Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer
Читать онлайн книгу.das Mundstück zurecht. In der kühlen Jahreszeit trug er bei den Proben dickere und dünnere schwarze Rollkragenpullover; er fror leicht, wenn er lange saß und nicht so häufig Einsätze hatte. Da fiel schon mal der Kreislauf ab. Er musste oft warten. Er hörte dann zu. In seinem geöffneten Koffer steckte ein Foto von Lucie, David und Sina und ein Bild mit einem Klarinettisten, das Sina mit fünf für ihn gemalt hatte (die meisten Instrumentenkoffer sahen aus wie eingerichtete Wohnzimmer, angefüllt mit Souvenirs).
Otar Georgidis, der georgische Gastdirigent, kam im verknitterten, grauen Polohemd und ungebügelten, weiten, grauen Hosen; auch sein graues Haar war unordentlich gelockt, sein Gesicht schlaflos, verlebt, mit markanten Magenfalten zwischen Nase und Mund. Er beugte sich leicht vor, als hörte er mit dem Oberkörper. Stefan fand seine Augen rätselhaft, halb träumend, halb wach, halb nach innen, halb nach außen gewandt. Er erkannte nicht, wie ähnlich sie seinen eigenen waren.
Georgidis schlug mit dem Taktstock gegen den Notenständer und begann. Sie bereiteten die Premiere von Schostakowitschs Oper ‚Lady Macbeth von Minsk‘ vor. Georgidis ging zügig durch das Stück; er musste zwischendurch noch zu Proben mit den Londoner Philharmonikern.
„Er macht alles so schön locker und trocken“, sagte Stefan zu Ernst, „das gefällt mir.“
Ernst nickte. Er machte Notizen in seine Noten.
„Ich finde ihn ein bisschen schnell, aber o.k. Jedenfalls ist er nicht so ein Karrieretyp wie unser Petrowicki“, sagte Ernst und fuhr mit dem Taschentuch über die sich lichtende Stirn. Ernst schwitzte leicht. Auch Stefan war mit den Noten beschäftigt. Er sah durch, was der Vorgänger an Notizen hinterlassen hatte, und markierte sich die schwierigen Stellen und längere Pausen.
„Kannst du dir da ein Zeichen machen“, sagte er zu Matthias, der neben ihm saß. Bei längeren Pausen machten sie sich gegenseitig auf ihre Einsätze aufmerksam. Für alle Fälle.
„Ist gut“, sagte Matthias.
Das Orchester war unruhig. Sobald einer die Zügel lockerließ, wurden die Musiker von einem unwiderstehlichen Drang befallen, ein Schwätzchen nach links und eines nach rechts zu halten. Die Trompeten, die durch die Bank gemusterte Hemden zu gemusterten Jeans und Vorne-kurz-hinten-lang-Frisuren („Vokuhila“) trugen, tauschten Termine aus; sie hantierten mit ihren Kalendern.
„Die Trompeten und Hölzer zuerst, bitte. Wir machen alles verry fast, verry harrd. Taajajam“, sagte Georgidis, „ropopopo muss das hier kommen.“
Er sprach ein Kauderwelsch aus Englisch, Russisch und Deutsch, durchzogen von italienischen Bezeichnungen.
„It’s so great to be with such good musicians“, sagte er, „so we can do something special. Wir machen die letzte Note der Phrase als ein schönes rubato.“
„Was meint er?“, fragte Tobias. „Ick kann keen Englisch.“
„Er sagt, du bist ein Supertyp und sollst super spielen.“ Ernst fühlte sich als ältester Holzbläser verantwortlich. Er kannte Tobias’ Anwandlungen.
„Wie’s in den Wald rein ruft, so schallt es heraus.“
Tobias kicherte. Tobias brauchte eine gewisse Autorität, dann fühlte er sich glücklich und frei. Georgidis machte ihn nervös. Stefan hingegen mochte diese Art. Er fand den Georgier sympathisch, unprätentiös. Sie spielten den Anfang der Oper, als handelte es sich um Zirkusmusik, wobei der ganze Zirkus besoffen war. Ein großer schwankender Clown. Nicht so pathetisch wie Stefan es von Plattenaufzeichnungen her kannte. Die Ouvertüre schwankt und eiert, dachte er, wie das Sowjetreich schon damals.
„Staccatissimo molto“, rief Georgidis, „hahaha“. Er stieß das hahaha aus und horchte. „Nein, nein, nein, das war zu schnell! Noch mal! Die Piccolo war sehrrr schön, tatitatatam!“
Die Geiger waren dran, andere tuschelten.
„Schschsch“, machte Georgidis, ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. „Die Basstrompete kann hier lauter!“
„Die Trompeten sind zu laut“, rief einer der Geiger.
„Die Tuttischweine haben immer was zu meckern“, sagte Ernst.
Er wartete auf seinen Einsatz. Tuttischweine wurden die Geiger genannt. Sie galten als die Herdentiere des Orchesters: Eine Herde von ganz großen Künstlern, wie Ernst gern erklärte.
„Hopp hopp hopp“, feuerte Georgidis dieselben an, „molto molto brrr.“ Er federte dabei und sprang.
„Er denkt wohl, sie sind Pferde“, sagte Tobias.
„Hahaha“, sagte Stefan. Er versuchte sich auf die Musik zu konzentrieren. Es war ein aberwitziges, hochkomplexes Stück. Es war schwierig, alles zu hören, wenn man drin war. Er hasste es, wenn die anderen so wenig dabei waren.
„Das pizzicato gut so. Wir machen alles ganz kurz, nur an bestimmten Stellen machen wir es lang, wenn es hingehört. Verry harrd, verrry fast. Wir spielen das zwischen sentimental und comique. Ja? Am Anfang senza emotions, später piano dolce.“
Er dirigierte mit verhaltenen Bewegungen des Stocks, dafür sprang sein kräftiger Körper mit, der seltsam entspannt wirkte, fast als würde er vergnügt auf einem Trampolin hopsen. Zugleich war er vollkommen bei sich. Ein sonderbares Schauspiel. Er wirkte so, als wäre er da und ganz woanders. Tobias machte das verrückt; Ernst beobachtete das Geschehen abwartend; Matthias war gleichmütig wie immer; Stefan fühlte sich ausgesprochen wohl und angesprochen. Senza emotions. Ohne Gefühl. Später leise, süß. Er muss uns nicht dauernd zur Aufmerksamkeit zwingen, dachte er, er vertraut auf die Musik und uns. Das heißt, Stefan empfand so, er dachte selten in Worten. Ohne Worte dachte er: Das mag ich.
Die Posaunen spielten volle Kraft.
„Das ist Konvention“, rief Georgidis, „das können wir ganz anders!“
Er ist wirklich gut: Stefan hörte es, empfand es als Schwingung, er nimmt Schostakowitsch beim Wort, er nimmt ihn auseinander, die extremen Wechsel und Sprünge. Es fing an, ihm Spaß zu machen. Die ganze Zerrissenheit seiner Zeit kommt zum Vorschein, dachte er, es ist fantastisch. Die Oper war Anfang der Dreißigerjahre entstanden und gleich nach den ersten Aufführungen von Stalin abgesetzt worden. Sie war zu anarchisch, sie konnte womöglich anarchische Kräfte mobilisieren.
„Hab ich Mozart gehört? War da eben Mozart?“
Alle lachten. Die Posaunen spielten leiser, decrescendo.
„Die Trompeter sind schon wieder zu laut“, rief die erste Geige, ein begabter, artiger junger Mann.
„Stimmt gar nicht! Die Geigen sind zu laut“, rief jetzt einer der Trompeter. Unterdrücktes Gekicher.
„Jajaja. Das muss so sein. Ist es möglich, das etwas tiefer zu spielen? So jetzt Celli und Fagotti fortissimo, Geigen pianissimo.“
„Was gibt das denn?“ Tobias funkelte angriffslustig mit den Augen, er machte einen Buckel wie ein aufmüpfiger Zwerg. Irgend etwas provozierte ihn. „Warum kann das nicht ein Russe dirigieren? Das ist ihr Schostakowitsch.“
„Du alter Rassist“, sagte Ernst, „jetzt halt mal deinen Schnabel.“
Tobias und Ernst waren in der DDR groß geworden. Stefan nicht. Er hatte nur seine Großeltern in der Märkischen Schweiz gehabt (die mit der Gartenwirtschaft).
Tobias machte Grimassen. Es gab Gemurmel. Stefan verfolgte gebannt die Entwicklung. Die Musik hatte etwas Beunruhigendes. Schostakowitsch hatte die Oper geschrieben, bevor er nach altkommunistischer Manier Selbstkritik üben und allem westlichen „Formalismus“ abschwören musste. Damit das Volk mich versteht und lieb hat und versteht, dass ich es verstehe und lieb habe. So hatte er es – sinngemäß – dem ZK-Plenum in einem offenen Brief geschrieben.
Die Sänger kamen herein, in Jeans und karierten Hemden. Sie setzten sich auf die Stühle seitlich des Podiums und lasen die Zeitung oder