Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch

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Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch


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Minute an gemobbt wurde. Die Erzieherinnen, aber auch die anderen Kinder, ließen mich sehr deutlich spüren, dass ich nicht dazugehörte. Jetzt weiß ich auch, warum. Ich habe den Platz beansprucht – als Tochter einer überzeugten Genossin, die parteigetreu auf Linie war, hatte ich den Vorrang – und eine andere alleinerziehende Mutter aus dem Kiez war leer ausgegangen. Spießruten bin ich gelaufen. Ständig ließ man mich den Unterschied der Herkunft spüren. Es hat natürlich keiner zugegeben, das war in diesem, von dir so hochgepriesenen System nicht angesagt. Und ich wollte das gut funktionierende Kind sein, nach Vorbild der Mutter, immer bereit, Entbehrungen auf sich zu nehmen und kämpferisch zu sein“, beendet Veronika zornig den Exkurs in die Vergangenheit.

      „Sie verlangt Vergebung für das, was sie bewusst oder auch unbewusst dem Rest der Familie angetan hat“, denkt sie verbittert.

      Eine Weile herrscht Stille zwischen Susanne und ihrer Tochter. Sie kämpfen gegen die Tränen, den Kloß im Hals. Beide müssen sich erst einmal sammeln.

      „Entschuldige, Mama, wenn ich so hart über dich gesprochen habe, aber so war nun mal die Empfindung für mich mit vier Jahren.“

      „Schon gut. Ich will ja wissen, was in dir vorging. Bitte erzähle weiter, ungeschminkt, offen und ehrlich. Ich will es begreifen. Gib mir eine Chance“, fleht sie förmlich ihre Tochter an.

      „Dann lass mich mal den Wein nachschenken, denn es kommt noch schlimmer. Das kannst du mir glauben“, gibt Veronika den Einstand zur zweiten Runde. „Wirklich schlimm für mich war, Papa und Liesa die ganze Woche nicht sehen zu können. Ich hatte solche Sehnsucht nach ihnen. Bei jedem Telefonat mit den beiden wurde das Heimweh größer, brannte in meiner Brust und machte mich unendlich traurig“, nun verliert auch Veronika ihre Beherrschung, die Tränen treten ihr in die Augen. „Nein, ich will doch das alles nicht noch einmal hervorholen. Ich war froh, dass ich drüber hinweggekommen bin und nun ist es wieder da“, schluchzt sie in ihr Taschentuch.

      Susanne sitzt wie ein Häufchen Unglück auf der Sesselkante, hält das nunmehr leere Glas fest umklammert, so fest, dass, als sie es bemerkt, sie vorsichtig den Druck verringert, damit es nicht zerspringt. Sie steht auf, um auf die Couch zu wechseln, ganz nah an ihre Tochter heranzurücken und sie zu umarmen, sie an ihre Schulter anzulehnen. Bereitwillig lässt Veronika diese lange vermisste Zärtlichkeit der Mutter zu.

      „Ich verstehe deine Verbitterung“, versucht Susanne Trost zu spenden. „Es war damals eine schwierige Zeit. Papa hat oft Alkohol getrunken, viel, sehr viel. Und er hat sich mit anderen Frauen vergnügt. Wir haben uns dann ausgesprochen, abgerechnet mit dem Gewesenen, mit dem Verwerflichen – ja, auf beiden Seiten. Wir haben uns gegenseitig eine Chance gegeben, uns versprochen, ehrlich miteinander umzugehen. Das Zusammenbleiben hat funktioniert, das Aufrichtig-zueinander-sein allerdings auf Seiten von Papa nicht. Er ist trotzdem weiter fremdgegangen, hat mich weiter betrogen. Aber gut, sei es, wie es sei, ich und Papa, wir sind heute noch zusammen und haben, so bin ich jedenfalls überzeugt, ein Stück von Ehrlichkeit zurückgewonnen“, endet Susanne mit deutlichem Stolz in der Stimme.

      „Ich glaube dir, dass ihr zueinander zurückgefunden habt. Aber wir sind noch nicht fertig mit unserer Wahrheitsfindung. Es fehlt noch die Zeit danach, beginnend mit dem Schulanfang. Die Klassenkameraden und auch die Lehrer wussten, dass ihr beide bei der Stadtverwaltung wart. Parteibonzen nannte man euch. Natürlich nicht direkt. Ich bekam den Unmut darüber von den Lehrern immer wieder zu spüren. Aber die eigentliche Misere war, dass ich auch hier keine Freunde hatte. Keiner wollte sich mit mir abgeben. Euch hat das nicht interessiert. Ihr hattet eure Arbeit, die Verpflichtung, Familie und Gesellschaft unter einen Hut zu bringen. Da war es sehr bequem, eine funktionierende Tochter zu haben, die so pflegeleicht ist, sich immer unterordnet, genügsam ist. Liesa war da anders. Sie ist oft ausgebrochen, hat sich quer gestellt, hat rebelliert, ihre Meinung gesagt, auch wenn die unbequem war. Das fand ich gut. Liesa war nicht nur meine große Schwester, sondern auch heimliches Vorbild. So wollte ich sein, streitbar, aufmüpfig und selbstentscheidend. Nur war ich eben ein kleines Mauerblümchen, weit entfernt von meinem Idol. Ich musste immer pünktlich zu Hause sein, noch bevor es so richtig losging. Ich hätte so gern mal eine Fete mitgemacht, auch mal einen Zug von der Zigarette genommen, einen Schluck aus der Pulle. Heilfroh war ich, als Papa bei der Stadt aufgehört und in Leipzig mit den Immobilien anfing. Da sind wir in die Stadtvilla umgezogen, ich hatte endlich mein eigenes Zimmer, vorn in der Ecke, mit den großen Fenstern. Ich habe oft auf der Kommode gesessen und hab die Vögel auf den Bäumen beobachtet. Da habe ich mich wohl gefühlt. Wenn ihr euch nur nicht ständig gestritten hättet, meist, wie ich dachte, wegen der Arbeit. Heute würde ich meinen, es ging um Papas dauerndes Fremdgehen. Und dieser viele Alkohol, nicht nur den, den Papa sich hineinschüttete, sondern auch du. Ihr habt beide ganz schön zugelangt, zwei bis drei Mal die Woche. Ich habe in dieser Zeit oft darüber nachgedacht, wegzugehen, so wie es Liesa getan hat, nach Bayern … Und dann kommt ihr eines Tages auf mich zu und verkündet, dass ihr in die Nähe von Liesa nach Bayern ziehen wollt. Ich bin damals aus allen Wolken gefallen, habe gegrübelt, wie ihr auf meine geheimsten Wünsche gekommen seid“, schließt Veronika den Rückblick ab und ihre fragenden Augen richten sich auf Susanne.

      Die begreift sofort, dass sie jetzt dran ist, eine Erklärung für das zu liefern, was sie und Karl damals unter den Teppich kehrten, dass sie die Flucht nach vorn antraten, dass dieser Schritt für beide die letzte und wirklich letzte Chance gewesen war, einen Neustart hinzubekommen. Sie hatten sich hinter dem heimlichen Wunsch ihrer Tochter versteckt. Dass die so sehnsüchtig zu ihrer großen Schwester ziehen wollte, hatten sie als Legende genutzt. Natürlich konnte Susanne nicht eingestehen, dass sie das Tagebuch von Veronika gelesen hatte, was mit der Aussage begann „Ich will zu meiner Schwester“.

      „Wir wussten doch, dass du gern bei Liesa sein wolltest. Also sind wir deinem Wunsch nachgekommen. Aber du hast recht, dies war nicht das einzig Ausschlaggebende für den Entschluss. Du hast Papa ganz richtig eingeschätzt als … nun ja, Hurenbock, und Alkoholiker, denn das war er, und von seiner Arbeit, der Karriere besessen. All das bestimmte unser Familienleben. Natürlich war es angenehm, dass er ordentlich Geld verdiente als Immobilienmakler. Jedes neue Auto war eine Nummer größer als das vorhergehende. Urlaub konnten wir uns leisten jedes Jahr im Ausland, warst ja ein paar Mal mit. Das alles war angenehm und so hätte es bleiben können, wenn da nicht so einiges Unangenehmes gewesen wäre. Papa war eigentlich nicht der Typ für einen Immobilienmakler. Wenn er auch viele Abschlüsse machte, so fiel es ihm doch zunehmend schwerer, seine Skrupel zu ignorieren. Als Makler musst du gewissenlos sein, darfst dich nicht drum kümmern, ob der Käufer in ein paar Jahren noch die Rate bezahlen kann. Hauptsache die Provision stimmt. Papa hat es innerlich zerfressen. ‚Mit Alkohol lässt sich vieles vergessen, oder zumindest leichter ertragen‘, meinte er. Er ist frühmorgens, wenn gewisse Kneipen öffneten, schon vom Büro aus losgezogen. Wenn er die richtige Dröhnung hatte, konnte er mit Kunden telefonieren und Abschlüsse vorbereiten. Wenn der Alkohol die Wirkung verlor, ist er zu Außenterminen, Besichtigungen oder Verkaufsgesprächen und war danach auf Wolke sieben, im Rausch seines Erfolges oder dessen Anbahnung. Es gab immer einen Grund für ein gemeinsames Abendessen beim Griechen, unserem zweiten Wohnzimmer. Hatte er keinen beruflichen Erfolg, brauchte er einen Ausgleich. Ihm war völlig egal, was für eine oder wessen Frau es war. Wenn auch das nicht klappte, blieb noch die Videothek am Chemiewerk, wo er sich Pornofilme holte, die immer extremer wurden und bei deren Blick auf das Cover ich mich schon ekelte. Die zog er sich dann rein, wenn ich ins Bett bin, um ‚einen Moment auszutrudeln‘“, die Erinnerung schnürt ihr die Kehle ab, sie schluckt. „Das war nicht mehr der, den ich geheiratet und geliebt hatte. Uns verband nichts mehr, kein Geld, nicht die Kinder, die Datsche noch wer weiß was. Ich wollte nicht mehr, keinesfalls so. Ich hätte mich von Papa getrennt, die Koffer gepackt und mit dir irgendwohin, vielleicht auch zu Liesa. Hauptsache weg aus diesem elenden, verlogenen und verdorbenen Leben an der Seite eines Mannes, den ich irgendwann abgöttisch geliebt hatte“, schluchzt Susanne ganz in der Erinnerung gefangen.

      Nun kann auch Veronika nicht mehr an sich halten, beide nehmen sich in die Arme, spenden sich gegenseitig Trost. Aber für was? Es ist Vergangenheit, ein Teil des Lebens, der zu ändern nicht mehr möglich ist. Veronika löst sich aus der Umklammerung, steht auf, geht in die Küche und kommt mit einer neuen Flasche Rotwein zurück. Sie gießt die Gläser nach, reicht eines Susanne und beide stoßen


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