Tod und Nachtigallen (Steidl Pocket). Eugene McCabe
Читать онлайн книгу.dass Mickey Dolphin zu zittern begonnen hatte. Die Stirnfransen auf seinem schmalen Kopf wackelten wie die Mähne eines mechanischen Spielzeugpferdes. Er sah nicht, dass Mickeys Blick von der blinden Puppe auf dem Müllhaufen zu dem bleichen Gesicht eines ertrunkenen Kindes gewandert war, das durch das braune Wasser des Moortümpels zu ihm heraufstarrte. Billy sah ins Wasser. Er konnte nichts erkennen und flüsterte eindringlich:
»Kerl, was ist los mit dir?«
Ein Weinen brach sich Bahn, das aus tiefstem Herzen zu kommen schien; ein derart schmerzerfülltes nasales Wimmern, dass Billy verwirrt ein Stück beiseite trat und murmelte: »Du musst die Finger von den Kurzen lassen, Mickey – kein Mensch verträgt unverdünnten Poteen.«
Dann sah er, wie Mickey Dolphin sich vor den Tümpel kniete und hinabstierte. Tränen strömten ihm durch die Finger.
»Herr im Himmel«, grummelte Billy, »was soll denn das?« Er ging zu Mickey, hockte sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schulter.
»Ist schon in Ordnung, Mickey. Ich hab nur Spaß gemacht. Wir werden dich schon anständig unter die Erde bringen.«
»Auf meine Beerdigung würd ich keine Wette eingehen.«
Dann wandelte sich das Schluchzen zu einem Zwischending aus Kichern und Lachen. Es endete so plötzlich, wie es begonnen hatte. Mickey setzte sich wieder auf die Fersen und wischte sich das Gesicht ab.
Mit einem Mal richtete der Depp sich auf und blickte zu den beiden Männern hinüber, von denen der eine kniete, der andere hockte. Mit einem knurrenden Geräusch beugte er sich über das Wasser vor ihm, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann zu wimmern, als wollte er Mickeys Kummer nachäffen. Billy sagte:
»Lass ihn, schau nicht hin zu ihm.« Er nahm Mickey beim Arm und führte ihn aus dem Moor heraus zum Hohlweg.
»Was hast du da unten gesehen?«
Mickey Dolphin schüttelte den Kopf.
»Du bist verrückt, Mickey.«
»Sind wir das nicht alle ein bisschen?«, sagte Mickey, und als er von Neuem zu zittern begann, nahm Billy Winters ihn bei den Schultern, drehte ihn zum Brunnen hin und sagte:
»Hol dein Wasser und halt dich um sechs bereit.«
Als er Mickey nachsah, der den Pfad zur Quelle unter der Eberesche entlangging, hörte er den Depp aus dem Moor kommen: ein großer, breitschädeliger Mann mit drei langen gelben Zähnen im Oberkiefer, einem grob gestutzten Bart und rot geäderten Augen. Sein langer, knopfloser Mantel war mit einem Strick zugebunden.
In Zeichensprache gestikulierend, kam er in zwei ungleichen Stiefeln den Hohlweg heruntergewatschelt.Um Abstand bemüht, sagte Billy mehrmals: »Schon gut, schon gut.«
Der Depp schüttelte den Kopf, stellte sich ihm in den Weg und nötigte Billy, auf seinen Mund zu schauen, der die Worte formte:
»Nichts ist gut … ich habe Hunger.«
»Dann geh hinauf zum Haus«, sagte Billy, »da bekommst du ein Frühstück… Und danach wirst du auf dem Hof nicht den Kranken spielen, und es kommt nicht in Frage, dass du in den Speichern oder Heuschuppen übernachtest.«
Der Depp brummte und rümpfte die Nase, als rieche er etwas Unangenehmes.
»Und wer zum Teufel bist du, McGonnell«, fragte Billy, »dass du Mickey Dolphin verspottest?«
Der Depp warf ihm zornige Blicke zu, schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. Billy beharrte:
»Er war verzweifelt, und du hast ihn verspottet.«
Der Depp schüttelte vehement verneinend den Kopf. Mit Zeichen und Gesten, die Hand aufs Herz gelegt, machte er Billy klar, dass er Mitgefühl mit Spott verwechselt habe.
»Und was kannst du schon über Mickey Dolphin wissen? Er ist seit mehr als fünfundzwanzig Jahren bei mir.«
Mit einem wissenden Grinsen ließ der Depp durchblicken, dass er nahezu alles über jeden wusste.
Dann steckte er die Hand tief in die Manteltasche und zog den Stummel eines Kopierstifts hervor. Auf die Innenfläche seiner weichen weißen Hand zeichnete er eine Art Halbkreis. In den unteren Teil des Halbkreises kritzelte er das Bild eines Kindes, das auf dem Rücken lag.
»Ein Mutterleib?«, fragte Billy und legte eine Hand an seinen Brustkorb. Der Depp schüttelte den Kopf. Er deutete auf den Pfad, den Mickey Dolphin mit seinen Eimern hinuntergegangen war, kauerte sich hin und zog mit dem Zeigefinger einen Kreis in den Sand.
»Ein Brunnen?«
Der Depp nickte. Dann skizzierte er auf seinem Daumen ein Gesicht mit Stirnfransen, das Mickeys ähnelte, malte ein paar Tränen dazu und knickte den Daumen ein, um eine kniende und weinende Gestalt über einem Brunnen darzustellen.
»Ein ertrunkenes Kind?« Der Depp nickte.
»Mickeys?«
Er nickte erneut und begann die Einzelheiten zu schildern. Mickey war eines Abends mit seiner kleinen Tochter zu einem Brunnen gegangen. Er war betrunken, schlief ein, und als er aufwachte, starrte sein Kind vom Grund des Brunnens zu ihm herauf. Seine Frau drehte durch und tat sich mit einem Mann aus der Nachbarschaft zusammen. Mickey trank noch mehr, musste sein Haus räumen und fing an herumzustreunen, und so kam es, dass der Depp ihm vor langer, langer Zeit in der Grafschaft Tyrone begegnet war.
»Lieber blind als taub«, murmelte Billy, als der Depp bittend seine Hand ausstreckte.
»Wozu die Bettelei?«, fragte Billy.
Der Depp rieb Daumen und Zeigefinger der rechten Hand gegeneinander. Dann presste er die Hände zusammen, legte sie an die rechte Wange und schloss die Augen.
»Geld für ein Schlafquartier«, grummelte Billy. »Mag sein, dass du dumm und stumm bist, McGonnell, aber auf die Kunst des Bettelns verstehst du dich bestens.«
Er legte dem Depp einen Schilling in die Hand und ging den Hohlweg entlang in Richtung Steinbruch. Im Gehen dachte Billy Winters an trügerische Mutterleibe und trügerische Brunnen, daran, dass ein jeder mehr oder minder beschämende und schmerzliche Geheimnisse zu verbergen hatte. Auf dem Pfad, der zum Brunnen führte, sah er Mickey Dolphins schmächtige Gestalt, die sich zum Wasser bückte. Wie hatte sein Kind geheißen? Ein kleines Mädchen, Allmächtiger, der Name musste in sein Herz eingeschnitten sein. Hat Gott auch darauf herabgegrinst? Lasset die Kindlein zu mir kommen. Gibt uns rechts und links eins übern Schädel. Kriechen, rennen, schlurfen bis zum Exitus, dann der Himmelsfürst oder der andere Bursche, oder das Nichts!
Die Landschaft begann zum Lower Lough hin abzufallen. Jetzt konnte er den vertrauten quadratischen Turm und die Dächer des Pochwerks und des Siebhauses erkennen und hörte das Kreischen eines stählernen Abbaumeißels, der in den Kalkstein drang. Für das Dynamit, das am Mittag unter schwerer Bewachung in einer versiegelten Fuhre aus Enniskillen eintreffen würde, mussten vierzig tiefe Löcher gebohrt werden. Ihm kam Donnellys Brief in den Sinn: »Das Unerwartete zu erwarten … und allen Menschen gegenüber jederzeit auf der Hut zu sein.« Gab es da etwas Unausgesprochenes? Heute Abend im Rathaussaal konnte er ihn fragen.
Als er sich dem Rand des Steinbruchs näherte, hielt er an einer steinernen Treppe an, die zur Schreibstube hinunterführte. An schönen Tagen wie heute konnte er bis zu den Spitzen und dem Turm des Rathauses von Enniskillen blicken, konnte die Landstraßen und die Feldwege, die Auffahrten und die Herrenhäuser, die in die Landschaft eingegrabenen Cottages erkennen. Seit beinahe hundert Jahren hatte dieser Steinbruch am See die Steine geliefert, aus denen sie erbaut waren, das Füllgut und den Kies, aus dem der Straßenbelag bestand.
Neben der Brechmaschine erhob sich eine Pyramide aus faustgroßem Bruchgestein. Dahinter erstreckten sich drei Morgen mit zerhacktem schwarz-grauem Kalkstein, voller eingetrockneter Pfützen und mit von Schlitten, Karren und Fuhrwerken zerfurchten Pfaden, die zum hinteren Ende des Steinbruchs führten. Dort, vor einer großen schiefergedeckten Steinhütte, standen Grabsteine, Altäre, eine halbfertige Kanzel und marmorne Kamine in unterschiedlichen Stadien der Vollendung. Auf