Er, Sie und Es. Marge Piercy

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Er, Sie und Es - Marge Piercy


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Kabbala vielleicht, zu streitlustig, ein zu origineller Denker. Ein Störenfried. Nicht, dass sein Licht völlig unter einem Scheffel stand. Er leitete eine berühmte Talmud-Schule. Er war der Freund des reichsten Juden in Prag, Mordechai Maisl. Er war umgeben von Schülern und Kollegen. Unmittelbar bevor er 1592 Prag für die letzte Exilperiode verließ, schickte Kaiser Rudolf nach ihm und empfing ihn privat, ein unerhörter Umgang mit einem Juden.

      Auch für einen rüstigen alten Mann war es ein langer Weg durch die Tore des Ghettos, auf der Karlsbrücke über die weite Moldau mit ihren weißen Stromschnellen, durch die Straßen der Malá Strana, wo sich der Adel hinter hohen Mauern inmitten von Obstgärten und Weideland prächtige Paläste erbaut hatte. Über den steilen, gewundenen Straßen dräute das von Türmen und Spitzen starrende Schloss auf seinen Felsklippen. Er lehnte sich auf die Arme seines Schwiegersohns Itzak Cohen und seines derzeitigen Lieblingsschülers Jakov Sassun. Er kämpfte sich die lange Treppe empor, sein Herz schüttelte seinen schmächtigen Körper, während sie sich an die Mauer drückten, um den Pferden auszuweichen, die vorbeigeritten oder -geführt wurden. Unter ihnen erhoben sich die Stimmen der Stadt und hingen wie leuchtende, flatternde Banner über den roten Dächern.

      Judah schritt durch die mächtige Toreinfahrt und zwei Innenhöfe, eine ausladende Prunktreppe empor und durch Saal um Saal, jeder reich geschmückt, riesig und bar jeder Funktion, aber voller müßiger Höflinge in Brokat und Samt und Seide, deren Köpfe auf Halskrausen saßen wie auf Tellern, bis er gezwungen war, Itzak und Jakov in einem Vorzimmer zurückzulassen. Er wurde schließlich in einen kleineren, mit Samt verkleideten Raum geführt, wo in Vitrinen das Horn eines Narwals zur Schau gestellt war, ein zweiköpfiger Embryo in einer Flasche, eine Alraune in Gestalt eines phallischen Mannes, allerlei Mineralien, Magnetsteine. Judah hatte keine Zeit zu staunen, bevor Prinz Bertier ihn begrüßte, aber er spürte noch eine andere Präsenz. Während die Audienz dahinholperte, mit langen Pausen und Geflüster, folgerte Judah, dass der Kaiser hinter einem von der Decke bis zum Boden reichenden Samtvorhang saß und den Prinzen Bertier benutzte, um seine Fragen zu stellen. Das dauerte nicht lange. Der Kaiser verlor die Geduld, seine Fragen Bertier zuzuflüstern, und begann hinter dem Vorhang zu sprechen; endlich stürzte er hervor und nahm sich einen Sessel. Das Thema dieser höchst ungewöhnlichen Audienz, die einem Juden gewährt wurde, war ein Geheimnis; die Geschichtsbücher schweigen. Selbst in seinem Bericht für die Nachwelt vertraute Itzak das Thema des Gesprächs nicht dem Papier an. Aber hat die Familie nicht immer ihre Geschichten?

      Nun hielt der Kaiser die Juden als sein Eigentum – als seine eigene Milchkuh, seinen eigenen privaten Steuerweinberg, aus dem sich immer noch mehr Saft pressen ließ. Mit sehr viel Furcht und mit verstecktem Zorn und mit seinem wie Wurfmesser geschärften Witz lauschte der Maharal dem Kaiser. Das Thema, das der Kaiser ansprach nach vielen Reden über das Weltall und die seltsamen neuen Theorien des Kopernikus, die den meisten, die davon hörten, nur offenen Spott entlockten und die die Kirche verdammte, war die Astrologie. All seine Ratgeber glaubten an die Astrologie als bestimmend für Charakter und Schicksal des Menschen. Sein eigener vorzüglicher Astronom, Tycho Brahe, stellte Horoskope. Wie dachte der Rabbi darüber?

      Der Maharal dachte rasch nach. Die Astrologie war seinerzeit ein geachtetes Gewerbe, und so wie heutzutage jeder reiche Macher seinen Haus-Chemotherapeuten hat, der ihm genau die richtigen Psychopharmaka verabreicht und am Monitor die Spurenelemente und Nährstoffe im Blut und die allergischen und Immunsystem-Reaktionen überwacht, so hatten die Reichen und Mächtigen damals ihren Hofastrologen, der ihnen die richtigen Zeitpunkte zum Handeln und zum Abwarten nannte, die günstigste Zeit für Heiraten und Feierlichkeiten. Judah mutmaßte, dass der Kaiser eine Vorhersage erhalten hatte, die ihn beunruhigte.

      Rudolf stand in dem Ruf, ein schwacher und unentschlossener Herrscher zu sein. In der Tat schien er den Krieg wenig zu lieben, was in seinen Tagen als Zeichen von Charakterschwäche galt. In Wahrheit ermutigte er die Wissenschaften und die Künste und übte eine milde religiöse Toleranz, widerstand gewöhnlich dem besessenen Eifer der Gegenreformation, erlaubte sowohl Protestanten als auch Juden, Gott auf ihre Weise zu verehren, und gab den Universitäten ungewöhnlich viel Freiheit. Ich persönlich würde lieber unter ihm leben als unter so manchem berühmteren und viel bewunderten König von Preußen.

      Warum der Maharal? Nun waren zu der Zeit erst sieben Bücher des Maharal veröffentlicht, aber mehrere hatten als Manuskript die Runde gemacht. Judah konnte ziemlich sicher sein, dass der Kaiser von seiner langen Abhandlung wusste, die diese Pseudowissenschaft gründlich zerpflückte. Offensichtlich hatte ihn der Kaiser deshalb ausgewählt, und er hatte nicht die Absicht zu widerrufen. Der Kaiser suchte nach einer Begründung, um einen der Astrologie entsprungenen Ratschlag verwerfen zu können, so folgerte Judah, und er würde ihn liefern. So sei es. Das ist, was gemäß der Familienlegende zwischen Rudolf und Judah geschah.

      Kurz nach dieser Audienz wurde der Maharal wieder einmal für das Amt des Oberrabbiners übergangen. Er nahm daraufhin eine Stellung in Posen an, schüttelte den Prager Staub von seinem Hut und brach mit seiner Familie auf.

      Er kam nicht zurück, bis sie ihm schließlich gaben, was er wollte. Die Legende, die sich nun um ihn rankt, gehört in diese Zeitspanne, da der Maharal vor kurzem im Triumph als Oberrabbiner nach Prag zurückgekehrt ist. Der Maharal ist ein gelehrter Mann, bewandert nicht nur in Tora und Talmud, nicht nur in Geschichte, in der Wissenschaft und Philosophie seiner Zeit, sondern auch in den Geheimnissen der Kabbala. Er macht einen ganz klaren Unterschied zwischen den Wahrheiten der Wissenschaft, die sich auf Beobachtung gründen und die sich ständig verändern – so wie die Welt sich ständig verändert (eine radikale Auffassung, denn die Welt hatte jahrhundertelang als statisch und unbeweglich gegolten) –, und den Wahrheiten der Religion, die von ganz anderer Art sind. In dieser Sphäre ist der Gedanke Handeln und sind die Worte nicht Künder der Dinge oder Zustände, sondern reale und mächtige Kräfte. Das ist natürlich die Welt der künstlichen Intelligenz und der Computerbasen, in der ich arbeite – die Welt, in der das Wort real ist, das Wort ist Macht, Energie ist geistig und physisch zugleich, und alles, was als Materie im Raum erscheint, ist eigentlich immateriell. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich mit zunehmendem Alter immer mehr zur Mystikerin werde. In meiner Jugend war ich besessen von Sex und Psychologie, von Mode und Eleganz; jetzt, wo ich an das Ende meines geflochtenen Seils gelange, fasziniert mich das heilige und mächtige Licht, das durch die Geschichte leuchtet, die Mächte, die ihre Dramen durch uns ausspielen, das Gute und das Böse, der Schaden und der Ausgleich, den unsere Wanderungen und unsere Entscheidungen anrichten.

      Ist es richtig, diese Geschichte zu erzählen? Es ist eine Geschichte der Kabbala, der frommen Magie. Die meisten Gelehrten bestehen darauf, dass sich dafür keine Grundlage, kein Anhalt findet im Leben des vorbildlichen religiösen Denkers und Erziehungsreformers, dieses Historikers und Polemikers. Was hat er zu tun mit der Erschaffung von Monstren? Aber als Frau, die ihr Berufsleben damit zubringt, Märchen und Monstren zu erfinden, wie kann ich da das Gefühl haben, Judah zu schmähen und zu verleumden? Ich glaube, dass diese Geschichte wahr ist, wenn auch vielleicht nur im übertragenen Sinne, obwohl Moshe Idel ein ums andere Rezept zur Herstellung von Golems gefunden hat, so genau wie die Anweisungen zum Bau einer Jurte oder zum Backen von Baguettes. Ich kann nicht immer zwischen Mythen und Wirklichkeit unterscheiden, weil die Mythen die Wirklichkeit formen und weil wir aus dem heraus handeln, was wir zu sein meinen; wir wissen auf vielen Ebenen Wahrheiten, die sowohl irrational sind als auch vernunftbegründet oder experimentell. Unser Geist hilft die Welt zu erschaffen, die wir zu bewohnen meinen. Ich bin selbst eine Zauberin, die im letzten Herbst eine Maschine verführt hat, deshalb kann ich mich in den Maharal zurückversetzen und sagen, dass auch er ein Geschöpf erschaffen haben mag, das im Volksgedächtnis als das seinige verzeichnet ist. Meinst du nicht, mein Freund, dass du etwas über das normal Menschliche Hinausgehendes bist, ein Wunder?

      Als nun der Maharal in jenem Winter spürt, wie die Gefahr wächst und wie sich ein Netz aus Intrigen immer enger um sein Volk schnürt, wohin soll er sich da wenden außer zur überlieferten mystischen Kunde? Die Prager Juden sind in ihr Ghetto eingepfercht und sie können nirgendwohin entkommen und nirgendwohin entfliehen. Die Juden von Spanien, die tausend Jahre in Frieden und Hochkultur lebten, wurden über Nacht aus dem Land, das sie für das ihre hielten, vertrieben, wurden aus ihren Wurzeln gerissen und ihren Gräbern und ihren Synagogen. Die Juden von England wurden in Elend und Wanderschaft


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