Mörderische Bilanz. Christopher Stahl

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Mörderische Bilanz - Christopher Stahl


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in Mainz. Es geht um unser Leistungsbeurteilungssystem. Sie soll Kriterien zur Überarbeitung der Beurteilungsmerkmale zusammenstellen. Dazu recherchiert sie zurzeit bei uns.”

      „Genügt denn für eine Beurteilung nicht die Aufklärungsquote und die Schnelligkeit, mit der ihr eure Fälle löst?”

      „Damit ich dann arbeitslos werde?”, schaltete sich Dagmar Keller ein, lachte aber dabei.

      „Sehen Sie, Herr Schäfer, es geht doch nicht nur um die Kollegen von der Schutz- oder der Kriminalpolizei. Es gibt so viele Innendienststellen, die ebenfalls in dieses Beurteilungssystem eingebunden sind. Und wir versuchen, ein einheitliches System zu gewährleisten, um keine Ungerechtigkeiten aufkommen zu lassen.”

      „Darius”, seufzte Heribert, „sei doch nicht so blauäugig. Du erzählst mir doch auch immer, was sich bei euch so abspielt. Gestern schon wissen müssen, was morgen bereits ungültig sein wird, um heute die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Ich dachte auch immer, es geht darum, dass ich schnell und zuverlässig Aufklärung betreibe. Aber nicht nur in der großen Politik, auch bei uns wird dauernd eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Dabei haben wir in der Kriminalitätsbekämpfung einen Höchststand bei der Aufklärungsquote – fast 60 Prozent. Und das bei inzwischen jährlich rund 300 000 Straftaten.”

      Heribert war nun in seinem Element. Obwohl dieses Thema wohl kaum etwas damit zu tun haben konnte, weshalb ich nach Alzey gefahren war, ließ ich ihn ausreden. Auch Dagmar Keller hielt sich erstaunlich bedeckt. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich in ihrem tiefsten Inneren mit Heribert solidarisch fühlte.

      Er war inzwischen aufgestanden und an eines der Fens­ter hinter seinem Schreibtisch getreten, die auf den benachbarten Schulhof hinausgingen. Er drehte uns den Rücken zu und schwieg für einen Moment. Während ich ihn dabei beobachtete, schweifte ich kurz mit den Gedanken ab.

      Was hatten wir in der kurzen Zeit unserer Freundschaft schon alles erlebt und dabei bewiesen, dass wir uns in jeder Beziehung blind aufeinander verlassen konnten. Vielleicht verbanden uns ja die vielen Gemeinsamkeiten, die wir hatten. Beide waren wir nach langjährigen Ehen geschieden, weil wir unsere Frauen hinter den Beruf gestellt hatten. Wir hatten ähnlich gelagerte Interessen und Wertvorstellungen, die manche boshaft als „antiquiert” bezeichneten. Wir mochten und verabscheuten die gleichen Dinge und liebten provokative, jedoch nicht verletzende Streitgespräche. Hin und wieder gönnten wir es uns auch, entgegen unserer beruflich gebotenen und altersgemäßen Seriosität, während der unmöglichsten Situationen herumzualbern wie kleine Jungs. Dennoch wirkten wir dabei, glaube ich, durchaus nicht wie die Komikerpärchen Pat und Patachon oder Dick und Doof. Zumindest nicht, was unsere äußere Erscheinung betraf. Die ehemals volle, inzwischen ergraute, Haarpracht, die wir beide als Jugendliche zur „Elvisfrisur” gestylt hatten (wie alte Fotos unwiderlegbar bewiesen), lichtete sich zusehends.

      Heribert war mit seiner Länge von 1,95 Meter nur knapp fünf Zentimeter größer als ich und etwas schlanker, obwohl er in der letzten Zeit etwas zugelegt hatte. Das lag nach seinem Bekunden an den Kochkünsten von Monika Ballmann, seiner neuen Liebe, wie er sagte. Seit ein paar Monaten schwebte er auf „Wolke Sieben”. Er hatte sie im Urlaub kennen gelernt und sie hatte die Chance genutzt, als ihr zufällig innerhalb der Hotelkette, in der sie beschäf­tigt war, angeboten wurde, sich von Düsseldorf nach Frankfurt versetzen zu lassen. Und nun sahen und bekochten sich die beiden jede freie Minute.

      Vielleicht gründete unsere Freundschaft aber auch auf der Tatsache, dass wir beide es als Glückstreffer betrachteten, in unserem Alter – er Anfang und ich Mitte 50 – noch einmal die Chance bekommen zu haben, eine derart kameradschaftliche Beziehung aufzubauen.

      „Da”, sagte Heribert und riss mich aus meiner Betrachtung. Auch Dagmar Keller zuckte zusammen. Sie war offenbar ebenfalls mit ihren eigenen Gedanken spazieren gegangen. „Schaut euch die Kids dort an. Um die geht es! Da steckt unsere Zukunft und da liegt die Entscheidung zwischen sozialem Frieden oder Krieg.”

      Er deutete nach unten, auf den Schulhof und drehte sich dann wieder zu uns um. „Da lernen oder verweigern sich junge Menschen. Sie tragen auf jede nur erdenkliche Art ihre Konflikte mit sich und mit anderen aus. Sie versuchen sich zu orientieren, finden ihren Weg oder werden verführt und enttäuscht. Da müssen wir Prophylaxe betreiben! Dort müssen wir präsent sein, dann klappt es. Hier …”, er nahm das Dokument vom Tisch, in das er und seine Kollegin so versunken gewesen waren, als ich das Büro betreten hatte. Wie ein Werbefähnchen von McDonalds schwenkte er es durch die Luft. „Da kannst du es schwarz auf weiß lesen. Unsere Kriminalstatistik beweist eindeutig, dass sich die Art der Straftaten beängstigend verschoben hat. Waren- und Warenkreditbetrug, Fälschungsdelikte, Kinderpornografie im Internet, Wohnungseinbrüche haben zugenommen. Das Aggressionspotenzial ist gewachsen. Gewaltdelikte, also gefährliche und schwere Körperverletzung, sind auf circa 10 000 Fälle angestiegen.”

      Er ereiferte sich, als ob es darum ginge, uns für eineDemonstrationsveranstaltung zu gewinnen. „Und nicht zu vergessen: Rauschgiftdelikte. Die sind um ca. 2 000 auf rund 17 500 Fälle angestiegen. Und …”

      Ich unterbrach ihn. „Heribert, hast du mich deshalb nach Alzey kommen lassen? Das hättest du mir auch per Fax schicken können.”

      Er war so in Fahrt, dass ich ihn mit meiner Bemerkung nur kurz abbremsen konnte. Dagmar Keller legte ihre Hand auf meinen Arm, als wollte sie sagen: Lassen Sie ihn, er braucht das. Er muss ein wenig Dampf ablassen, um den Kopf frei zu bekommen.

      „Natürlich ist das nicht der Grund. Aber auch das beschäftigt mich. Überleg doch mal, Darius, wir hätten es in der Hand, etwas zu ändern. Wenn nur unsere Steuergelder mehr in Ausbildung, in Jugendarbeit, in Streetworker und in polizeiliche Vorbeugungsmaßnahmen investiert werden würden!”

      „Hör mal, ich bin Steuerberater und nicht Steuerverteiler”, versuchte ich noch einmal, ihn zu bremsen. Sinnlos. Sag dem Sturm, er soll nicht toben.

      „Es gibt ja bereits greifbare Ergebnisse. Die Polizeipräsidien haben mehr als 30 operative Einheiten an Brennpunkten der Straßenkriminalität eingesetzt. Und was glaubst du wohl war das Ergebnis?” Wollte er wirklich eine Antwort von mir?

      Nein, die wollte er selbst geben, doch Dagmar Keller kam ihm zuvor: „Dort wo Zivilfahnder und die Kollegen vom Streifendienst präsent sind, funktioniert die Brandverhütung hervorragend.”

      „Die Straßenkriminalität”, nahm Heribert wieder den Faden auf, „ist um mehr als 2 500 Straftaten zurückgegangen. Alleine die Sachbeschädigungen sind um mehr als 1 600 Delikte rückläufig, Kapitaldelikte, also Mord, Raub,Vergewaltigungen – rückläufig, sexuelle Nötigungen, Bedrohung mit und Einsatz von Schusswaffen – rückläufig. Aber das sind doch nur ein paar Tropfen auf immer mehr werdende heiße Steine.”

      Endlich schien seine Tirade beendet. Heribert setzte sich wieder, schloss die Augen und verharrte für einen Moment, wie ein Schauspieler, der auf seinen wohlverdienten Applaus wartet.

      „Heribert, bitte, du sagtest, du benötigst meine Hilfe wegen eines Kollegen auf La Palma. Ich weiß bis jetzt noch nicht, um was es geht. Aber …” und jetzt klopfte ich mit der flachen Hand mehrmals auf seinen Schreibtisch, um den nächsten Satz zu unterstreichen, „ich habe auch etwas für dich. Vor vier Tagen erhielt ich einen merkwürdigen Anruf. So, wie es scheint, von einem Berufskollegen von den Kanaren.”

      Ich dachte, dass Heribert nun endlich zur Sache kommen würde, jedoch schien er es irgendwie darauf angelegt zu haben, mich zur Verzweiflung zu bringen. Offensichtlich hatte er mir überhaupt nicht zugehört und setzte nach der kurzen Verschnaufpause zu einem neuen Wortschwall an.

      „Wie schon gesagt, wir hätten es in der Hand. Aber was machen wir? Wir vergeuden die für unsere Zukunft notwendige Zeit in Rückwärtsbetrachtungen. Nach dem Motto: ‚Wer kriecht seinem Chef am weitesten in den Allerwertesten‘. Da, lies!”

      Mit einem schiefen Seitenblick auf seine Kollegin reichte er mir ein Papierknäuel, das er zuvor aus seinem Papierkorb gefischt hatte, entzog es mir aber sofort wieder mit der Bemerkung: „Gib her, ich lese es dir vor, damit du siehst, womit Dagmar und ich, wie auch all die anderen Kolleginnen


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