Geschwisterliebe. Stephan Hähnel
Читать онлайн книгу.mit den Fünfzigern zwischen sich und die leeren Gläser. «Sind wir uns einig?»
Der Mann mit dem beeindruckenden Trinkerzinken schaute nervös in den Schankraum, griff nach den Scheinen und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. Niemand schien etwas mitbekommen zu haben. «Du bescheißt mir doch nich, oder?»
«Zähl nach!»
Einen Augenblick lang überlegte der verwahrloste Mann offenbar, ob er dem Vorschlag folgen sollte. Als aber einer der Gäste aus einem nicht ersichtlichen Grund loslachte, entschied er sich dagegen. Stattdessen schob er seinen Ausweis über den Tresen.
In diesem Moment kam der Wirt aus der Küche und leckte sich die Finger ab. Anscheinend war er zufrieden mit dem, was in der Küche für den Abend vorbereitet wurde. Auch wenn er den Eindruck machte, dass er sich dem ehernen Gesetz verpflichtet fühlte, niemals etwas zu sehen oder zu hören, was ihm Schwierigkeiten bereiten könnte – der vornehm gekleidete Mann spürte sehr wohl, dass der Wirt ihn argwöhnisch musterte.
«Noch mal das Gleiche und die Rechnung bitte!», rief er. Zufrieden mit dem Geschäft, ließ er den Blick über den sich zunehmend füllenden Gastraum schweifen. In einer Ecke entdeckte er ein bekanntes Gesicht. Er ließ sich nicht anmerken, dass er darüber alles andere als glücklich war. Ein leichtes Nicken genügte als Begrüßung. In diesem Moment beschloss er, seinen Geschäften künftig in einer anderen Kneipe nachzugehen.
Am Abend legte er den Ausweis in einen Tresor, in dem schon vier weitere lagen. Die Investition lohnte sich. Auf dem Markt der Freiheit brachte jeder von ihnen mindestens fünftausend D-Mark ein. Wenn er es intelligent anstellte, noch mehr. Je schwieriger es wurde, die Mauer zu überwinden, desto stärker stiegen die Preise. Angebot und Nachfrage. Marktwirtschaft war ein einträgliches Geschäft. Der Tresor war unauffällig in einem alten Werkzeugschrank untergebracht, auf dem das Wort Schmiermittel zu lesen war, eine Bezeichnung, die er in diesem Zusammenhang durchaus angemessen fand. Mehrere Geldbündel und weitere Dinge, die offiziell niemand besitzen durfte, stapelten sich neben den Pässen. Im unteren Tresorfach lag eine Akte, die er sorgfältig aufbewahrte und die er respektvoll Lebensversicherung nannte.
ZWEI
Donnerstag, 18. Juni 1970
ANGESTRENGT lauschte Kai Jürgens dem Prasseln des Regens. Kam es ihm bloß so vor, oder nahm das monotone Rauschen ab? Nur vereinzelt beleuchteten Blitze den Himmel. Er zählte die Sekunden, bis es donnerte. Besorgt hob er seinen Kopf. Es war stockdunkel, kein Mond war erkennbar. Seit einer halben Stunde entlud sich ein Gewitter, das sich tagsüber zusammengebraut hatte, im Süden Berlins. Langsam zog es in Richtung Potsdam. Seit Wochen verfolgte Jürgens den Wetterbericht. Dass in dieser Nacht ein Unwetter tobte, war ein Glücksfall. Er hatte innig gehofft, dass es regnen würde. Und auch wenn er von sich nicht behaupten konnte, ein gläubiger Mensch zu sein – er schaute gen Himmel und dankte Gott für sein Einsehen. Vorsichtig blickte er auf seine Uhr. Aber weder die Zeiger noch die kleinen Punkte, die für die Ziffern standen, leuchteten. Eine Sekunde überlegte Kai Jürgens, ob er die Leuchtkraft mit seiner Taschenlampe auffrischen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Viel zu gefährlich. Seit Stunden saß er im Grenzgebiet, um herauszufinden, wann die Posten ihre Runde machten. Sie mussten jeden Moment an ihm vorbeikommen. Alle dreißig Minuten schlurften zwei Grenzsoldaten über den festgetretenen Weg und prüften den Sandstreifen auf Fußspuren. Sonderlich ernst nahmen sie ihre Aufgabe nicht. Dennoch, jede Veränderung wäre ihnen vermutlich aufgefallen. Plötzlich hörte Jürgens leise Stimmen. Die Grenzstreife war näher als erwartet. Noch verstand Kai Jürgens nicht, worüber sich die Soldaten unterhielten. Er lauschte angespannt. Ein Geräusch ließ ihm schlagartig die Haare zu Berge stehen. Es war ein Hecheln, das Hecheln eines Hundes. Offensichtlich hatte es einen Wachwechsel gegeben, und die neuen Posten versahen ihren Dienst mit einem Grenzhund. Ängstlich drückte er sich noch tiefer ins Gebüsch.
«Haste schon von die Typen jehört, die in Schönefeld fliehen wollten und sich umjebracht haben?», fragte der kleinere der zwei Grenzer. Ob der Neuigkeit, die er erzählen konnte, schwang Stolz in seiner Stimme mit.
«Mensch, halt doch mal die Luft an! Deinetwegen kommen wir noch in Teufels Küche!», erwiderte der andere in tiefstem sächsischem Dialekt und konnte dabei eine gewisse Gereiztheit kaum unterdrücken. «Wann soll das denn gewesen sein?»
«Is schon een Weilchen her. Anfang März. Jescheiterte Flugzeugentführung. Een Pärchen wollte ’ne Antonow An-24 entführen, um innen Westen abzuhauen. Hat aber nicht jeklappt. Der Pilot is in Schönefeld jelandet, anjeblich wejen Spritmangels. Und da haben unsere Jungs schon uff dit asoziale Pack jewartet. Dummerweise haben sich die beeden aber ’ne Kugel inne Birne jejagt. Haben Schiss jekricht vor de Strenge der Staatsmacht.» Der Kerl lachte. «Dumm jelaufen, wa!»
«Das hast du aber nicht aus unseren Medien!»
«Nee, natürlich nich. RIAS.»
Beide schwiegen einen Augenblick.
«Solltest vorsichtiger sein, wem du was erzählst. Feind lauscht mit.»
«Biste von Horch und Guck? Du wirst mir doch nich melden, oder?»
Inzwischen waren die Grenzsoldaten auf gleicher Höhe mit Jürgens. Der Hund wurde unruhig. Ein Knurren, das zunehmend bedrohlicher klang, war deutlich zu vernehmen. Dann schlug der Schäferhund entschieden an. Die beiden Grenzer blieben schlagartig stehen, rissen ihre AK 47 von den Schultern und richteten die Waffen auf das Unterholz. Der Sachse suchte mit der Taschenlampe nach verräterischen Spuren. «Kommen Sie raus, oder wir lassen den Hund los!», brüllte er, als wäre er fündig geworden.
Kai Jürgens, der auf den Boden gepresst lag, zitterte. Konnten sie ihn sehen? War die Flucht gescheitert, kaum dass sie begonnen hatte?
«Letzte Warnung! Wir machen von der Schusswaffe Gebrauch!»
Das Klicken der durchgezogenen Kalaschnikow ließ das Blut in seinen Adern erstarren. Vorbei. Sie hatten ihn aufgespürt. Der Hund musste ihn gewittert haben. In dem Moment, in dem sich Kai Jürgens seinem Schicksal beugen wollte, brach kaum zehn Meter entfernt ein Wildschwein aus dem Gebüsch. Es starrte die Grenzer gleichgültig an und marschierte unbeeindruckt den Postenweg entlang. Weitere Schweine folgten. Sie nahmen ebenfalls keine Notiz von dem kläffenden Hund und den beiden Soldaten. Nur die Frischlinge beäugten die Grenzer und rannten der Rotte Augenblicke später aufgeregt hinterher.
«Timur und sein Trupp», meinte der Sachse und sicherte die Maschinenpistole. «Unsere posteneigenen Schweine. Sind meistens harmlos. Nur wenn die Viecher Junge haben, ist es besser, Abstand zu halten. Eine Bache kann sehr gefährlich werden. Das weiß ein Neuling wie du natürlich nicht.»
Noch immer spielte der Hund verrückt und bellte hinter den Schweinen her. Wütend zog der Grenzer an der Leine. Der Schäferhund jaulte vor Schreck auf. «Ich zieh dir eine über, wenn du nicht die Schnauze hältst. Bei Fuß, blöde Töle!»
Die Grenzer schlurften weiter. Der Hund lief, wie ihm geheißen, brav neben dem Hundeführer her. Ein letzter verstohlener Blick zu jenem Gebüsch, in dem Jürgens lag, und ein bedauerliches Winseln, dann verschwand er mit den Soldaten hinter der nächsten Kurve.
Einen Augenblick zwang sich Kai Jürgens noch zur Ruhe und lauschte auf den Regen, der wieder stärker zu werden schien. «Jetzt oder nie!», flüsterte er, steckte den rechten Arm durch die Sprossen der dreiteiligen Fensterputzleiter und schulterte sie. Um jedes Klappern zu verhindern, hatte er sie mit Filz beklebt. Schnell überquerte er den Postenweg. Seine Schuhe sanken tief in den losen Sand ein, bevor er den Zaun erreichte. Kein wirkliches Hindernis. Aber es folgten weitere, bis er vor der eigentlichen Mauer stand. Drei Meter war sie hoch. Zwischen den Pfosten waren die Betonplatten übereinandergereiht. Er würde sich quer daraufsetzen, ein Bein im Osten, das andere in der Freiheit, schnell die Leiter hochziehen und auf der westlichen Seite wieder hinunterklettern.
DREI
Freitag, 19. Juni 1970