militärischen Herausforderungen stellte, in russischer Gefangenschaft einer ordentlichen Gehirnwäsche unterzog. Nach mehreren Waschgängen verwandelte sich altes muffiges Braun in strahlend frisches Rot und anschließend wurde es im „Nationalkomitee Freies Deutschland“ glatt gebügelt. Dort erhielt Karl-Heinz Gelegenheit, der Welt zu erzählen, welch ein guter Mann doch Stalin war. Und zwar solange, bis er es selbst glaubte.
Hans Rosenbaum geht zu Bett. Eine Woge köstlichster Genugtuung hüllt ihn ein wie ein warmes Tuch und er schläft in dieser Nacht so tief und gut wie schon lang nicht mehr.
Auch Gerhard Erdmann schläft nun oben in der kleinen Mansarde. Zuvor jedoch hat er einen Wachtraum, eine Vision seiner Wünsche zieht in farbigen Bildern an ihm vorbei. Susanne sieht er im weißen Hochzeitskleid. Sie schneidet die Torte an, ein dreistöckiges Monstrum aus Marzipan. Sie liebt Marzipan über alles. Und er sieht seine Mutter, wie sie lacht und wie stolz sie auf ihn ist. Sie trägt ihr Lieblingskleid, marineblau mit kleinen weißen Tupfen.
Allein ist sie gekommen und freut sich, dass sie die weite Reise ganz allein geschafft hat, denn ihr Mann Karl-Heinz weilt nicht mehr unter den Lebenden. Er starb an einem Herzinfarkt. ...
„Na ja, das wünsche ich ihm ja nun doch nicht“, flüstert er, bevor er einschläft.
„Beste Zeit, um einen Fiaker zu mieten“, meint Hans Rosenbaum.
Gerhard schaut auf seine Armbanduhr, es ist Viertel vor sechs und die Josefstadt schläft noch. Fast könnte man glauben, die Zeit wäre stehengeblieben. Kein Autolärm, keine Straßenbahn, die Straße gehört den Tauben, die eifrig nach den Bröckchen des gestrigen Tages suchen.
Ein junger Mann kommt aus einer Gasse, sein Äußeres veranlasst Gerhard, ihm hinterherzuschauen. Er trägt einen langen schwarzen Gehrock und einen steifen Hut, Schläfenlocken fallen über seine Wangen. Der Mann geht in die Synagoge. Gerhard spürt, dass Hans Rosenbaum ihn beobachtet. Verlegen wendet er seinen Blick ab.
„Und nun? Gehen wir zu Fuß oder nehmen wir den Bus?“
„Wieso mit dem Bus?“ Hans Rosenbaum grinst. „Wolltest du nicht einen Fiaker mieten? Guck mal, da kommt er schon!“
Tatsächlich hört man das näherkommende Geräusch von Hufschlägen. Ein Zweispänner fährt die Straße hinauf und hält direkt vor ihnen. Hans redet mit dem Kutscher, dann wendet er sich an Gerhard.
„Nun komm schon, steig ein, Junge. Zeit ist Geld und Geld ist knapp.“
„Ach so, jetzt verstehe ich, wir tarnen uns als Touristen. Und ich dachte, das mit dem Fiaker ist ein Witz!“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“
Hans Rosenbaum lacht, doch dann verschwindet sein Lachen jäh. Aufmerksam schweift sein Blick über die leere Straße.
„Warum sind wir Juden wohl so erfindungsreich? Heutzutage nennt man das kreativ! Na, was denkst du, Gerhard Erdmann?“
„Ich weiß es nicht“, murmelt er verlegen, „ich habe da so meine Gedanken, aber ich will nichts Falsches sagen.“
„Nur zu, du musst dich jetzt daran gewöhnen, dass man auch mal was Falsches sagen darf!“
„Vielleicht hat es was mit der Verfolgung der Juden zu tun. Man muss erfindungsreich sein, wenn man überleben will.“
„So ist es! Schreib dir das hinter die Ohren, mein Sohn. Schau, da vorn ist der alte jüdische Friedhof.“
„Ich habe darüber ein Buch gelesen, über dieses Grab vom Rabbi Löw.“
„Rabbi Löw“, sagt Hans und es klingt fast ein wenig verächtlich. „Und was weißt du noch über unser Volk? Was hat man euch gelehrt in den Schulen der DDR?“
„Wir sprachen im Geschichtsunterricht über die Vernichtungslager. ... Über all diese schrecklichen Dinge.“
Worauf will der Alte bloß hinaus, denkt er, und warum macht mich das so verlegen? Ich kann doch nichts dafür.
„Ja, ja über die Lager! Aber was haben sie euch über unser Volk erzählt, über unsere Religion und Kultur? Herzlich wenig, denke ich. Und das ist nicht gut. Gar nicht gut.“
Nun