Das Erbe der Burgherrin. Sabine Müller
Читать онлайн книгу.sie keinen Augenblick mehr aus den Augen lassen“, sprach Sveti besorgt.
„Einer muss in die Stadt gehen und bei einem Apotheker einen Schlafsaft besorgen. Dann werden sie für die nächsten Tage ruhig gestellt.“
„Wer soll gehen?“
„Ich glaube ich übernehme das“, sagte Wolfgang und machte sich fertig. Er stieg auf sein Pferd und ritt den Hügel hinunter, bis er zu dem Hohlweg kam, auf welchem ihnen die beiden entwischt waren. Der Weg führte ihn zu der kleinen, befestigten Stadt, die Bretten genannt wurde. Am Stadttor bat er um Einlass. Er gab vor, dass er dringend für einen Kameraden Arznei brauche und wurde sogleich eingelassen. Es war Markttag und viele Leute waren unterwegs in der Stadt. Manche zu Fuß, manche zu Pferd und andere auf einem Fuhrwerk. Die Hauptstraße zum Marktplatz war so, wie dieser, gepflastert, sodass überall Hufgetrappel zu hören war. Um den Platz herum waren wenige zweistöckige Häuser aus Stein, deren obere Etage aus Fachwerk bestand. Am Rande standen primitivere Hütten aus Holz. Eine kleine Kirche und ein Brunnen zierten den Marktplatz. Überall waren Stände aufgebaut und die Händler und Marktfrauen boten ihre Waren feil. Hühner gackerten, Schweine grunzten und Hunde bellten. Auf dem Boden lagen Stroh, Kohlblätter und Gänsefedern. Wolfgang sah sich genau um. Bei den Marktständen erkannte er weder Apotheker noch Kräuterfrauen. Er trat auf den Stand eines Gewürzhändlers zu.
„Gibt es hier einen Apotheker?“
„Dort drüben müsst Ihr der Gasse ein kurzes Stück folgen und dann stoßt ihr auf den Laden des Apothekers“, erklärte ihm der Händler und wies ihm die Richtung.
„Danke für die Auskunft“, Wolfgang reichte dem Händler eine kleine Münze und dieser verneigte sich vor ihm. Wolfgang folgte der Beschreibung des Mannes und befand sich nur kurze Zeit später vor dem Haus des Apothekers. Es handelte sich um ein einstöckiges Steinhaus, zu dessen Tür eine Sandsteintreppe führte. Die Klappläden aus Holz waren geöffnet und das Haus machte einen gepflegten Eindruck. Wolfgang stieg die Treppe hoch und klopfte an die Tür.
„Kommt nur herein!“, ertönte eine dunkle Stimme.
Der Ritter folgte der Aufforderung und trat auf den Flur. Auf der linken Seite stand eine Tür offen, die in die kleine Offizin führte. Auf der rechten Seite befanden sich die privaten Gemächer des Apothekers.
„Seid gegrüßt, werter Ritter. Womit kann ich Euch dienen?“
„Mein Kamerad hatte eine schwere Verletzung. Die Wunde ist zwar geheilt, doch er hat immer noch starke Schmerzen und kann kaum schlafen. Ich glaube der Knochen ist noch nicht richtig zusammengewachsen.“
Der Apotheker überlegte kurz, ging dann zu seinem Vorratsschrank und entnahm eine Amphore, welche er auf einem großen Tisch abstellte. Die Aufschrift „Tinctura Opii“ zierte das Gefäß. Auf dem Tisch lagen verschiedene Gerätschaften, die Wolfgang alle fremd vorkamen. Eine Waage stand dort, mehrere Reibschalen und eine Destillierapparatur. Der Apotheker nahm eine kleine Flasche und füllte aus dem großen Vorratsgefäß davon hinein.
„Ich gebe Euch diese Phiole mit Mohntinktur. Von der könnt ihr ihm ein paar Tropfen geben, sobald er starke Schmerzen verspürt und auch bevor er schlafen geht. Aber dosiert es vorsichtig. Zuviel ist nicht gut und er soll es auch nicht zu lange nehmen, sonst gewöhnt er sich daran und wird unwirsch, sobald es leer ist.“
„Ich verstehe. Ich werde ihm immer nur ein klein wenig davon geben. Was bin ich Euch schuldig?“
Der Apotheker wog die Flasche ab und berechnete den Preis. Wolfgang gab ihm die geforderten Münzen und verabschiedete sich. Er nahm sein Pferd und machte sich auf den Rückweg. Viele Menschen waren unterwegs und verließen nach einem Marktbesuch ebenfalls die kleine Stadt. Der Ritter musste einen Umweg reiten, damit er nicht ein paar Reiter direkt zum Lager der Räuber führte. Auch Rainer war schon eingetroffen. Sein Vater hatte ihn vorbeigebracht und den Räubern geraten, ihn die erste Zeit anzubinden, damit er nicht wegliefe. Diese hatten ihm sogleich einen Strick um das Fußgelenk gebunden, sodass es ihm nicht viel besser als Mechthild und Arnold erging.
„Na, hast du von dem Schlafsaft bekommen?“, wollte Sveti wissen, der Wolfgang als Erster erblickte.
„Ja, hier habe ich ein Flasche davon. Wir müssen sehr sparsam damit umgehen. Gibt ihnen immer nur ein paar Tropfen in ihre Becher. Das reicht, um sie ruhig zu stellen.“
„Hoffentlich. Ich will nicht noch einmal mitten in der Nacht durch den Wald jagen müssen.“
„Lasst uns gleich ausprobieren, ob der Saft hilft“, schlug Hagen vor. Der Lange nahm einen Becher, füllte ihn mit Wasser und tropfte von der Opiumtinktur hinein. Dann ließ er zuerst Mechthild und dann Arnold davon trinken. Mechthild hatte von der Wirkung der Mohntinktur schon gehört und trank nur zögerlich. Eigentlich wollte sie bei vollem Bewusstsein bleiben, damit sie die nächste Möglichkeit zur Flucht nutzen konnte. Doch der holprige Weg, der vor ihnen lag und die Knochen, die ihr am Abend immer schmerzten, ließen sie sich eines Besseren besinnen und doch über die Hälfte des Bechers leeren. Außerdem wollte sie nicht, dass Arnold zu viel davon trinken musste, denn bei ihm würde der Saft noch stärker wirken.
„Siehst du? So ist es gut. Gleich denkt ihr, ihr wärt auf Wolle gebettet“, sagte Hartmut zu den beiden und grinste.
Sie luden die Gefangenen auf den Wagen und setzten sich in Bewegung.
„Heute erreichen wir Stuttgart. Das ist größer als Bretten. Dort müssen wir uns ein paar Vorräte besorgen.“
„Willst du die wirklich kaufen? Können wir nicht in den Wäldern einen Händler überfallen?“
„Hier sind zu viele Leute unterwegs. Man würde es bemerken und Jagd auf uns machen. Die Männer des Herzogs würden uns sofort am nächsten Baum aufhängen.“
„Dann werden wir hier aber nicht zu viele Vorräte kaufen und warten, bis wir wieder auf Raubzug gehen können.“
Sie ritten ohne große Zwischenfälle den Tag durch. Hin und wieder begegneten sie anderen Reisenden, Händlern, Pilgern und Rittern. Niemand schöpfte Verdacht, dass unter den Stoffballen auf dem Wagen etwas anderes gelagert war, als feines Tuch.
Am Abend schlugen sie ihr Lager auf einer Lichtung auf und luden die Gefangenen ab.
„Na, habt ihr den Tag voller Ruhe genossen?“
Mechthild sah müde aus. Auch wenn der Mohnsaft nun nicht mehr richtig wirkte, fühlte sie sich immer noch benommen. Arnold ging es nicht besser. Sie bekamen etwas zu essen und zu trinken und durften austreten. Mechthild tat es leid, dass Rainer nun auch in Gefangenschaft war, sie sah zu ihm herüber und er zwinkerte ihr zu. Er schien nicht darunter zu leiden, dass er nicht mehr in sein Elternhaus musste.
Der Lange füllte ein paar Tropfen der Tinktur des Apothekers in einen Becher und gab Wasser hinzu.
„Hier trinkt, damit ihr gut schlaft.“
Arnold und Mechthild taten wie ihnen geheißen und legten sich müde nieder.
Mechthild lag lange in einem Dämmerzustand, halb wach, halb träumend. Sie spürte immer noch das Holpern des Wagens, obwohl sie fest auf der Erde lagen. Viele Bilder gingen ihr durch den Kopf. Sie sah Konrads Gesicht und wollte nach ihm greifen, doch sobald sie versuchte die Hand zu heben, war es verschwunden. Dann erschien Margaretas Antlitz vor ihr. Die Altgräfin versuchte ihr etwas zu sagen, doch sie konnte sie nicht verstehen. Dann sah sie, wie sich Margareta mit einer älteren Frau unterhielt. Der Kleidung nach war es eine Bedienstete. Doch wer war sie? War das nicht die alte Köchin Berta, die gestorben war? Ja, sie war es und ihre Lippen formten einen Namen. Ganz deutlich. Auf einmal konnte Mechthild den Namen sogar verstehen. „Loretta“, sagte sie und wiederholte ihn immer wieder. Doch, was war mit dieser Loretta? Wer war sie? Hatten die Ritter nicht von einer Loretta erzählt? Wieder sah sie Bertas Gesicht. Diesmal sagte sie:
„Walthers Witwe, Loretta!“
Mechthild warf sich von einer Seite zur anderen. „Walther, Walther? Der Mörder von Vetter Simon? Der, der Konrad im Wald ausgesetzt hatte und Loretta, seine Witwe, die Rache geschworen hatte?“