Er, Sie und Es. Marge Piercy

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Er, Sie und Es - Marge Piercy


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gefoltert zu werden, ein Weg, der einem polemischen, scharfzüngigen Rabbi stets offen steht.

      Als eine, die selbst seit zwei Jahren an einem Geheimprojekt mitwirkt, identifiziere ich mich mit seinen Bedenken. Zu jedem Augenblick der Geschichte sind gewisse Richtungen, die dem forschenden Geist und der experimentierenden Hand offen stehen, verboten. Nicht immer ist das Wissen verboten, weil gefährlich: Regierungen geben ohne weiteres Milliarden für Waffen aus und verbieten kleinen Sekten das Peyote ihrer Ekstase. Was uns zu wissen verboten ist, kann – auch scheinbar – das sein, was uns zu wissen am meisten nottut.

      Überdies reißt ein Mensch, der ein anderes menschliches Wesen erschafft, die Macht des ha-schem an sich. Er riskiert eine erschreckende Selbstverherrlichung. Er erhöht sich selbst über das Menschliche. Das ist gefährlich für die Seele, gefährlich für die Welt. Sobald Menschengeist eine Möglichkeit ersinnt, will er das Mögliche verwirklichen. Er will tun, ganz gleich, um welchen Preis. Der Maharal ahnt und weiß um menschliche Schwäche. Er schläft nicht und trinkt kaum ein wenig Wasser. Er kann nicht entscheiden, worin der wahre Weg liegt: Kommt seine Vision von ha-schem oder von seinem eigenen Ich, seinem Verlangen, sich als gelehrt zu erweisen, als heilig, als ebenso mächtig wie die Rabbis vor ihm, die Golems erschufen?

      Der Maharal ringt eine ganze Woche lang mit sich, ob die Vision, die ihm kam, eine Versuchung ist oder ein wahres Gebot, eine wahre mizwa, die ausgeführt werden muss. Er schwankt. Noch nie zuvor hat in ihm so fiebrige Unentschlossenheit gebrannt. Er hat Angst zu handeln. Er findet immer wieder Gründe, sich seine Skepsis zu bewahren.

      Einmal vor Jahren traf ich meine Tochter Riva heimlich in den Tiefen des Glop, diesem vollgestopften, stinkenden Slum, in dem die meisten Menschen leben. Damals, wir kauerten in einem Speicher voll zerborstener und verschrotteter Maschinen, sprach sie zu mir über die Versuchung der Gefahr: wie manchmal die nahezu gänzliche Unmöglichkeit der Durchführung einer Aktion sie unwiderstehlich macht. Sie muss es tun, weil man es nicht tun kann, weil es nicht nur verboten ist, sondern darüber hinaus als undurchführbar gilt. Zu der Zeit begann sie, von der reinen Datenpiraterie zu etwas Politischerem überzugehen, zu etwas noch Gefährlicherem. Da begann sie ihren Kreuzzug, Information von den Multis zu befreien. Der Maharal, er liegt wach, wie ich wachliege, hat Angst vor dem Heilmittel, für dessen Herbeischaffung er sein Leben wagen müsste, so wie er Angst hat vor der wachsenden Gefahr für die, die in seiner Obhut leben. Er kann sich nicht entscheiden, er liegt reglos vor der Nacht und dem Kommenden, er wartet auf ein weiteres Zeichen.

      4

Shira

      Durch das brennende Labyrinth

      Am Tag der Aprilscherze mischte sich Shira, deren rückenfreie Dienstkluft hier auffiel, unter die hunderttausend Tagelöhner, die den Untergrundzug nach Osten nahmen. Die zwölf Rolltreppen zur U-Bahnstation lagen unmittelbar außerhalb des Kuppeldoms, und der Gluthauch der Fünf-Uhr-Hitze legte sich mit sengender Last auf sie. Ihr Anzug war weiß, da sie offiziell von Y-S Abschied nahm. Die einfahrenden Arbeiter standen in der immer noch gefährlichen Nachmittagssonne Schlange, um nach dem Scannen ihrer Handflächen in den Kuppeldom eingelassen zu werden, aber wer rauswollte, musste sich nicht scannen lassen. Wenn sich jemand aus der Sicherheit hinaus in die Hölle begeben wollte, war das seine Sache. Niemand würde sich zu Fuß davonmachen in die Wüste von Nebraska.

      Shira nahm die U-Bahn quer durchs Land, ihr Waggon war heiß und überfüllt. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Gepäck irgendwann ankam, die Wahrscheinlichkeit, dass Diebe es unterwegs abgriffen, war eigentlich größer. Ihre Hände umklammerten den Gurt, der sie an ihrem Platz hielt. Der Waggon war fensterlos, da es untertage absolut nichts zu sehen gab. Sie fuhr zwei Stunden, bevor sie in Chicago Quartier nahm; sie verbrachte die Nacht in der U-Bahnstation, eingeschlossen in eine Kapsel von 1,80 mal 2,40, denn nach Einbruch der Dunkelheit würde sie nie und nimmer sicher durch den Glop gelangen.

      Am nächsten Morgen hatte sie noch zwei Stunden bis Boston. Sie mochte gar nicht an Ari denken, mit seinem Vater auf dieser Plattform zwischen Erde und Mond. Weinte er? Fragte er sich immer noch, wo sie blieb, warum sie nicht gekommen war, ob sie je kommen würde? Sie fühlte sich in Stücke gerissen. Würde Josh auf erste Anzeichen einer Mittelohrentzündung achten? Sie hatte versucht, auf Pazifika anzurufen, aber Josh hatte die Verbindung nicht angenommen.

      Sie hatte keine Ahnung, wie es sein würde, mit Avram zu arbeiten, sie hatte keine Ahnung, wie es sein würde, heimzukehren und wieder bei ihrer Großmutter zu leben. Sie war mit siebzehn von zu Hause weggegangen und seitdem nie länger als eine Woche dort gewesen. Bei diesen Besuchen beförderte ein Schwirrer sie aus der Konzern-Enklave in die freie Stadt, in gut einer Stunde aus der totalen Festungssicherheit in den zerbrechlichen Frieden, ohne durch den maßlos überbevölkerten Glop zu müssen. Jetzt fühlte sich ihr Leben an wie ein Kristallgebilde, das in gleißende, gefährliche Splitter zersprungen war und sie blutend zurückließ. Alles, wofür sie gearbeitet hatte, alles, was sie mit ihrem ganzen manchmal überbordenden Elan geschaffen oder erhalten hatte – ihre Ehe, Ari, ihre Arbeit –, war zerstört oder ihr geraubt worden. Im Zug herrschten an die vierzig Grad. Sie rang nach Atem in der schlechten Luft.

      Erschöpft und von Sauerstoffmangel gepeinigt stolperte sie aus der U-Bahn. Ihr Kreuz tat weh und ihre Nebenhöhlen brannten. Sie hatte Kopfschmerzen, als habe ihr Gehirn sich Blasen gelaufen. Doch jetzt war sie im Glop und hatte keine Zeit, sich um Wehwehchen zu kümmern, wollte sie unversehrt und am Leben bleiben. Über ihren rückenfreien Dienstanzug zog sie den dünnen schwarzen Überwurf, den fast alle Frauen und alte Leute und viele Männer auf den Straßen trugen. Er verdeckte Alter, Rang, Geschlecht und ließ alle nahezu gleich groß aussehen. Während ihrer Jahre bei Y-S hatte sie ihn nicht getragen, in den Multi-Enklaven gab es keine Gangs. Sie zog die Handschuhe aus Metallmaschen über die Hände, obwohl ihr klar war, dass sie damit höchstens den einen oder anderen Messerschlitzer abschreckte und dass jeder richtige Handhacker das Schutzgewebe ohne weiteres durchlasern konnte. Hätte sie sich ein Schild umhängen können, das anzeigte, wie niedrig ihr Kredit stand, sie wäre in Sicherheit gewesen. Ihre Hand war heute fast wertlos. Malkah hatte ihr wohl genug überwiesen, um ihr heimzuhelfen; ansonsten war sie blank.

      Im Glop lebten Tagelöhner und Gangniños und Arbeitslose – die große Mehrheit der Menschen auf dem Kontinent. Die Übrigen waren zumeist Bürger einer Multi-Enklave. Die freien Städte waren Ausnahmen, wie auch die Landwirtschaftszonen. Die meisten Einwohner freier Städte wie der, in der sie aufgewachsen war, hätten sich direkt an einen Multi verkaufen können, statt von Gelegenheitsaufträgen zu leben, zogen es aber aus irgendwelchen persönlichen Gründen vor, außerhalb der Enklaven zu bleiben: eine Minderheitsreligion, eine sexuelle Neigung, die von dem betreffenden Multi nicht geduldet wurde, vielleicht auch einfach ein archaischer Drang nach Freiheit.

      Der Umhang bauschte sich um sie und roch muffig. Die Jahre, die er zusammengefaltet am Grunde eines Speicherwürfels gelegen hatte, hatten ihn nicht besser gemacht, doch sie fühlte sich sofort sicherer darin, als sie sich unter die Menge auf den Gleitern mischte. Die meisten trugen schwarze Umhänge und wirkten darin wie finstere Nonnen. Sie näherte sich den oberen Ebenen der Station und tastete nach ihrer Filtermaske. Schutzbrille, Maske, Umhang, Kühlmittel; sie hatte alles, was sie zum Betreten der Straße brauchte. Dazu half ihr eine Dosis Amphetamin aus einer Kapsel, die sie von einem Händler kaufte, kurz mit ihrem Taschen-Scanner überprüfte und dann einwarf, während der Gleiter sie ruckend beförderte. Die dämpfte ihre Paranoia so weit, dass sie sich im Labyrinth der Station zurechtfinden konnte. Hunderte kampierten dort und schliefen in den schmutzstarrenden, zerfallenden Gängen, die Tag und Nacht widerhallten von fernen Stimmen, unterdrückten Schreien, Trommeln, Zak-Musik, dem Geriesel von Abwässern, dem Zischen ausströmender Kühlmittel. In einigen Gängen waren Läden, die Kleidung verkauften, Bottichnahrung, Fertignahrung, Stimmies und Spikes. Spikes waren in der Y-S-Enklave strikt verboten. Sie waren noch lebensechter als Stimmies. Statt nachzuvollziehen, was ein Schauspieler sah, fühlte, berührte, empfand, wurde der Benutzer unmittelbar in das Geschehen hineinversetzt, und die Wahrnehmungen waren noch intensiver – so hatte sie gehört. Man erzählte sich von tot aufgefundenen Jugendlichen, die sich in ihre Lieblingsabenteuer oder Pornos versenkt hatten, bis sie verhungert waren.

      Wenige


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