Geschwisterliebe. Stephan Hähnel

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Geschwisterliebe - Stephan Hähnel


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Mit den Jahren hatte er gelernt, am Gesichtsausdruck seines Kollegen abzulesen, ob dieser im nächsten Moment über private, berufliche oder politische Ungeheuerlichkeiten zu referieren gedachte. Das Thema Fußball-WM in Mexiko konnte er ausschließen. Deutschland blieb nach dem Jahrhundertspiel vor zwei Tagen gegen Italien und der ärgerlichen 4 : 3-Niederlage nach Verlängerung nur der Kampf um Platz drei. Gestern hatten sie ausgiebig über das Spiel diskutiert. Das war also eindeutig nicht der Grund für Galgenbergs heutige Erregtheit. Ein weiterer kurzer Blick genügte, und Kappe tippte auf private Neuigkeiten. Galgenberg schien übermüdet, er war rot vor Aufregung und voller Vorfreude, die neuesten Nachrichten zu verkünden.

      «Dit gloobste nich! Weeßte, wat mir heute Nacht passiert is?»

      Kappe schüttelte ahnungslos den Kopf, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und deutete mit beiden Händen an, dass er wissbegierig sei. Galgenberg liebte schon immer das Berlinerische, seit er aber dem Verein zur Erhaltung der Berliner Mundart beigetreten war, durfte Kappe regelmäßig dessen bühnenreifen Ausführungen lauschen.

      «Stell dir vor, da träumste von de Adria – Strand, Sonne, knappe Bikinis, wohin de schaust –, und plötzlich macht dir deine Frau wach. Nachts um drei! Panik inne Stimme. Angeblich hätten wa Einbrecher im Haus. Ick dachte, ick krieg ’nen Herzkasper. Einbrecher! Bei uns in Steinstücken! Wenn es eenen sicheren Ort uff de Welt jibt, dann ja wohl die Insel vor de Insel. Wer solln da klauen? Rin kommste nich in die Exklave und raus ooch nich. Jedenfalls nich nachtens. Da passt der olle Ossi uff.»

      Vor ein paar Jahren waren Hans-Gert Galgenberg und seine Frau Sabine nach Steinstücken gezogen, offiziell wegen der günstigen Immobilienpreise. Hinter vorgehaltener Hand hieß es jedoch, dass Galgenberg wegen der stetig steigenden Arbeitsbelastung bei der Berliner Polizei versucht hatte, die Notbremse zu ziehen. Er glaubte, die exponierte Lage der West-Berliner Exklave in der Ostzone schütze ihn vor Fragen wie «Könntest du mal schnell vorbeikommen?» oder «Wäre es möglich, dass du kurzfristig für den Kollegen x oder y einspringst?». Doch er hatte sich getäuscht. Sein Chef Otto Kappe nahm auf derartige Befindlichkeiten keine Rücksicht. Nun lebte Galgenberg gut bewacht und abgeschirmt, zumindest vor unerwartetem Besuch, in der kaum einen Kilometer langen und dreihundert Meter breiten Exklave, die zum Ortsteil Wannsee zählte. Seitdem hatte er die beste aller Ausreden, wenn er zu spät zum Dienst erschien: «Die Grenzposten sind schuld. Kontrollieren mir immer janz jenau. Keene Ahnung, warum. Die wissen bestimmt, dass ick een treuer Staatsdiener bin.»

      «Und was ist nun gewesen?», erkundigte sich Kappe und schaute prüfend auf die Uhr. «Und wenn es recht ist, bitte die Kurzfassung!»

      Galgenberg verdrehte die Augen, setzte sich an seinen Schreibtisch, der gegenüber dem von Kappe stand, und lehnte seinen Oberkörper über die Arbeitsplatte. «Plötzlich hör ick ooch wat. Ick spring uff, greif mir dit Erstbeste, wat ick fassen kann, so een Unjetüm von Vase, wo Sabine im Spätsommer imma die Bumskeulen rinstellt, und schleich uffn Hof.» Galgenberg sprang wieder auf und unterstrich das Gesagte mit vollem Körpereinsatz. «Und tatsächlich, im Schuppen seh ick Licht. Ick, mutig wie ick bin, reiß die Tür uff, dit glasierte Steingutteil von irgend so een Designer einsatzbereit über meenem Kopp – und wat bejegnet mir da?»

      Kappe, der Galgenbergs Vortrag amüsiert verfolgte, zuckte ahnungslos mit den Schultern und wollte schon zu raten beginnen.

      «Otto, sag nischt! Kommste nie druff. Also, wie ick da so stehe in meinem jestreiften Pyjama, barfuß, da entdeck ick in meenem Schuppen een Fensterputzer im Tarnanzug. Een echter Republikflüchtling. Na, der hat sich vielleicht erschrocken! Hätt nich viel jefehlt, und der wär wieder zurück in Osten jemacht.»

      «Ein Fensterputzer?»

      «Een Flüchtling mit so eener Fensterputzleiter zum Zusammenschieben! Kräftiger junger Mann, noch janz grün hinter de Ohren, neunzehn Jahre, aber ziemlich clever. Dit Prachtstück von eener Leiter hat sich Gefreiter Jürgens, Kai Jürgens, so heißta nämlich, quasi vom Rückwärtigen Dienst der Nationalen Volksarmee ausjeborgt. Die brauchten so een Vehikel, um die Fenster eener alten MIG zu putzen. Dit is een Hobby von General von Trallala zu Sowieso. Dit Flugzeug steht uffn Granitsockel vor de Kommandantur. Wenn der Lametta-Heini meinte, die Fenster von dem Vogel sehen matt aus, dann wurde jeputzt. Im ersten Diensthalbjahr regelmäßig jeden Sonnabend. Und dafür brauchste so een Teil. Dit is Joldstaub im Osten. Die haben ja nischt. Und wat macht der Sprutz? Klaut dit jute Stück und nutzt den Urlaub bei de NVA dazu, dem Arbeiter- und Bauernparadies Tschüss zu sagen. Mann weg. Leiter ooch. Dit Jesicht von dem Oberoffizier hätte ick ma sehen wollen!»

      Kappe kannte Galgenberg eine mittlere Ewigkeit, aber selten hatte er ihn so begeistert gesehen. Wenn es gegen den Osten und dessen Staatsführung ging, lief der Kriminalassistent regelmäßig zu Hochform auf. Und seit West-Berlin ein Eldorado für Bundeswehrverweigerer geworden war, sich zunehmend Hessisch, Schwäbisch, Bayerisch und andere unverständliche Dialekte in die Alltagssprache mischten, schien sein Kollege umso mehr von der Notwendigkeit überzeugt zu sein, die Berliner Mundart retten zu müssen. Kappe schaute seinen Kriminalassistenten amüsiert und erwartungsvoll an. Als dieser nicht weitersprach, tat er ihm den Gefallen und fragte neugierig: «Und was ist dann passiert?»

      «Na, ick hab den erst mal einjekleidet. Ordentliche Hose, hellet Hemd und meine Lieblingslederjacke von Woolworth, die mir leider nich mehr passt. Du weeßt schon, die schnieke braune mit die geschwungenen hellen Linien uffn Rücken, wat wie een Adler aussieht. Dit Teil is zwar een bisschen abjelebt, aber immer noch eene echte Oogenweide. Kannst doch keenen inna Einstrich-Keinstrich-Uniform durchn Westsektor latschen lassen. Schnieke sieht der Junge jetz aus. Und dann hab ick die Amis ausm Bett jeklingelt und ihnen den Neubürger übergeben. Na, die haben Oogen jemacht! Montach is Wachwechsel. Da fliegen die Amis den bestimmt ooch mit aus.»

      Fast wäre Kappe aufgestanden und hätte seinem Kollegen stolz die Hand geschüttelt, besann sich dann aber der wirklichen Probleme. Und davon gab es einige. «Kriminalrat Keunitz will uns sehen. In fünf Minuten. Keine Ahnung, was der will.»

      Galgenberg verdrehte die Augen und seufzte theatralisch. «Wat? Der Chef persönlich? Otto, mich grault’s!»

      «Mir grault’s, heißt das», verbesserte Kappe ihn. «Das ist der Akkudativ. Der echte Berliner verwendet immer ‹mir›, selbst wenn es richtig ist. Kollege, du musst noch viel lernen!»

      «Es ist das erklärte Ziel unseres neuen Polizeipräsidenten, dass wieder Frieden herrscht in der Stadt. Hübners Linie scheint daher zu heißen: Die Polizei hat zwar nicht mit dem Einsatz von Gewalt begonnen, aber sie soll ihn beenden. Mit anderen Worten: Ab sofort ist Weichspülen angesagt.» Kriminalrat Friedhelm Keunitz konnte seine Abneigung gegen die Politik des neuen Polizeipräsidenten Klaus Hübner kaum verhehlen. «Schlimm genug, dass wir ständig mit diesen Chaoten zu tun haben, mit ihrem ‹Ami-Go-Home›- und ‹Ho-Ho-Ho-Chi-Minh›-Geschrei. Allein wegen der Straßenschlacht vor dem Amerikahaus in der Hardenbergstraße Anfang Mai haben wir immer noch diverse verletzte Polizisten zu beklagen. Verdammt, wir sind doch nicht die, die Krieg in Vietnam führen! Und dann noch die gewaltsame Befreiung von diesem Andreas Baader. Bin gespannt, was da noch auf uns zukommt.» Wütend schlug Keunitz auf ein Blatt namens Agit 883, ein anarchistisch-libertäres Periodikum aus der linken Szene, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Kopfschüttelnd deutete er auf einen Artikel: Die Rote Armee aufbauen!

      Otto Kappe wusste zwar nicht genau, um was es ging, las aber ein paar Zeilen: Genossen von 883 – es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen. Das haben wir lange genug gemacht. Die Baader-Befreiungs-Aktion haben wir nicht den intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheißern, den Allesbesserwissern zu erklären, sondern den potenziell revolutionären Teilen des Volkes.

      Kappe kannte derartige Polemik aus anderen anarchistisch gefärbten Artikeln, die zuweilen bar jeder Vernunft schienen. Selbst sein Sohn Peter sympathisierte seit Jahren mit der revolutionären Studentenbewegung. Immer häufiger hatten sie sich wegen ihrer unterschiedlichen politischen Sichtweisen gestritten. Otto Kappes Frau Gertrud litt darunter, und zusehends ging ein Riss durch die Familie. Er war nicht schuldlos daran, aber er vermochte zurzeit nicht auf seinen Sohn zuzugehen. Glücklicherweise hatte der Anfang des letzten Jahres sein Studium der Psychologie beendet


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