Geschwisterliebe. Stephan Hähnel

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Geschwisterliebe - Stephan Hähnel


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Galgenberg nicht wütend ist, stellte Kappe in Gedanken fest. Im Prinzip sah er es genauso wie sein Kollege. Sie hatten nichts in der Hand, um Keunitz den Wunsch zu erfüllen, Dreck aufzuwirbeln. Sie sollten den Hinweis vom Verfassungsschutz mit Vorsicht genießen. Nachgehen aber mussten sie ihm. Es war unmöglich, die Sache zu ignorieren. Doch auch wenn die Informationen äußerst dürftig ausfielen – sie waren ein kleiner Strohhalm. Vielleicht könnten sie den Fall Nikolskoe doch noch aufklären. «Hast du eine Ahnung, wo der schöne Willi sein Domizil hat?», erkundigte sich Kappe.

      «Ick gloobe, in Alt-Lübars. Hat so een ufjepeppten Bauernhof jekooft. Über dit Anwesen stand ma wat inne Zeitung.»

      «Fahr da am Montag vorbei. Nimm Kynast mit. Schaut euch um. Redet mit ein paar Leuten. Sagt, dass eine unbekannte junge Frau im vergangenen Herbst tot aufgefunden wurde und wir deshalb ermitteln. Alter, Körpergröße und Haarfarbe kennt ihr. Welche Kleidung sie am Tag ihres Todes trug, ist auch wichtig. Ach ja, und dass sie womöglich einen Gehfehler hatte. Dass es um Mord geht, erwähnt ihr allerdings nicht. Über alle anderen Details schweigt bitte auch. Ist jemandem im Mordzeitraum etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Die Frau wurde zwischen November 1968 und Februar 1969 umgebracht. Hat irgendjemand die Frau beobachtet? Lasst euch sehen, und wenn einer von Willis Leuten fragt, zeigt eure Ausweise, sagt was von Routineuntersuchung und verweist darauf, dass wir uns in den kommenden Tagen wieder melden werden. Mehr als auf den Teppich klopfen können wir momentan nicht. Vielleicht staubt es ein bisschen. Wenn wir Glück haben, wird jemand nervös.»

      Galgenbergs Stöhnen kam tief aus seinem Innern. «Ick hab schon so wat befürchtet. Alles klar, ick kümmere mir drum!»

      Einen Augenblick lang standen beide auf dem Flur, starrten durch ein Fenster auf die Keithstraße und beobachteten die vorbeihastenden Passanten.

      «Und was machen wir jetzt, so kurz vorm Wochenende?», erkundigte sich Galgenberg vorsichtig mit deutlicher Betonung des letzten Wortes.

      «Ich habe noch etwas in Kreuzberg zu erledigen», erwiderte Kappe. Nach einer kurzen Pause ergänzte er: «Außerdem brauche ich dringend Luft. Ich muss das erst mal verdauen. Geh du zurück ins Büro und stell bitte alles, was wir über diesen Wilfried von Thalmann haben, zusammen. Presseartikel über den bunten Vogel wären auch ganz schön. Ich komme später nach.»

      «Dann muss ick in die Stadtbibliothek.»

      «Dann mach das!», sagte Kappe schulterzuckend.

      Galgenberg zog die Stirn kraus und schaute seinen Chef an, der drehte sich um und lief mit energischen Schritten den Gang entlang.

      Im Auslieferungslager des Berliner Fuhrunternehmens Liebscher genossen die Fahrer ihre Mittagspause. Niemand kümmerte sich um Helmut Gebhard, der die Lieferpapiere für die kommende Tour ins Bundesgebiet prüfte. Alles schien vollständig und korrekt zu sein. Der Lkw war mit Kisten voller Mikrofone beladen, die neuesten, die es derzeit auf dem Markt gab, die Hecktür war verplombt. Gebhard lief ruhig um das Fahrzeug herum und überprüfte die Reifen. Niemand störte ihn. Er öffnete die Fahrertür, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn in Startposition, zog dann den Aschenbecher aus seiner Halterung und drückte kräftig auf das darunterliegende Blech, auf einen unauffälligen Schalter, den nur Eingeweihte kannten. Der Stromkreis schloss sich, und ein Anlassermagnet entriegelte verborgene Stifte im Bodenblech. Um sicherzugehen, dass ihn niemand beobachtete, schaute Gebhard prüfend zum Kabuff, in dem die anderen Kollegen ihre Pause verbrachten. Alles war ruhig. Vorsichtig klappte er den Fahrersitz nach vorn. Nun brauchte er nur noch die Bodenplatte wegzuschieben, und ein eigens präparierter Hohlraum wurde sichtbar. Viel Platz bot er nicht. Er reichte gerade für eine Person, die sich in Embryonalhaltung zusammenkrümmte. Das Versteck lag gut getarnt zwischen Motor und Tank. Selbst Spürhunde schlugen wegen des starken Benzin- und Ölgeruchs nie an, wenn er jemanden darin schmuggelte.

      Sieben Fluchten hatte Helmut Gebhard bisher mit dem umgebauten Lkw des Fuhrunternehmens ermöglicht. Das Versteck war perfekt. Selbst eine einstündige Inspektion am Grenzübergang Staaken war erfolglos gewesen.

      Diesmal würde er die Ladung an einen Partner in Hamburg liefern und anschließend hochwertiges Papier laden, das er am Montag an die Bundesdruckerei in der Kommandantenstraße hinter dem Axel-Springer-Haus übergeben musste. Niemand in der Firma ahnte, dass er in der Nähe von Nauen einen kurzen Zwischenstopp auf einem Waldweg einlegen würde. Nur der Inhaber der Firma Liebscher wusste von dem Umbau des Lkw und seinen regelmäßigen Aktionen. Gebhard kannte das Gerücht, dass der Chef des Unternehmens, Bernd Liebscher, seinen Bruder bei einem Fluchtversuch verloren hatte, als der im Februar ‘64 versucht hatte, den Teltowkanal zu durchschwimmen. Offensichtlich fühlte sich Liebscher schuldig am Tod seines Bruders, weil er ihn nicht von dem irrsinnigen Plan hatte abbringen können. Seitdem tat er alles dafür, anderen bei ihrer Flucht zu helfen. Für ihn war eine derartige Hilfe anscheinend das einzige Mittel, um Abbitte zu leisten.

      Den Umbau des Lkw hatte Wilfried von Thalmann an einem Wochenende auf seinem Anwesen vornehmen lassen. Die Idee stammte von einem befreundeten Fluchthelfer, der mit einem Cadillac Flüchtlinge über die deutsch-tschechoslowakische Grenze geschmuggelt hatte. Dem war es drei Jahre lang gelungen, die Grenzposten mit seinem fast sechs Meter langen amerikanischen Schlitten zu narren. Zweihundert Flüchtlingen hatte das Nobelgefährt in die Freiheit verholfen. Das Versteck hatte hinter dem Armaturenbrett gelegen, und wer die Reise gen Westen angetreten hatte, hatte gut getarnt auf dem Rücken mit angewinkelten Beinen im Kotflügel gelegen.

      Gebhard prüfte noch einmal den geheimen Raum im Lkw. Wie immer schüttelte es ihn, wenn er an die Enge dachte. Er selbst könnte eine derartige Tortur nicht durchstehen, neigte er doch schon in geschlossenen Räumen zu Atemnot und Panikattacken. Mitfühlend legte er eine zusammengelegte Decke in das präparierte Versteck. Mehr konnte er nicht tun. Sorgsam zog er die Bodenplatte wieder in ihre Verankerung, stellte den Sitz zurück und steckte den vollen Aschenbecher in seine Halterung. Zufrieden schaute er auf die Uhr. Mindestens sieben Stunden dauerte eine Fahrt über die Fernverkehrsstraße 5 nach Hamburg, vorausgesetzt, die Kontrolle am Grenzübergang Lauenburg würde sich nicht wieder endlos in die Länge ziehen.

      Otto Kappe musste nichts in Kreuzberg erledigen. Er hatte dies nur vorgegeben, um ungestört zu sein. Nach dem Gespräch mit Kriminalrat Friedhelm Keunitz war er in den neuen VW Käfer gestiegen, den sich seine Frau Gertrud und er Anfang des Jahres geleistet hatten. Inzwischen war er fünf Stundenkilometer schneller unterwegs, als die Polizei erlaubte. Warum er geradewegs zum Kreuzberg fuhr, wusste er selbst nicht. Er stellte das Auto in der Methfesselstraße ab. Zügig ging er an den vor zwei Jahren angelegten Weinstöcken vorbei. Normalerweise schmunzelte er über derartige Ambitionen. Einige Enthusiasten glaubten ernsthaft, dass Berlin auch als Weinstadt einen Ruf zu verteidigen hatte. Tatsächlich hatten Bauern vom 15. bis zum 18. Jahrhundert auf der ursprünglich Götzescher Weinberg genannten Erhebung Weinbau betrieben. Einen Namen für den Rebensaft, der hier künftig wieder hergestellt werden sollte, gab es auch schon: Kreuz Neroberger.

      Kappe ließ sich auf einer Bank unterhalb des gusseisernen Nationaldenkmals für die Siege in den Befreiungskriegen nieder und erinnerte sich an einen Sonntag im September des vergangenen Jahres. Es war ein wunderbarer Tag gewesen, der letzte für eine lange Zeit. Gertrud und er hatten auf der Terrasse des Blockhauses Nikolskoe gesessen, mit Heißhunger riesige Wiener Schnitzel verspeist und die freie Zeit genossen. Von dort bot sich ein wunderschöner Ausblick auf die untere Havel und die Pfaueninsel. Andächtig hatten beide dem Glockenspiel der Kirche St. Peter und Paul gelauscht, die nur einen Steinwurf entfernt lag. Damals hatte er nicht geahnt, dass nur Stunden später kaum einen Kilometer entfernt eine Frauenleiche im Wald gefunden werden würde.

      Aus seinen Gedanken auftauchend, starrte Kappe auf das in Form eines gotischen Tabernakels gestaltete Denkmal auf dem Kreuzberg. Die zwölf Genien erinnerten an gewonnene und verlorene Schlachten und waren allesamt preußischen Heerführern und Mitgliedern des Königshauses nachempfunden. Mit der Einweihung des Denkmals war aus dem Götzeschen Weinberg der Kreuzberg geworden, zumindest hatte Kappe das in einem Zeitungsartikel gelesen. Grund für die Umbenennung war wahrscheinlich jenes eiserne Kreuz, das das heroische Denkmal krönte.

      Siege und Niederlagen prägten auch Kappes Leben. Erfolge waren für ihn eine Selbstverständlichkeit. Ungelöste Fälle


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