Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch

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Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch


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ihn. Fest umschlossen mit meiner Hand schwinge ich ihn wie eine Keule über dem Kopf.

      „Was willst du denn damit?“, Wolfgang steht wie angewurzelt noch immer am selben Fleck.

      „Ich gehe jetzt rein und prügle die auseinander“, antworte ich voller Mut.

      Aber ich bin kein bisschen mutig, mir schlackern die Knie, ich zittere am ganzen Leib. Tränen laufen mir wie Sturzbäche über mein Gesicht.

      „Lass es, du kannst nichts machen, irgendwann hören die wieder auf. War doch immer so“, beruhigt mich Wolfgang, dieser Feigling, flüstern.

      Trotzdem bin ich ihm dankbar, dass er mir den Bügel aus der Hand nimmt. Ich bin froh, dass ich nicht hineingehen muss in den schrecklichen Raum. Kein Schlag austeilen muss. „Ich bin noch zu klein“, denke ich bedauernd. Wolfgang zieht mich ins Kinderzimmer, wir schließen die Tür und jeder geht zurück in sein Bett, als wäre nichts gewesen. Lange liege ich unter der Decke, weine mir die Seele aus dem Leib, heimlich, damit keiner etwas hört.

      Ich bin müde, unausgeschlafen, meine Glieder sind schwer wie Blei, als ich mich in die Küche schleppe. Mutter liegt im Bett, hat die Decke fast über den Kopf gezogen. Neben ihren Hausschuhen liegt ein nasses Handtuch voller Blut. Links steht der Zinkeimer, der nachts zum Pinkeln genutzt wird. Jedes Mal ekelt es mich, aber auch immer muss ich unwillkürlich hineinsehen. Diesmal ist rotes Wasser drin, vermischt mit Watteklumpen, die mit tiefrotem Blut versetzt sind. Als mein Blick zu Mutters Bett schweift, sehe ich die Blutstropfen, die, vom hereinfallenden Sonnenlicht angestrahlt, sich deutlich von den rotbraun gestrichenen Dielen abheben. Ein Schreck durchzuckt meinen Körper. „Sie wird doch nicht etwa tot sein?“, schießt es mir durch den Kopf. Genau in diesem Moment streckt sich ihr Kopf unter der Decke hervor. Ich sehe ihr aufgequollenes rot und blau verfärbtes Gesicht, ihre blutverschmierten aufgeplatzten Lippen, ihr wirres verklebtes Haar. Sie lebt, sie atmet. Kann sie nicht aufstehen, mich in den Arm nehmen, drücken und trösten? „Entschuldige, mein Schatz, Mama und Papa vertragen sich zukünftig und sind jetzt immer ganz lieb zueinander.“ Keines von alldem passiert. Mutter hält die Augen geschlossen und schläft weiter. Papa sitzt allein am Küchentisch, trinkt den letzten Schluck des Kaffees, den er sich selbst gebrüht hat. Wenn wir sonst sonntags dasitzen und Papa endlich, nachdem er im Wohnzimmer gesaugt und Staub gewischt hat – alles noch im Schlafanzug –, auf seinem Stuhl Platz genommen hat, haben wir oft gelacht, weil er nicht bemerkte, dass wir den Bohnenkaffee gegen Malzkaffee ausgetauscht haben. Erst wenn die Tasse fast ausgetrunken war, flog der Schwindel auf. Heute passiert das nicht, denn er sitzt allein, zusammengekauert und leichenblass am Tisch. Ohne ein Wort zu sagen, holt er die Kanne mit kaltem Malzkaffee, schneidet zwei Semmeln in Würfel, füllt sie in eine Tasse und gießt den Kaffee darauf, fügt drei Löffel Zucker dazu, rührt um und schiebt das Gemisch mir hin.

      „Iss“, sagt er schroff, steht auf und räumt sein Geschirr weg.

      Da sitze ich nun mit meinem Sonntagsfrühstück, was sich so deutlich von dem unterscheidet, welches mir Oma jeden Tag zubereitet. Ich stochere in den zu Pampe gewordenen Semmelwürfeln herum und habe keinen Hunger. Aber das bleibt bei Papa ohne Bedeutung.

      „Das wird aufgegessen, bis zum letzten Krümel. Was anderes gibt es nicht und beeil dich“, faucht er mich im Vorbeigehen an.

      Ich versuche an mit Quark und Marmelade bestrichene Brotscheiben zu denken, an duftenden warmen Kakaoschalentee mit Milch. Ich zwinge mir den Brei hinunter, den letzten Rest spüle ich schnell im Küchenausguss aus, hoffend, dass Papa nichts merkt. Nach dem Frühstück und herausgeputzt mit Popelinehose, braunem Pullover und den an der Seite aufgerissenen Halbschuhen, nimmt mich Papa am Arm, an der Hand will er mich wohl nicht anfassen, und marschiert wortlos in Richtung Lessingplatz, weiter zur Markuskirche, den Berg hinunter, dann wieder hinauf, an der Lutherkirche entlang, über die große, breite Straße und endlich einbiegend in meine Heppe, den Gartenweg, den ich schon so viele Male gelaufen bin. An der Haustür drückt Papa den Klingelknopf auf dem glänzenden Blech, bis von oben Opas Stimme ertönt.

      „Ich bringe Karl heute früher, muss noch arbeiten“, brüllt Papa ins Treppenhaus.

      Ehe Opa die vielen Stufen nach unten kommt, werde ich ins Haus geschubst. Papa bläut mir noch ein:

      „Du hältst den Mund, wehe du erzählst vom Streit. Verstanden?“

      Ich nuschle Undeutliches, drehe mich auf dem Absatz um und renne los, direkt in die Arme von Opa. Ganz fest klammere ich mich, als wollte ich ihn nie mehr loslassen, meinen Beschützer, sodass er mit mir am Hals die vielen Stufen wieder hinaufsteigt. Oben schnaufend angekommen übergibt er mich.

      „Ich kann nicht mehr“, lamentiert er erschöpft.

      Oma, mit ihrem alles durchleuchtenden Blick, hat die Situation sofort erkannt.

      „Na, dann komm mal, Junge, ich mache dir einen schönen Kakao.

      “ Ich erstarre. Mit einem markerschütternden Schrei klammere ich mich heulend an Oma fest. Meine Knie versagen ihren Dienst, ich knicke vor Oma ein und wäre sicherlich auf den kalten Steinboden gefallen, wenn mich Opa nicht abgefangen und hochgenommen hätte. Schnell schließt Oma die Wohnungstür hinter uns, in der Küche schaut mich Tante Hedel entsetzt an.

      „Was ist denn los mit dem Jungen, der ist ja vollkommen fertig?“

      Keiner gibt Antwort. Nur Oma macht einen kurzen Wink mit der Hand in Richtung Tante Hedel, die daraufhin, sich nochmals umdrehend, schleunigst die Küche verlässt. Auch Opa tut plötzlich sehr geschäftig und macht hinter sich die Tür zu. Sein Schatten, der durch die milchige Türscheibe erkennbar ist, geht in Richtung der Bodenkammer. Oma hat den Küchentisch mit dem Fuß etwas zur Seite geschoben, denn mit den Händen muss sie mich ja halten. Sie setzt mich auf das Sofa, nimmt ganz nah neben mir Platz, drückt meinen Kopf an ihre weiche Brust.

      „Weine ruhig, das ist gut, das befreit, wenn du möchtest, berichtest du mir danach, was passiert ist. Wenn du nicht willst oder es dir verboten ist, dann erzähl es mir einfach später. Wir beide haben Zeit.“

      Ich nicke, weine weiter, bis sich der Krampf löst. Schluchzend schnaube ich in das große Taschentuch, das Oma irgendwoher gezaubert hat. Langsam hat mich die Welt wieder. Oma streichelt mir über den Kopf, wie sie das schon so oft getan und es mir immer geholfen hat. Wenig später nippe ich an dem köstlichen Kakao, der diesmal aus richtigem Pulver und nicht aus Schalen gekocht ist. Vor mir steht ein Teller mit Marmeladenbrot, Oma schält einen Apfel, schneidet ihn für mich in mundgerechte Stücke. Mit Heißhunger putzte ich in Windeseile alles weg. Oma unterlässt es heute, mich zu ermahnen, nicht zu schlingen. Als ich fertig bin, treffen sich unsere Blicke. In Omas Augen erkenne ich die Frage, was gewesen ist. Da sprudelt alles aus mir heraus, beginnend beim Verlust meines Baukastens, den Beschimpfungen von Papa und Mutter und von der Prügelei, dem vielen Blut und den anderen schlimmen Dingen. Über eines erzähle ich allerdings nichts. Meine Feigheit bleibt unerwähnt, mit schwingendem Kleiderbügel auf keinen der beiden losgegangen zu sein. Dafür schäme ich mich zu sehr. Oma versteht auch ohne weitere Worte, dass noch mehr gewesen ist, was mein Herz bedrückt, aber heute noch nicht heraus will.

      Am nächsten Tag teilt Oma mir mit, dass sie mit Papa telefoniert hat und ich jetzt erst einmal eine gewisse Zeit hier bleibe, auch an den Wochenenden. Ich falle Oma vor Freude um die Hüfte, drücke sie ganz fest, so lange, bis sie sich zu mir herunterbeugt, damit ich ihr ein Küsschen geben kann. Meine Welt ist wieder in Ordnung. Ich habe überhaupt kein Verlangen nach Mutter und Papa und nach dem Ekel schon gar nicht. Ich werde fortan von allen Seiten verwöhnt. Oma gibt mir tagsüber Leckereien zwischendurch, bei Tante Hedel darf ich die Sandmännchen im Radio anhören, erst den einen, und wenn das Gutenachtlied erklingt, noch den zweiten Sandmann. Tante Hedel muss in der Nähe bleiben und auf mein Kommando den anderen Sender einstellen, was tadellos klappt. Für Opa ist es schwierig mit dem Verwöhnen, denn er kommt als letzter und hat den ganzen Tag schwer gearbeitet. Meistens stehe ich zu der Zeit, wenn er mit dem Fahrrad kommen muss, an der Haustür und schaue die Straße hinunter in der Hoffnung, den Radfahrer mit der orangefarbenen Jacke als Erster erkennen zu können. Oma sagt mir jedes Mal, dass es noch zu früh ist, vor die Tür zu gehen, aber ich weiß immer eine Antwort:

      „Vielleicht


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