Die Bibliothek des Kurfürsten. Birgit Erwin

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Die Bibliothek des Kurfürsten - Birgit Erwin


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er das Speyerer Tor und schlenderte durch die Gassen. Der Nachtwächter sang in der Ferne sein Lied, warnte vor Feuer und Licht. Jiří seufzte. So behaglich und friedlich, wie diese Stadt war, würde sie dem Ansturm des Krieges wenig entgegenzusetzen haben. Der Stadtkommandant wusste das, der war ein harter Hund. Dass er trotzdem eine sentimentale Seite hatte, war umso verblüffender.

      Jiří dachte an Lena.

      Die Nacht verwandelte die Häuser in zerklüftete Landschaften. Licht flackerte vereinzelt hinter winzigen Scheiben, die Bäume des Herrengartens reckten knorrige Arme in den Himmel. Er war allein auf der Straße. Er war allein. Bis er die Schritte hörte. Sein Instinkt riet ihm, sich in die nächste Gasse zu schlagen, seine Neugier wollte wissen, wer da unterwegs war. Die Neugier siegte, wie meistens. Jiří ging geradeaus und sah eine Gruppe Menschen mit Fackeln und Windlichtern auf die Hauptstraße einbiegen. Er dachte an die eben verklungene Warnung des Nachtwächters und grinste. Der Trupp marschierte stumm die Straße vom Herrengarten hinauf. Er geriet ins Stocken, als eine einzelne Gestalt der Schar entgegentrat. In der sinkenden Dunkelheit war es unmöglich, die Züge des Mannes zu erkennen. Jiří sah nur den bulligen Umriss und den Federhut.

      Eine helle Stimme rief: »Tod allen Katholischen!«

      »Geht nach Hause!«, befahl der Mann.

      Jiří horchte auf. Er glaubte, die tiefe Stimme zu kennen, war sich aber nicht sicher, woher.

      »Tod allen Katholischen!«

      Ein Stein krachte gegen eine Mauer.

      »Das ist eure letzte Chance«, donnerte der Mann.

      Schlagartig erkannte Jiří Leutnant Karius. Er schlich näher.

      Die Aufrührer waren vielleicht zu sechst oder siebt. Einige davon waren der Größe nach Kinder. Plötzlich schwenkte einer der Jungen seine Fackel in Jiřís Richtung. »Da ist noch einer!«

      Der unruhige Schein erfasste ihn. Jiří trat in die Mitte der Straße und hielt seine Handflächen nach außen. »Jungs, das ist nicht mein Streit«, sagte er gelassen, »aber ihr solltet nach Hause gehen. Ich kenne den Kerl.« Er zeigte auf Karius. »Mit dem ist nicht gut Kirschen essen.«

      »Katholikenfreund!«

      Jiří lachte spöttisch. »Katholikenfreund? Ich war beim Weißen Berg dabei. Ich …«

      Ein weiterer Stein flog.

      »Verdammte Saubande!«, entfuhr es Jiří. Er packte einen der Jungen an seinem dünnen Hemd. Der Stoff riss. Ein wuchtiger Schlag traf seinen Schädel, hart stürzte er auf das Pflaster. Er sah dünne Beine, rennende Füße, Schritte verklangen.

      »Halt dich raus!«, grollte es über ihm.

      Jiří drehte den Kopf in die Richtung seines Angreifers, aber die Übelkeit übermannte ihn. Er rollte sich herum und spuckte Blut. Nach einer Weile spürte er eine Hand an seiner Schulter.

      »Habt Ihr den Kerl erkannt?«, fragte der Leutnant scharf.

      Stöhnend bewegte Jiří seinen Kiefer, erst von oben nach unten, dann von rechts nach links. Erstaunlicherweise schien er nicht gebrochen. »Ein verdammter Riese«, ächzte er. Dann musste er grinsen. Das Gesicht über ihm sah schlimmer aus, als sein eigenes es je tun würde.

      Karius schnitt eine Grimasse. Im selben Moment wurde eine Haustür geöffnet, eine Frauengestalt tauchte mit einer Lampe auf. »Was soll der Krach?«

      Die Körpersprache des Leutnants veränderte sich subtil. »Unruhestifter. Sie sind fort.«

      »Und wer ist das?«

      Jiří blinzelte in das Licht, das direkt vor seine Nase gehalten wurde. Er versuchte ein Lächeln. »Jiří Němec, zu Euren Diensten.«

      Die Frau, der Kleidung nach eine Bedienstete, schnaubte. »Schöne Dienste. Kannst du aufstehen?«

      Jiří fand, dass das eine gute Frage war. Schwankend kam er auf die Füße. Das Licht der Lampe folgte seinen Bewegungen.

      »Bist du verletzt?«

      Jiří schaute zwischen der Frau und dem Leutnant hin und her. Blitzschnell entschied er, wer das Sagen hatte. »Ich wollte die Jungen vertreiben, meine Dame. Ich hoffe, sie haben Euch keine Angst gemacht.«

      Die vierschrötige Frau schnaubte wieder, aber er sah Belustigung in ihren Augen. »Bist du verletzt?«, wiederholte sie eine Spur milder.

      Jiří berührte seinen Kiefer. Das Zucken war nicht gespielt. »Einer hat mich niedergeschlagen.«

      »Einer der Jungen?«, blaffte Karius. »Ich dachte, du bist der Held vom Weißen Berg.«

      »Ein wenig älter wirkte er schon. Und größer.«

      Die Dienerin war zu einer Entscheidung gekommen. »Dein Kiefer wird bald übel aussehen. Ich nehme an, Leute wie du sagen nicht Nein zu einem Becher Wein. Ihr auch, Herr Leutnant?«

      Karius straffte sich. »Ich danke, aber mein Befehl lautet anders.«

      Die Frau zuckte die Achseln. »Dann du. Deinen Heidennamen habe ich nicht verstanden.«

      »Jiří Němec«, beeilte sich Jiří zu erwidern.

      »Wie auch immer. Sei leise. Die Herrschaft soll nicht gestört werden.« Sie gab ihm einen Stoß.

      Jiří unterdrückte ein Jaulen. Er folgte der kräftigen Frau. Einen letzten Blick auf den Leutnant, der einsam in der Finsternis zurückblieb, konnte er sich nicht versagen.

      Auch im Hausflur herrschte Dunkelheit, nur das Windlicht tanzte. Von oben vernahm Jiří leise Schritte, aber er hatte keine Gelegenheit zu lauschen, denn die Dienerin bugsierte ihn mit einem Rippenstoß in die Küche.

      »Setz dich.« Sie rumorte in der schwach erleuchteten Küche und stellte ihm schließlich einen Krug hin. »Trink.«

      »Danke.« Jiří hob den Kopf und erstarrte.

      In der Tür stand ein Engel. Blondes Haar fiel über schmale Schultern, riesige Augen musterten ihn mit einem Ausdruck allumfassenden Erbarmens. »Martha, wer ist dieser Mann?«

      »Er war mit dem grässlichen Leutnant zusammen.«

      »Mein Gott, siehst du denn nicht, dass er blutet?«

      Jiří kam zu sich. Er trotzte seinem Kiefer ein Lächeln ab. »Verzeiht, Herrin, ich wollte nicht stören, ich …«

      »Ihr«, fiel der Engel ihm energisch ins Wort und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf seine Brust, »lasst Euch helfen. Alles andere hat Zeit, bis mein Gemahl zurückkehrt. Und Martha, denk daran, mir Ludwig noch vor dem Abendessen hochzuschicken.«

      Sophie setzte sich ans Fenster und stützte das Kinn auf die Hand. Nach einer Weile lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. Am liebsten hätte sie geschrien, getobt, sich aufgelehnt gegen Gott und das Schicksal, aber ihre Sündhaftigkeit hatte bereits ihre kleine Tochter, ihr Lieschen, das Leben gekostet, egal, was der Pfarrer sagen mochte. Sie wusste es. Sie fühlte es!

      Als die Dielen in dem angrenzenden Zimmer knirschten, schlug sie beide Hände vor die Augen und schüttelte wild den Kopf, ehe sie sich zur Ruhe zwang. Der schmale Goldring an ihrem Finger schimmerte. Bald würde Matthias nach Hause kommen. Und bis dahin musste sie ihre Pflicht als Meisterin erfüllt haben. Sie griff nach dem Blatt Papier, das unter ihrer Bibel hervorlugte. Erneut kroch ihr Kälte über den Rücken. Natürlich wusste sie, dass es derartige Flugschriften gab, die in den Städten gegen Geld unter die Leute gebracht wurden, aber es war das erste Mal, dass sie eine davon in der Hand hielt. Wie unter Zwang betrachtete sie das Ungeheuer, das durch eine Blutlache stapfte. Darunter stand zu lesen, das sei der Katholik, dem das Blut der wahren Gläubigen an den Stiefeln klebe. Nichts anderes wolle der Katholik, als die Welt im Blut der Protestanten ersäufen, wie am Weißen Berg bereits geschehen. Angewidert drehte sie das Blatt um, legte es aber nicht weg. Die Schritte nebenan klangen wie die eines gefangenen Tieres. Ein Klopfen schreckte sie auf.

      »Ludwig, bist du das? Tritt ein.«

      Linkisch


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