Drei Dekaden. Hermann Ritter
Читать онлайн книгу.ihr habe ich eine Reihe von Zielen entwickelt, die ich erreichen wollte. Die Wahl meines Berufs oder meiner Berufung in der letzten Weihe hing also davon ab, was ich eigentlich wollte. Wieder war es mein Wollen, das mein Handeln bestimmen sollte.
Was wollte ich? Ich wollte eine Ruhe in Gott finden. Außerdem wollte ich mein Leben in der Zeit anders empfinden – im Jahreskreis, gebunden an die Entwicklung der Welt, der Natur. Ich wollte die Ausbildung als einen Lernprozess begreifen, in dem es nicht darum ging, einen Rang zu erlangen, sondern um eine Art Aufgabeninitation. Und als letztes wollte ich die Aufgabe abarbeiten, die mir meine Lehrerin ganz zu Anfang gestellt hatte – die Aufgabe der Charakterbildung. Ich war in den Jahren bis dahin durch die Ausbildung ein anderer geworden und ich wollte jetzt anfangen, etwas aktiver an der Gestaltung dieses anderen Selbst mitzuwirken.
Etwas über mein Leben in der Zeit kann ich zum Besten geben, ohne zu viel über mich und meine Seele zu verraten. Es war gerade die andere Zeit, die natürliche Zeit des Heidnischen, die mich begeistert hat. Im Heidentum – so wie ich es kennen gelernt habe – ist man eingebunden in größere Bezüge, die einem das Leben strukturieren und überleben helfen. Natürlich bietet eine natürliche Ordnung auch Sicherheit, in dem sie Strukturen schafft und Anleitung gibt. Mir ist das klar; damals war es mir auch klar, aber ich habe trotzdem den engen Rahmen des Mythos gesucht, weil er mir half, anderen Dingen zu entkommen.
Der heidnische Jahreslauf orientiert sich primär an den Vollmonden. Das Jahr hat 13 Vollmonde, die einem helfen, den Kreis der Jahreszeiten zu strukturieren. Weitere wichtige Eckpunkte dieses Jahreskreises sind Winter- und Sommersonnenwende sowie die beiden Tag- und Nachtgleichen. Eigentlich ist es egal, wie man die Feste nennt – bekannte Namen sind Yul, Ostara, Beltaine und Samhain, aber die Feste könnten genauso Rollepöng, Epsol, Flekkna und Schrumbiegel heißen. Wichtig ist, dass man sich durch sie sowohl in den Jahresablauf als auch in einen historischen Kontext eingebunden fühlt, der einem glaubhaft vermitteln kann, dass man über Generationen und Leben hinweg in einer Gemeinschaft steht, die dem Leben Sinn vermittelt.
Dazu kommen die Regeln des Ritus, die weiterhin helfen, die Arbeit mit den Energien zu strukturieren. Während die Zeit am Mond verortet ist, ist der Ort an die Himmelsrichtungen gebunden. Den vier Himmelsrichtungen werden Elemente zugeordnet – von Osten aus im Uhrzeigersinn Luft, Feuer, Wasser und Erde. Und auch die Zeit findet ihren Niederschlag im Räumlichen: Den Himmelsrichtungen sind in derselben Reihenfolge von Osten aus Kleinkind/Kind, junge Frau/junger Mann, Mutter/Vater und Greisin/Greis bzw. die Toten zugeordnet. Der Raum ist nicht länger von der Zeit getrennt und unsere Positionierung beim Ritual war auch immer ein Standpunkt in der Zeit.
Das Ritual eröffnet durch seine Bindung an den Jahreslauf und dessen Bindung an eine heidnische Religion, welche die Schöpfung in einen Sinn einbettete, eine Möglichkeit, Teil einer größeren Wirklichkeit zu werden, die unsere Realität wie schützende Hände umfing. Alleine für dieses Gefühl des geborgen seins, des verstanden seins war es sinnvoll, die ganzen Jahre auf mich zu nehmen.
c. … und Flamme
Die Flamme des Wissens wird ewig in uns weiterleben.
Der Coven hatte eine Geschichte. So war es nicht verwunderlich, dass sich bestimmte Rahmenbedingungen – genährt sowohl aus der Tradition der Wicca als auch aus eigenen Überlegungen meiner Lehrerin (die diese wiederum aus Mythen und der Fantasy-Literatur speiste) – in Form von Traditionen eingeschlichen hatten.
Dies waren z.B. bestimmte Geräte mit klarer ritueller Bedeutung – die Schale für die Salz-Wasser-Reinigung, der Hausaltar mit seinem ewigen Licht, das Räucherwerk, das Messer, aber auch die Kleidung. Wie auf Bildern von Romantikern des frühen 19. Jahrhunderts hüllten wir uns in farbige Kutten, die eher aussahen wie die Requisiten der Eloi in Die Zeitmaschine denn wie heidnische Kleidungsstücke. Warum kann ein Heide im 21. Jahrhundert nicht Kleidung tragen, die zu seiner Zeit und seiner Umwelt passt?
Da waren aber auch die Handlungen, die sich eingeschliffen hatten, ohne hinterfragt zu werden. Während die Aufstellung in den vier Himmelsrichtungen (s.o.) noch Sinn machte, gab es andere Handlungen (z.B. bestimmte Formen, den Kreis zu schützen, oder einen Schirm um die Teilnehmer zu errichten), die darunter litten, dass ihre Bedeutung nicht genügend kommuniziert wurde. Es mag sein, dass mir ein mystischer Schirm hilft, auch wenn ich nicht davon unterrichtet worden bin, dass er errichtet wurde – lieber ist es mir trotzdem, wenn ich Bescheid weiß. Angenehm fand ich die Angewohnheit, die letzten 24 Stunden vor einem Hochfest kein Fleisch zu essen. Ich fühlte mich dadurch leichter, energievoller als mit Fleisch im Magen. Dafür gab es dann nach dem Ritual – „wegen des Energieverlusts“ – Schlachtplatten voller Fleisch zu essen. Aber heute muss ich sagen, dass hinter diesem Aufbau des Rituals eine bestimmte Weisheit steckte.
Mehr Schwierigkeiten hatte ich mit den Glaubenselementen, die einfach vorgegeben wurden, ohne dass man sie hinterfragen durfte. Dazu gehörte nicht nur die unsägliche Rückbesinnung auf Atlantis (nein, ich habe das jetzt nicht erfunden), sondern auch der Rückgriff auf die mythische Klamottenkiste: Die Reinkarnation. Mehr als einmal durfte ich erleben, dass Mitglieder unseres Covens sowohl nach innen (zu Mitgliedern des Covens) als auch nach außen (zu anderen Heiden) die These vertraten, man würde sich aus früheren Leben kennen. Dies sollte gleich eine besondere Bindung herstellen. Diesen Effekt hat es in den wenigsten Fällen nicht gehabt; die meisten Menschen fühlen sich gelobt, wenn sie erfahren, dass sie in einem früheren Leben auch eine wichtige Person waren und mit dem Funktionsträger des Covens in irgendeiner Art und Weise verbunden waren (beliebte Ansätze: Geschwister, Geliebter, Magier-Kollege). Ich glaube heute, dass man diese Bindungen eher psychologisch als religiös deuten sollte.
Aber es gilt weiterhin, dass die Existenz von Riten und Formen für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft wichtig ist. Die Regeln sorgen für eine Sicherheit im Ritus, für ein Gemeinschaftsgefühl bei den Feiern.
d. Hitze und Energie
Magie ist das Gespür für und das Erkennen von Energien, die dieses Universum schufen und im Gang halten.
Ich habe nicht wirklich zaubern gelernt. Es tut mir leid, wenn ich das zugeben muss. Bis heute77 kann ich keine Krankheiten heilen, keine Kaffeemaschinen reparieren oder Dämonen austreiben. Anders ist die Frage, ob ich Situationen zulassen kann, in denen solche Dinge – die wir eigentlich als unnatürlich oder übernatürlich bezeichnen würden – geschehen können. Viel wichtiger als der Einsatz einer aus einem selbst kommenden Gabe ist die Fähigkeit, die Umgebung (das setting) davon zu überzeugen, dass gewisse, den üblichen Gesetzen der Realität widersprechende Dinge zugelassen werden können.
Der Magier ändert nichts am Gegenstand, den er verzaubern will – er ändert etwas an der Welt, die den Gegenstand umgibt und verändert somit den Gegenstand und sein Verhältnis zur Welt.
Anfangs, in den ersten Jahren meiner Ausbildung, war es gerade die duale Ausrichtung des Glaubens, die mir Halt verschaffte. Hier waren die Dinge einfach und locker in ein Schwarz-Weiß-Schema zu pressen. Es gab die Gottheit, die eins war, und trotzdem geteilt in ein männliches und ein weibliches Prinzip. Es gab Hell und Dunkel, Gut und Böse, Kalt und Warm, Göttin und Gott. Aber umso mehr ich mich mit der Frage beschäftigte, was hinter den Dingen liegt, die ich beobachten kann, desto mehr wurde mir klar, dass diese Dualität eigentlich nicht besteht. Alles ist eins, ist miteinander verbunden. Nicht immer kann ich die Verbindungslinien sehen, aber sie sind vorhanden – wenn auch getarnt oder versteckt oder schwer zu sehen. Manchmal ist die Zahl der Verbindungen so hoch, dass ihnen mein begrenzter Verstand nicht folgen kann. Aber die Verbindungen sind trotzdem vorhanden.
Der Dualismus ist ein künstlicher Dualismus, weil er trennt, wo Dinge eigentlich verbunden sind, und verbindet, wo Dinge eigentlich getrennt sind. Die Welt ist nicht in Dichotomien einteilbar; die Welt ist vielschichtiger, als wir es begreifen können. Der Dualismus hilft, die Extreme zu erkennen. Aber man muss den Dualismus transzendieren, um die Extreme aufheben zu können.
e. Asche