Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch
Читать онлайн книгу.ich mich auf dem Hosenboden rutschend von Stufe zu Stufe hinabbewege, spüre ich das Kribbeln im Bauch, welches ankündigt, gleich ist es so weit. Dann wird Opa seine blecherne Brotbüchse aus der Ledertasche holen, sie öffnen und mir den Inhalt anbieten – mein Hasenbrot. Mit der anderen Hand helfe ich Opa, das Fahrrad in den Keller zu bringen. Mich strengt das Tragen am Gepäckträger gar nicht an, denn ich bin so stark geworden von dem Hasenbrot, dessen letzter Bissen schon vor der Kellertreppe in meinen Mund verschwunden ist. Manchmal, wenn die Brotbüchse leer ist, weil Opa selbst großen Hunger hatte, schenkt er mir kleine Pappkarten, die beschriftet und wie bei Fahrkarten der Eisenbahn an unterschiedlicher Stelle gelocht sind.
Das weiß ich deshalb so genau, weil ich mit Oma, Opa und Tante Hedel vor einiger Zeit nach Dresden gefahren bin. Da gab es diese Fahrkarten, die ich einstecken durfte und die jetzt zu meinem am meist gehüteten Schatz gehören. Die Fahrt war wunderschön gewesen.
Opa hatte zwei Tage Urlaub genommen und Tante Hedel eine ganze Woche. Oma hat ja immer frei, sie hatte alles geplant. Frühmorgens, es war noch dunkel gewesen, waren wir mit der Straßenbahn zur Zentralhaltestelle in der Stadt gefahren, dort umgestiegen in die, die uns zum Bahnhof brachte. Hier gingen wir zu einem langen Zug. Ich hatte selbstverständlich am Fenster sitzen dürfen und während der Fahrt hinaus in das Wunderland gestarrt, auf die Bäume, die Häuser und Flüsse, auf die Autos, die an Bahnübergängen warten mussten. Jedes noch so kleine Detail hatte ich lautstark mitteilen müssen, bis mir Oma ihre Hand vor den Mund gehalten und so meinen Mitteilungsdrang unterbrochen hatte. In Dresden war es sehr warm gewesen, wir waren als erstes in den Zoo gefahren. So viele Tiere, kleine und vor allem große, hatte ich noch nie gesehen. Ich lachte über die Affen, die sich so lustig bewegten. Und staunte über die Elefanten mit ihren riesigen Rüsseln. Wir beobachteten eine Mäusefamilie, die in einem richtigen Brot lebte, in das sie Löcher gefressen hatte, aus denen sie wie aus Fenstern herausschaute. Ich bekam sogar ein Eis spendiert von Opa und später noch eins von Tante Hedel, denn sie war sozusagen eine andere Familie, eine Ein-Personenfamilie, wie Oma mir mal gesagt hatte, als ich sie fragte, warum Tante Hedel immer ihr eigenes Essen kocht.
Nach dem Zoobesuch gingen wir zur Schiffanlegestelle an der Elbe. So ein riesiges Schiff mit so gewaltigen Rädern hatte ich noch nie gesehen. Mehrmals ging ich mit Opa zu den Rädern, die während der Fahrt das Wasser von einer Seite auf die andere schaufelten. Bis spät abends verbrachten wir auf dem riesigen Dampfer, aßen Kartoffelsalat mit Wiener Würstchen, Opa trank Bier, wir anderen nippten an leckerer Fassbrause, die rot war wie Himbeeren. Nachdem wir das Schiff verlassen hatten, wollte ich auf der Stelle einschlafen. Doch Oma sagte mir, dass es nur noch ein kurzer Weg zu dem Zimmer sei, in dem wir übernachten wollten. Also versuchte ich, wach zu bleiben. Ein Glück auch, denn sonst hätte ich die kleinen grünen Lichter, die um uns herum schwirrten, nicht gesehen. Glühwürmchen, erklärte mir Oma, die auch darüber staunte. Wir schliefen alle in einem Zimmer, Oma und Opa in einem Bett, Tante Hedel in dem schmalen Bett am Fenster und ich auf einem Feldbett, wie die Soldaten im Krieg sie nutzen, hatte Opa gemeint. Ich hatte mich zur Wand drehen müssen, damit ich nicht sah, wenn sie das Schlafzeug überstreiften. Das war auch nicht wichtig für mich. Außerdem hatte ich Tante Hedel und Opa beim Umziehen in der Gartenlaube gesehen, und Oma hatte auch schon nackt voller Seifenschaum in der Waschschüssel in der Küche gestanden, als ich die Küchentür geöffnet hatte. Wichtig war mir nur, in einem richtigen Feldbett zu liegen, das die Soldaten im Krieg benutzten, und schon war ich mittendrin im Gefecht.
… Ich höre den Donner der explodierenden Granaten, sehe die Lichtblitze um mich herum. Immer näher kommt die alles vernichtende Walze aus Feuer und Sturm. Ich spüre die Hitze auf der Haut, wie sie Besitz von mir ergreift. Erst meine schützende Kleidung und dann mich selbst entzündet. Der Orkan facht die Flammen weiter an, nährt sie mit Sauerstoff, der mir zum Atmen fehlt. Beißender Rauch füllt die Lunge, lässt mich qualvoll ersticken. Ich schlage um mich, versuche verzweifelt, das tödliche Gemisch aus Feuer und giftigem Qualm von mir abzuhalten. Meine Gegenwehr erlischt wie das Leben.
15. Kapitel
Als Susanne das Krankenhaus verlässt, fallen die ersten Regentropfen auf ihr Haar, bilden auf der Kleidung größer werdende dunkle Flecken. Sie hat beschlossen, nicht sofort nach Hause zu fahren, wo sie sowieso keiner erwartet. Sie wird ihre Tochter besuchen, die Frage klären, ob sie tatsächlich so gelitten hat, wie es Karl in seiner Analyse behauptete. Sie ist fest entschlossen, die dunklen Flecke der Ehe mit Karl aufzuarbeiten, auch auf die Gefahr hin, dass es ihr weh tut. Sie ist völlig durchnässt, als sie schließlich vor der Tür steht.
„Entschuldige, ich brauche jemanden zum Schwatzen. Mir fällt zu Hause die Decke auf den Kopf“, erklärt sie ihr unerwartetes Erscheinen.
„Komm rein, setz dich, oder zieh erst mal die nassen Sachen aus. Kannst dir von mir den Bademantel nehmen“, freut sich Veronika.
Nachdem alle Neuigkeiten ausgetauscht sind, Karls Gesundheitszustand betreffend, die Aussicht auf Besserung und die Themen Kinder, Arbeit, allgemeine Gesundheit erläutert, entsteht zwischen beiden eine Gesprächspause. Veronika weiß, dass ihre Mutter mit einem bestimmten Anliegen gekommen ist, sie spürt es in jeder Geste. Nur kann sie die Richtung, den Inhalt nicht deuten. Um die Kunstpause zu beenden, wagt sie sich vor.
„Schieß schon los. Wo klemmt der Schuh? Ich merke doch, dass dich etwas bedrückt. Komm, lass uns drüber reden“, bittet sie.
Eigentlich hätte Susanne nun doch lieber das Thema vermieden, aber sie sitzt in der Falle, jetzt gibt es kein Entrinnen mehr. Ihre Tochter ist wie sie, durchschauend, klar und geradezu, ohne Schnörkel, wenn es darum geht, eine Aussage zu treffen. „Ach, was soll’s“, denkt Susanne und ist im gleichen Moment auch froh, mit ihr darüber zu sprechen, was sie bereits begraben hatte. Sie versucht, die passenden Worte zu finden, holt weit aus, um dann über viele Ecken zu dem Eigentlichen, für sie sehr Unangenehmen zu kommen. Mittendrin, in ihrem Hin und Her, unterbricht sie Veronika.
„Jetzt eire nicht so rum, komm mal auf den Punkt. Ich verstehe nur eins, es betrifft uns, mich, Papa und dich.“
„Weißt du“, beginnt Susanne zögerlich, „ich habe eine Art Abschiedsbrief von Papa von 1989 zufällig in die Hände bekommen, als ich seinen Aktenordner durchgesehen habe. Da ging es auch um die Zeit in Dresden. Er schrieb, dass du sehr traurig warst und nicht verstanden hast, dass ich mich in Paul verliebt hatte und sogar die Ehe mit Papa aufgegeben hätte, wenn es nach mir gegangen wäre. Ich weiß, dass ich damals einen Fehler gemacht habe und hoffte immer, drüber hinweg zu sein. Aber nun ist alles wieder hochgekommen, zurückgekehrt aus meiner Vergangenheit. Ich habe dich nie nach deinen Gefühlen gefragt, habe nie erfahren wollen, was du empfunden hast. Ich möchte es gern heute hören, auch um zu wissen, was ich damals falsch gemacht habe. Bitte, hilf mir dabei. Erzähl mir, wie es dir ergangen ist“, appelliert Susanne, ringend, den Tränen nicht freien Lauf zu lassen.
„Na gut, wie du willst“, schreitet Veronika zur Tat, „aber zuvor hole ich uns einen Wein, damit es nicht zu trocken wird“, versucht sie die Situation, die ihr selbst unangenehm ist nach so langer Zeit, zu entkrampfen.
Mit zwei gefüllten Gläsern kommt sie aus der Küche zurück, übergibt eines an ihre Mutter und prostet ihr zu.
„Grundsätzlich“, beginnt Veronika, „weiß ich selbstverständlich, dass Papa kein Kostverächter war. Ich weiß auch, dass er dir seelisch sehr wehgetan hat mit seinem dauernden Fremdgehen. Aber darum geht es ja nicht. Ich habe mich als kleines Mädchen zu Hause sehr wohl gefühlt. Besonders die Kinder in der Umgebung und die im Kindergarten sind mir sehr wichtig gewesen. Heute verstehe ich, dass es vernünftiger war, mich mit nach Dresden zu nehmen. Papa hätte es nicht geschafft, alles unter einen Hut zu bekommen, auch wenn er es gewollt hätte. Sein unregelmäßiger Dienst, Bereitschaft rund um die Uhr und dann noch uns zwei Gören am Hals, das wäre nicht gut gegangen. Damals habe ich es allerdings nicht verstanden. Zum einen, dass du überhaupt nach Dresden gegangen bist und zum anderen, dass ich aus dem geliebten Kindergarten gerissen wurde. Das, das kannst du mir glauben, saß wie ein dicker Stachel in der Brust und hat richtig wehgetan. Von alledem hast du nichts mitbekommen. Voller Elan hast du in Dresden losgelegt mit deinem Studium, hast dich bemüht,