Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy

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Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy


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war froh, nicht ihn befragen zu müssen, denn sie konnte sich inzwischen gut vorstellen, wie er ihre Befragung durchkreuzen würde. Er hatte ihre Neugier in den letzten Monaten hinreichend gewetzt. »Ich bin politisch nicht so naiv, wie Sie annehmen –«

      »Setzen Sie sich darüber mit mir auseinander, aber beweisen Sie es nicht den Zielpersonen. Die brauchen es, sich in ihrem Wissen ein wenig überlegen zu fühlen. Diese Menschen sind Flüchtlinge, müssen Sie bedenken, verloren in einem fremden Land und aus einem gesellschaftlichen Netz gerissen, das sie verstanden oder zu verstehen meinten. Nichts bedeutet hier das Gleiche. Nichts wird auf die gleiche Art getan. Sie sind wieder Kinder. Gestatten Sie ihnen, Sie ein wenig zum Kind zu machen, während Sie die Befragung steuern – kein dummes Kind, sondern ein aufgeschlossenes, aufgewecktes, aber naives Kind, das verstehen möchte.«

      So sieht er mich, dachte sie, und war plötzlich von kalter Wut gepackt. »Professor Kahan, warum verlangen Sie von mir, dass ich so viele Fragen stelle nach der Straße, in der sie gewohnt haben, nach der Schule, die sie besucht haben, nach den genauen Anschriften, den Namen der Friedhöfe, wo ihre Eltern begraben liegen, all dem?«

      Er beugte sich mit warmem, verschwörerischem Lächeln über den Schreibtisch. »Und was meinen Sie, warum wir diese Fragen stellen, Miss Scott?«

      »Eine Möglichkeit wäre, dass Sie meinen, wenn die Menschen sich präzise, konkrete Einzelheiten ihrer Vergangenheit ins Gedächtnis rufen, dann werden auch die anderen Angaben präziser sein?«

      »Na bitte. Sie haben doch Ihre eigene Antwort.«

      »Wenn ich meine, zwei und zwei sind fünf, dann habe ich auch meine eigene Antwort.«

      »Aber wir haben es mit dem Subjektiven zu tun und wollen sowohl dem Befragten als auch dem Fragesteller die Befangenheit nehmen, nicht wahr?«

      Sie versuchte sich an einer Nachahmung seiner gerunzelten Stirn und seines fragenden Lächelns. »So?« Sie wartete, doch er verlegte sich ebenfalls darauf, als wartete er auf eine Erläuterung. Er war doch recht raffiniert, ihr Professor, was sie überraschte, denn ihr erster Eindruck war der eines offenen, neugierigen, warmen und ganz unbefangenen Mannes gewesen. Das alles mochte er sein, und gleichzeitig war er ungemein verschlossen. Sie überlegte, ob er bei den Frauen, denen er nahe stand, offener war – wer diese Frau oder diese Frauen nun auch sein mochten. »Ich habe noch eine Frage. Mir fällt auf, dass wir den deutschen politischen Flüchtlingen eine Reihe von Fragen über die Wirtschaftslage in Deutschland stellen, die wir unseren jüdischen Flüchtlingen nicht vorlegen. Warum?«

      »Wir gehen davon aus, dass die Lebensbedingungen für die Juden deutlich anders sind als für den Rest der Bevölkerung und dass wir von den Juden wenig über die deutsche Wirtschaft erfahren können, da sie zwangsweise davon ausgeschlossen werden. Wir können von einem Juden nicht erfahren, ob Butter knapp ist.«

      »Professor Kahan, wenn wir ein politologisches Forschungsprojekt über die Interdependenzen und internen Strukturen deutscher politischer Gruppierungen in den dreißiger Jahren durchführen, warum ist uns dann wichtig, ob zurzeit in Deutschland die Butter knapp ist? Und bitte fragen Sie mich diesmal nicht, was ich denke.«

      »Macht Ihnen die Arbeit Spaß?«

      »Meinen Sie, wenn mir die Arbeit Spaß macht, sollte ich nicht so viele Fragen stellen?«

      »Ich meine, macht Ihnen die Arbeit Spaß?«

      »Ja.«

      »Gut.« Er strahlte sie an. »Haben Sie die Frage der Butterknappheit in Ihrem Freundeskreis angesprochen?«

      »Nein.«

      »Warum nicht, wenn Ihnen das Rätsel aufgibt?«

      »Das geht niemand anderen etwas an. Das ist einfach eine von den Fragen, die auftauchen und die ich dann zurückstelle, um sie Ihnen vorzulegen.«

      »Weil Sie eine Vorstellung von der Antwort haben?«

      »Zu vage, um zu taugen.«

      »Belassen Sie es eine Weile dabei.«

      »Eine Weile?«

      Er stand auf, zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war. »Eines, was Sie heute deutlich gemacht haben, ist, dass Sie keineswegs eine schlechte Beobachterin sind und dass Sie mich noch dazu bringen werden, meine Äußerungen über Ihre Naivität reumütig zurückzunehmen. Was die Umfrage als Gegenstand Ihrer Doktorarbeit anbelangt, so sollten Sie noch in dieser Woche darüber mit Blumenthal sprechen. Es kann nicht schaden, die Prozedur ein wenig zu beschleunigen. Wir werden die Befragungen stark redigieren müssen, bevor Sie sie für Ihre Doktorarbeit einsetzen können, aber das wäre kein Problem. Trotzdem, halten Sie sich ran. Beenden Sie Ihre Doktorarbeit, so schnell Sie können, das ist für heute mein letzter Ratschlag.«

      Mit zwanzig weiteren Fragen im Gepäck aus seinem Büro entlassen, ging Abra durch den Aprilregen nach Hause und grübelte, was dieser Ratschlag zu bedeuten hatte. Er drängte sie, sich mit ihrer Doktorarbeit zu beeilen, aber wieso? Lief das Projekt bald aus? Aber dann blieben ihr immer noch die Umfrageergebnisse. Ging er fort? Er hatte an der Columbia keinen festen Lehrstuhl. Meldete er sich zu den Waffen? Dafür kam sein Jahrgang doch gar nicht mehr in Betracht. Dennoch spürte sie, dass sie seinen Rat ernst nehmen und ihr gesellschaftliches Leben rigoros zusammenstutzen sollte. Sie seufzte. Wenn ihm erst klar wurde, wie wenig ihr der Doktortitel bedeutete, würde er wahrscheinlich die Achtung verlieren und sie als Assistentin ablösen lassen, denn der Doktortitel war mehr die Ausrede für ihr interessantes Leben als das angestrebte Endprodukt. Sie hatte die Absicht gehabt, ihre Doktorarbeit über Jahre hinzuziehen.

      Normalerweise lief Abra neugierig durch die Straßen von New York, beobachtete unablässig das bunte Treiben, um sich bloß keine Begebenheit, keine Feinheit entgehen zu lassen. Heute stapfte sie durch die Pfützen und hatte das Kinn in ihrem Trenchcoat vergraben. Ja, sie wollte ihrem Instinkt folgen, wollte jeden Schritt tun, den er empfahl, und sich wie wild auf ihren Abschluss stürzen, und sei es aus keinem besseren Grund, als dass Kahan es ihr geraten hatte, denn sie war überzeugt, er würde zu ihrem eigentlichen Mentor werden.

      Die meisten Männer, die sie kannte, gingen sowieso zum Militär. Ihr blieb eh nur übrig, diesen verdammten Doktor zu machen. Wenigstens waren die Befragungen interessant.

      Acht Tage später geschah es, dass die Frau, die sie befragte, Marlitt Becker Speyer kannte. Mrs. Hirsch hatte kaum Verbindung zu irgendwelchen Parteigruppierungen und wenig Interesse an Politik. Der einzig interessante Teil der Befragung kam gegen Ende, als sie von Marlitt erzählte. Sie hatte Marlitt von Kind auf gekannt, da sie für deren Mutter gearbeitet hatte; Jahre später hatte Marlitt sie als Näherin in ihrem Modesalon beschäftigt. Gegen Ende, sagte sie, schwanden die Klassenschranken, als die Juden in Ghettos gepfercht und gezwungen wurden, zu zehnt oder zwölft in einer kleinen Wohnung zu hausen, und systematisch in die Armut getrieben wurden. Marlitt arbeitete fast bis zum Ende weiter, weil die Nazis ihre Modelle wollten, obwohl sie sie dann mit anderen Etiketten versahen, um ihre Herkunft zu vertuschen, und Marlitt hatte ihr eigenes Personal behalten.

      Mrs. Hirsch war fünfzig, eine ausgemergelte Frau mit weißen Haaren, die sie um den Kopf geflochten trug, mit kurzsichtigen Augen in der Farbe von dünnem Tee hinter dicken Brillengläsern und der Angewohnheit, sich vorzubeugen, um zu hören, obwohl ihr Gehör gut zu sein schien. Sie führten die Befragung in Deutsch durch. Abra machte sich in ihrer üblichen Mixtur aus Deutsch und Englisch Notizen. Mrs. Hirsch berichtete, kurz nachdem Marlitt vom Tod ihres Mannes erfahren hatte und nicht einmal die Herausgabe seines Leichnams beantragen durfte, war ihr einziges Kind, ein Junge von vier Jahren, erkrankt.

      Es war eins dieser jäh einsetzenden Fieber, wie sie kleine Kinder bekommen und wo die Temperatur hoch und höher schießt. Er fieberte immer stärker, bis er alle fünfzehn Minuten Durchfall hatte. Dann begann er, Blut zu erbrechen. Er war in einem jämmerlichen Zustand. Juden durften nicht mehr in reguläre Krankenhäuser, und das einzige jüdische Krankenhaus war bis zum Bersten überfüllt. Ein Arzt, der keine Medikamente mehr verschreiben durfte, kam, aber er brachte das Fieber nicht herunter, und während die Familie sich hilflos um ihn scharte, hielt Marlitt ihren Sohn in seinem Leiden und seinen Krämpfen. Der Junge quälte sich zwei Tage


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