Die Bibliothek des Kurfürsten. Birgit Erwin
Читать онлайн книгу.kehrte in die Gegenwart zurück.
Ein schmutziger, vielleicht zehnjähriger Junge in löchriger Kleidung saß auf einer niedrigen Mauer und biss in einen Apfel. Er war viel zu dünn und seine Schuhe fast noch armseliger als sein Hemd, aber er grinste frech. »Muss ja einer nach dem Rechten sehen, wenn der Herr Stadtkommandant zum Katholikenfreund wird.«
»Holla, Freundchen!« Maxilius hob die Hand wie zu einer Ohrfeige. Der Junge schwang sich mühelos von der Mauer und flitzte davon.
Jakob sah den Major an; er erwartete Zorn, sah aber nur eine Mischung aus Belustigung und Kummer. »Nichts für ungut, aber sollte man solche Burschen nicht einsperren? Der Apfel war doch sicher gestohlen.«
»Natürlich war der geklaut, was denn sonst? Der Junge hat keinen Vater, die Mutter kann das Essen kaum noch bezahlen, seit die hohen Herren die armen Leute mit ihren schlechten Münzen ruiniert haben.« Er streifte Jakobs dunkelblaues Wams mit einem verächtlichen Blick. »Ab und zu habe ich einen Botengang für ihn. Ansonsten hat er ein paar Jungs um sich geschart, Kinder wie er, mit denen er sich als Herr der Straße fühlt. Allerdings ist er in letzter Zeit etwas aufsässig geworden. Irgendwann werde ich herausfinden müssen, was dahintersteckt.«
»Aber …«
»Herr Liebig. Ihr habt keine Ahnung, wie es hier zugeht. Haltet einfach Euren Mund.«
Eine zornige Antwort lag Jakob auf der Zunge, doch er beherrschte sich. Zwei Straßen weiter befand sich die Garnison. Dort erwartete ihn eine Aufgabe und er musste sich nicht mehr mit dem selbstgerechten Zorn eines Ketzers auseinandersetzen.
Maxilius’ Schritte stockten. Gelächter schallte aus seinem Quartier. Er riss die Tür auf. Lena, Anni und Stefan sprangen auf. Sein Bursche wirkte verlegen, aber seine Augen hatten den Glanz eines Jungen, der sich in der Gesellschaft zweier hübscher Mädchen befand. Auf dem Tisch standen Brot und Butter. Maxilius wies mit dem Daumen hinter sich. Stefan verschwand wortlos, während der Stadtkommandant sich müde auf einen Stuhl fallen ließ. Kurz fragte er sich, was Jakob, den er in die Wachstube verbannt hatte, gerade tun mochte. Er hatte ihm befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren, bezweifelte jedoch, dass der verfluchte Katholik gehorchen würde. »Wie geht es euch?«, fragte er, ehe er sich ein Stück Brot in den Mund schob.
Anni brachte keinen Ton heraus, daher antwortete Lena für sie beide. »Wir sind gut behandelt worden. Danke, Herr Major.«
Maxilius brummte. »Setzt euch. Ich muss mehr über diesen Kuno wissen. Anni …«
»Ja?«, hauchte sie.
Maxilius fuhr sich über die Augen. »Warum denkst du, dass er der Tote ist?«
»L… Lena denkt das«, stammelte Anni. »Weil Kuno doch verschwunden ist und der Tote … Ich wusste gar nichts von dem Toten, aber dann …«
Maxilius hob die Hand. »Lena, bitte«, forderte er mit einem Anflug von Verzweiflung. »Aber fass dich kurz.«
»Ist der Tote stark behaart?«
Maxilius sah überrascht auf. Mit einem scharfen Blick auf die errötende Anni nickte er. »Kann man sagen. Gut. Ich nehme an, ich kann dir ersparen, die Leiche anzuschauen. Du hast gesagt, dass du seinen Nachnamen nicht kennst. Was weißt du sonst über ihn? Hat er dir etwas über sich erzählt?«
»Nur … nur … dass er einem mächtigen Herrn dient. Und dass er mich mitnehmen wollte. Aber … ich wollte nicht nach Spanien.«
»Spanien?«, brüllte Maxilius. Ein paar Brotkrümel flogen durch die Luft.
Anni brach in Tränen aus. »Ich hab doch gesagt, dass ich da nicht hinwollte …«
»War dieser Kuno Spanier?«
»Er war Pfälzer«, erwiderte Lena über Annis Schluchzen hinweg. »Das konnte man hören. Er war zwar schwarzhaarig, aber Spanier war er im Leben nicht.«
»War er Katholik?«
»Nein«, brachte Anni erstickt hervor.
»Weißt du das mit Gewissheit? Hat er das gesagt?«
»N… nein, aber er war doch nett.«
Maxilius verdrehte die Augen. »Ja, schon gut. Lena, weißt du irgendetwas?« Seine Stimme klang beschwörend.
»Leider nicht. Ich habe ihm weiter keine Beachtung geschenkt. Er war einfach ein junger Mann, der viel trank und viel redete. Er war vielleicht fünf- oder sechsmal in der Gaststube. Sprach von wichtigen Geschäften in der Stadt. Aber das tun sie ja alle.«
»Hatte er einen Passierschein?«
Lenas Wangen färbten sich. Maxilius vermutete, dass sie an Jakob dachte. »Ich weiß nicht. Er schien sich keine Sorgen zu machen, dass er nicht in die Stadt kommen könnte. Er hatte auch Geld. Ich habe angenommen, dass er als Bote unterwegs war.«
»Ein Bote von den Spaniern«, knirschte Maxilius. »Diesem Rodriguez werde ich hart auf den Zahn fühlen.« Er erinnerte sich an die Gegenwart der beiden Frauen. »Eine Frage noch, Lena. Verkehren bei euch die Schreiber des Rates? Kennst du welche von ihnen?«
»Manchmal, zwei oder drei.«
»Kennst du einen Christian Streichling?«
»Verzeiht, der Name sagt mir nichts. Anni?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Soll ich etwas herausfinden?«
Maxilius winkte ab. »Schon gut. Ich lasse euch jetzt zurückbringen. Wie seid ihr überhaupt hergekommen? Die Straßen sind nicht sicher.«
»Wir waren in Begleitung.«
Maxilius’ Augen verengten sich. »Dieser Böhme?« Als Lena nickte, stieß er ein lang gezogenes Knurren aus, sagte aber nichts weiter. »Stefan!«, brüllte er so laut, dass Anni ihn bewundernd ansah. Der Junge erschien prompt. »Sorg dafür, dass Sergeant Spielvogel die Frauen zu Reilings Hof zurückbringt.« Er kritzelte ein paar Worte auf die Rückseite einer zerknitterten Flugschrift. »Und gib ihm das. Beeil dich!«
III
Matthias schnaufte kurzatmig durch den immer noch warmen Nachmittag. Die Uhr am Glockenturm der Heiliggeistkirche zeigte zehn nach vier. Er hob den Arm, um sich den Schweiß abzuwischen, besann sich aber im letzten Moment und tupfte die Stirn mit einem bestickten Leinentuch ab. Der rötlich-blonde Bart, der sein Gesicht umrahmte, sah stattlich aus, juckte allerdings elendiglich. Aus alter Gewohnheit strich er über seine Kleidung, um Mehlstaub abzustreifen, dann öffnete er das Portal und betrat das Innere des Gotteshauses. Im Hauptschiff knieten Gläubige und beteten stumm und in sich versunken. Matthias befürchtete, dass er zu spät gekommen war, doch da hörte er von der linken Empore Stimmen. Sie klangen zu laut und zu fordernd für diesen heiligen Ort, trotzdem war Matthias erleichtert. Möglichst leise, um die Betenden nicht zu stören, erklomm er die steinerne Wendeltreppe. Auf der Galerie hielt er inne und schaute beklommen die endlose Reihe der Schreibpulte entlang. Es kam ihm jedes Mal seltsam, fast falsch vor, dass unten ein Gotteshaus, so wie er es kannte, zum Beten einlud und oben eine Bibliothek beherbergt war, der man einen unschätzbaren Wert nachsagte. Matthias hielt nicht viel von Büchern. Dank dem großen Doktor Luther konnte er das Wort Gottes in seiner Muttersprache lesen, aber Bücher in dieser Menge erfüllten ihn mit Unbehagen. Nur das Licht, das schräg in die Galerie fiel, passte in sein Bild von Göttlichkeit.
Sein Name wurde gerufen, und Matthias beeilte sich, zu der Gruppe aufzuschließen. Er rief sich die Worte ins Gedächtnis, die er sich zu Hause zurechtgelegt und auf dem Weg wieder und wieder geprobt hatte. Trotzdem drohte ihm die Stimme wegzubleiben. Er wagte kaum zu hoffen, dass er seinem ehrgeizigen Ziel, in den Rat aufzusteigen, trotz Hirschs Niedertracht wirklich näherkommen sollte. Es musste einfach gelingen, allein Sophies wegen!
Er verbeugte sich respektvoll.
»Meister Abele, tretet näher. Wir haben bereits auf Euch gewartet.«
Matthias’ Herz setzte einen Schlag aus, denn er glaubte, einen Tadel