Namenlose Jahre. Marina Scheske

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Namenlose Jahre - Marina Scheske


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Wurst schmeckt nicht und das Brötchen ist pappig, beides nicht vergleichbar mit der Bockwurst am heimischen Bahnhofskiosk. Gegenüber auf einem kleinen Platz sieht er einen Biergarten. Ein Bier wäre jetzt nicht schlecht. Aber er kann sich hier nicht hinsetzen, auch wenn der Gedanke sehr verlockend ist. Noch weiß er nicht, was ihn erwartet.

      Dennoch bleibt er eine kleine Weile im Schatten der Kastanien vor dem Lokal stehen.

      Was er hört und sieht, gefällt ihm sehr. Eine kleine Kapelle spielt für die Gäste. Sicher sind es umherziehende Straßenmusikanten, denkt er. Es könnten Roma sein. Klein und gedrungen sind die drei Männer von Gestalt. Sie tragen schwarze, enge Hosen und weiße, bauschige Hemden. Schwere Goldketten sieht er aufblitzen und ihr dunkles langes Haar glänzt in der Sonne, als hätten sie es mit Gel glatt gekämmt. Der Älteste spielt auf einer Geige, er tut es mit Hingabe und Meisterschaft. An seiner Seite steht ein Akkordeonspieler, ein sehr junger Mann, fast noch ein Kind. Unentwegt schaut er den Älteren an und ab und zu huscht ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Der Dritte gibt mit einem Tamburin den Takt an und singt dazu in einer fremden Sprache. Seine Augen sind geschlossen und er singt seltsam verhalten. Es klingt, als hielte er es mühsam zurück, dieses Große, Wuchtige, Leidenschaftliche, das wie ein Vulkanausbruch über den Platz schallen würde, wenn er es voll aus seiner Kehle ließe.

      Er versucht, sich zu erinnern, wann er je in seinem Leben Roma gesehen hat. Es muss in Berlin gewesen sein und sicher ist es sehr lange her, er war wohl noch ein Kind. In Schwedt nennt man sie Zigeuner und das Musizieren auf den Straßen ist dort sicher verboten. Auch in den umliegenden Orten hat er nie Menschen dieses Volkes gesehen. Natürlich nicht, sie sind ja nicht sesshaft, das weiß er und so etwas gibt es nicht in Schwedt und auch nicht in der Kreisstadt Angermünde. Denn wie sollte man ihr Tun und Lassen kontrollieren, wenn sie durch das Land ziehen, wie es ihnen gefällt.

      Ein kleines Mädchen unterbricht seine Gedanken. Sie trägt ein buntes Sommerkleid und ihre Augen blitzen fröhlich. Verlegen kramt er in seiner Tasche nach den Kronen und legt etwas in den Hut, den sie ihm hinhält. Die Kleine macht einen niedlichen Knicks und läuft schnell davon.

      Er wendet sich ab, um nun endlich Hans Rosenbaums Adresse zu finden. Schon zwei Straßen weiter scheint er am Ziel zu sein. „Parizska“, liest er auf dem Straßenschild, „Pariser Straße“. Dort gegenüber, das muss die Synagoge sein, Herr Seewaldt sprach von ihr. Er sieht den Stern der Juden über dem Tor, darunter fremde Schriftzeichen. Das ist sicher Hebräisch. Ob man dort wohl hineingehen kann? Sicher nicht, es ist ein Gotteshaus für die Juden. ... In Schwedt gibt es keine Juden, so wie es auch keine Roma gibt und keine Männer, die einen Schottenrock tragen. Das passt nicht, für all diese Menschen wäre sicher kein Platz in seiner Heimatstadt, sie gehören da nicht hin. Sie sind einfach zu anders. ...

      Auf einmal weiß er, warum es mit ihm soweit gekommen ist, dass er hier durch Prag läuft und in die Botschaft will. Es geht nicht nur um Susanne. Schon immer war er ein Außenseiter, war anders als seine Kollegen und Nachbarn und anders als seine Eltern. Vielleicht hat Frau Seewaldt recht, als sie sagte, er wäre ein Individualist.

      Hier in Prag sieht er sein Leben aus einer neuen Perspektive. Stets fühlte er sich auf eine latente Weise schuldig, weil er nicht so war, wie sie ihn haben wollten. Sie gaben die Norm vor, die Norm für ein sozialistisches Leben. Die Lehrer, sein Vater und die Genossen im Betrieb, sie alle schienen überzeugt zu sein, dass nur richtig ist, was sie für richtig hielten.

      Nie wehrte er sich gegen all diese Bevormundungen, vielmehr wandte er sich ab, blieb für sich und schlängelte sich still an ihrer Doktrin vorbei.

      „Wenn man sich nicht wehrt, machen sie mit dir, was sie wollen“, murmelt er und ballt seine Fäuste in den Taschen. Doch dann schaut er hinauf in den blauen Himmel und eine erleichternde Gewissheit breitet sich in ihm aus.

      „Es ist vorbei. Egal, was auf mich zukommt, ich geh keine Kompromisse mehr ein.“

      Gleich neben der Synagoge findet er die Nummer fünf, er ist am Ziel. Bevor er hineingeht, schaut er sich noch einmal um, jedoch sieht er nichts Verdächtiges und steigt schnell die Treppe hinauf. Alles ist so, wie Herr Seewaldt es ihm beschrieben hat. Die Wohnungstür befindet sich hinter einem Gitter, dieser Herr Rosenbaum muss ein ängstlicher Mensch sein.

      Auf sein Klingeln öffnet sich die Tür und ein alter Mann erscheint. Er trägt ein Käppchen auf seinem kahlen Kopf, sein rotblonder Bart reicht ihm bis auf die Brust. Wohlwollend lächelnd schaut er Gerhard an und schweigt.

      „Guten Abend. Ich wollte zu Hans Rosenbaum. ... Frau Seewaldt schickt mich. Ich bin Gerhard Erdmann.“

      „Und was willst du bei mir?“

      Hans Rosenbaum reckt sein Kinn und zieht die rechte Braue hoch. Er sieht aus, als würde er sehr gespannt auf seine Antwort warten.

      „Ich will einen Fiaker mieten.“

      Laut dröhnt Hans Rosenbaums Lachen durch den stillen Flur.

      „Aber junger Freund“, gluckst er, „woher soll ich einen Fiaker nehmen? Geschweige denn ein Pferdchen! Nun sag mir, wie soll ich das denn hier in der Wohnung halten? Und was das kostet, der ganze Hafer! Bei Hans Rosenbaum kannst du höchstens ein Fahrrad mieten. ... Ha, ha, ha! Nun komm endlich rein, ich warte schon den ganzen Nachmittag auf dich. Wo hast du dich denn herumgetrieben? Und ich sitze hier und mache mir Sorgen!“

      Hans Rosenbaum drückt auf einen Knopf. Staunend schaut er zu, wie das Gitter im Fußboden verschwindet.

      „Komm erst mal in die Küche, sicher hast du Hunger.“

      Gerhard seufzt vor Erleichterung, nachdem er am Küchentisch Platz genommen hat.

      „Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

      „Ja, nicht wahr?“ Der Schalk blitzt aus den Augen des alten Mannes. „Das kann ich gut, das ist eine Spezialität von mir.“

      Schwerfällig steht er auf und geht zum Küchenschrank, stellt Brot, Butter und Käse auf den Tisch, holt Bier aus dem Kühlschrank und Gerhard sieht, dass er hinkt.

      „Danke für das Essen. Wann soll es denn losgehen?“

      „Morgen früh. Jetzt um diese Zeit sind alle Fiaker ausgebucht.“

      Hans Rosenbaum schneidet mit ernster Miene das Brot, dann schaut er Gerhard an und ein kleines verschmitztes Lächeln zeigt sich auf seinem Gesicht.

      „Und außerdem ist um diese Zeit zu viel Verkehr“, flüstert er, „wir wollen ja nicht die Pferde scheu machen, nicht wahr?“

      Nach dem Abendbrot steigen sie hinauf auf den Dachboden und sein Gastgeber öffnet die Tür zu einer kleinen Mansarde.

      „Es ist nicht das „Hilton“, mein Sohn. Aber ich denke, für eine Nacht geht es.“

      „Aber ja, natürlich. Und vielen Dank!“

      Der alte Mann öffnet ein kleines Fenster. „Komm und schau dir das an.“

      Der Blick über die Dächer der goldenen Stadt erscheint ihm märchenhaft schön und raubt ihm für Sekunden den Atem, so dass er hörbar die Luft ausstößt.

      „Einfach fantastisch. Das ist ja traumhaft.“

      „Bist du zum ersten Mal in Prag?“

      „Ja. Ich verreise eigentlich selten, ich mag es lieber ruhig. Meist gehe ich am Wochenende angeln. Aber ich habe schon viel über Prag gelesen, ich interessiere mich für Architektur. Na ja, wo ich herkomme, da gibt es nur Plattenbauten. Das Alte ist im Krieg zerbombt worden und den Rest hat man abgerissen.“

      „Willst du deshalb fort?“

      „Ja, auch deshalb. Alles ist so grau bei uns zu Hause, so langweilig. Aber am wichtigsten ist mir meine Freiheit. Ich will ein freier Mensch sein.“

      „Freiheit. Welch großes Wort, junger Mann. Wer ist schon frei? Überall auf der Welt muss man sich den Gegebenheiten anpassen, um zu überleben. Die Frage ist nicht, wie viel Freiheit der Einzelne braucht, sondern ob er bereit ist, Kompromisse einzugehen. Wo aber ist


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