Namenlose Jahre. Marina Scheske
Читать онлайн книгу.flüstert er, „ich muss jetzt da rüber.“
Zur gleichen Zeit steht Frau Seewaldt am Fenster und lauscht. An diesem Abend ist es still in der Dresdener Neustadt. Herr Seewaldt steht auf und geht zu ihr.
„Nun komm und setz dich endlich hin, Eva. Heute passiert hier nichts mehr.“
Sie wendet sich zu ihm und er sieht die Angst in ihren Augen.
„Wenn sie nicht hier sind, dann sind sie oben im Wald. Sie werden ihn dort finden!“
„Aber nein! Setz dich hin, du machst mich ganz nervös. Sie sind heute alle am Bahnhof.“
„Woher willst du denn das wissen?“
„Ich habe meine Quellen, Liebste. Möchtest du ein Glas Wein?“
„Ja gern, es wird mich beruhigen. Dann kann ich schlafen.“
„Mach dir keine Sorgen, er schafft es. Ich weiß, das hat dich alles sehr mitgenommen. Ich bekam ja auch einen tüchtigen Schreck, als ich ihn sah. Sie sind sich ähnlich wie Brüder. Na ja, schließlich sind sie Cousins, da hat man den gleichen Stammbaum.“
„Aber warum dieses ganze Versteckspiel, Adrian? Ich finde das irgendwie unwürdig, wir haben doch nichts vor ihm zu verbergen! Warum hast du darauf bestanden? Ich habe es akzeptiert, aber ich muss schon sagen, es verwirrt mich und ich verstehe dich absolut nicht.“
„Eva, er befindet sich in einer akuten Stresssituation. Was er mir erzählt hat, das will ich dir ersparen. ... Ich denke, du hast Fantasie genug, um dir vorstellen zu können, wie sie mit ihm umgegangen sind. Es ist ein Wunder, dass sie ihn gehen ließen, aber sicher stehen sie spätestens Montag früh mit einem Haftbefehl vor seiner Tür. Beten wir zu Gott oder zu wem auch immer, dass er dann schon einen Fiaker gemietet hat. ... Einen Fiaker. ... Originell, nicht wahr? Typisch Hans. Nun schau doch nicht so ängstlich, Eva, entspann dich mal. Ich konnte ihn doch in seiner Situation nicht mit unseren familiären Problemen belasten!“
„Ich habe keine Ruhe. Sollten wir nicht wenigstens seine Mutter benachrichtigen? Wenn ich mir vorstelle, was sie sich für Sorgen macht! Und sein Vater. ... Ach, jetzt muss ich lachen, der wird sich vor Scham winden! Sein Sohn, ein Republikflüchtling! Da bin ich richtig schadenfroh. Ist das schlimm? Es gehört sich jedenfalls nicht.“
„Sei nur ruhig schadenfroh, Eva, das erleichtert. Und was sich gehört oder nicht gehört, das lassen wir mal hübsch beiseite. Dieses Land befindet sich zurzeit im Ausnahmezustand und wenn die Obrigkeit Jagd auf das Volk macht, dann müssen wir uns auch nicht mehr an Anstandsregeln halten!“
„Du machst mir Angst, wovon sprichst du eigentlich? Meinst du, es gibt einen Bürgerkrieg?“
„Das wollen wir doch nicht hoffen.“
Schweigend schauen sie in die Flammen, Adrian greift sacht nach ihrer Hand.
„Versprich mir, vorläufig kein Wort zu Anneliese, ja? Weder telefonisch noch brieflich. Wir würden ihm nur schaden. Wenn er sich meldet, dann kannst du sie benachrichtigen. Oder besser erst, wenn wir wissen, dass er drüben gut angekommen ist.“
„Wieso? Meinst du etwa, sie sind auch in der Botschaft?“
„Was denkst du denn! Sie sind überall, das weißt du doch. Sie wissen genau, dass ihre Zeit bald zu Ende sein wird und das macht sie noch gefährlicher.“
„Du hast recht, man kann nicht vorsichtig genug sein.“
„Außerdem hat er mir versprochen, dass er sich bei seinen Eltern meldet, wenn er drüben ist.“
„Ach! Sag bloß, ihr habt über Schwedt geredet?“
„Ja. Heute Nacht, nachdem du zu Bett gegangen warst. Nicht, dass du jetzt denkst, ich hätte ihn ausgefragt. Er erzählte von ganz allein. Er stand so unter Druck, er musste einfach reden. Sein Vater nannte ihn einen ehrlosen Vaterlandsverräter, als er erfuhr, dass er ausreisen will.“
„Das sieht ihm ähnlich, etwas anderes hätte ich auch nicht von ihm erwartet. Aber sag mal, hast du dir denn nicht die Zunge abgebissen, als er von Schwedt sprach?“
„Als er meinte, das wäre ja ein Zufall, seine Mutter sei eine geborene Seewaldt, da war ich nahe dran, es ihm zu sagen. Aber du kennst mich doch, ich spiele gern mit verdeckten Karten. Lass ihn erst einmal in Sicherheit sein, Eva. Dann werden wir ihm alles erzählen.“
„Du bist gut! Höchstwahrscheinlich sehen wir ihn nie wieder.“
„Glaubst du das wirklich Eva? Hör mir mal zu, bald ist der ganze Spuk vorbei und jeder kann reisen, wohin er will!“
„Mal sehen, vielleicht. ... Ob wir das noch erleben? Ich würde gern mal nach Italien, Adrian. Guck mich nicht so an, man muss auch ein bisschen träumen dürfen! Was hat er denn von Anneliese erzählt, hat er gar nichts über seine Mutter gesagt?“
„Nichts Persönliches. Sie lebt noch, Eva.“
„Das weiß ich ja wohl selbst, schließlich bin ich es ja, die den Kontakt hält! Sei doch nicht so herzlos, sie ist deine Schwester.“
„Er war mit sich selbst beschäftigt und mit dem, was er gerade erlebt hatte. Was hätte ich denn sagen sollen! Ich hielt es für klüger, vorerst zu schweigen.“
„Erinnerst du dich, wie wir uns damals mit Anneliese in Berlin trafen? Karl-Heinz war zu einem Lehrgang, er durfte ja nichts davon wissen. Da hatte sie Gerhard dabei. Es war das einzige Mal, dass wir ihn gesehen haben. Wir trafen uns in Friedrichsfelde und gingen in den Tierpark. Er war ja noch ein Knirps, höchstens drei Jahre alt. Aber er sprach schon sehr gut und Anneliese hatte Angst, dass er seinem Vater was erzählt. Es ist so lange her, wo ist nur die Zeit geblieben, Adrian. ... Als ich ihn auf dem Markt sah, das war so unwirklich, fast wie ein Traum. Diese Ähnlichkeit. ... Es kann kein Zufall gewesen sein, dass ich ihn dort traf. Man könnte fast glauben, eine höhere Macht hatte ihre Hände im Spiel.“
„Zufälle gibt es nicht, meine Liebe. Je älter ich werde und je öfter ich rückschauend auf mein Leben blicke, desto mehr drängt sich mir der Gedanke auf, es gibt einen großen Plan. ... Hast du eigentlich Annelieses Briefe aufbewahrt?“
„Ja, natürlich. Warte, sie sind hier im Sekretär.“
Sie reicht ihm ein Bündel vergilbter Briefe und spürt in diesem Augenblick, wie schnell ihr Herz schlägt. Alles längst Vergangene ist wieder gegenwärtig, befindet sich jetzt hier im Raum.
„Hier schrieb sie über ihn. ... Soll ich es dir vorlesen?“
„Ja, bitte.“
„Schwedt/Oder, den 12.12.1963. Meine Lieben, eure Post erhielt ich gestern auf dem üblichen Umweg. Ich habe mich sehr über die Fotos gefreut, aber schickt lieber keine mehr. Ihr wisst ja, wie er ist und wenn er sie sehen würde, dann ist hier die Hölle los. Euer Herfried ist ja tüchtig gewachsen und ich finde, dass Gerhard ihm nachkommt. Sie sehen sich ähnlich, als wären sie Brüder.“
Er lässt den Brief sinken und sucht ihren Blick. Sie hört das trockene Rascheln des Papiers, riecht den faden Staubgeruch, der dem alten Brief anhaftet und denkt an jene Zeit, als sie noch nicht ahnte, wie bald sie Herfried verlieren würde.
„Haben wir noch die alten Bilder, Eva?“
„Ja, ich hebe doch alles auf. Aber ich finde, für heute ist es genug. Lass uns schlafen gehen.“
In dieser Nacht steht sie wieder am Ufer der Moldau, der alte Traum sucht sie heim. Wenn sie ihn träumt, dann fühlt es sich an, als wäre sie selbst dabei gewesen. Doch was ihrem Sohn in Prag geschah, wurde ihr nur erzählt und sie weiß, es war heller Tag, als er tot am Ufer der Moldau lag. In ihrem Traum aber ist es Nacht und sie schaut hinüber zur Karlsbrücke.
Im Licht der alten Laternen erscheinen ihr die vertrauten, imposanten Skulpturen kalt und fremd. Bedrohlich wie mahnende Zeigefinger ragen sie in den Nachthimmel.
Ihr Blick tastet sich am Ufer entlang, sie sucht ihren Mann und erkennt ihn inmitten einer kleinen Gruppe Menschen. Auch