Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein. Jakob Matthiessen
Читать онлайн книгу.widerspricht?«, erwiderte der Vater und fügte mit kleinlauter Stimme hinzu: »Ich habe es gut gemeint.«
»Du Narr, du warst doch auch einmal jung.«
Mainz – in Jehudiths und Chaims Haus
Nach getaner Arbeit stieg Chaim erschöpft, aber zufrieden die Treppe zur Wohnung empor. Er hatte einen der Entwürfe für Raimunds Fenster fertigstellen können, und es war ihm sogar noch etwas Zeit geblieben, mit dem Psalm weiterzukommen, bei dessen Übersetzung er mit seinem Freund am Mittag unterbrochen worden war. Seine Sorgen über das Heer der Irrenden hatte er während seiner Arbeit an den Skizzen ganz vergessen.
Ihre Stube war von einem herrlich herben Duft erfüllt. Jehudith stand an der Feuerstelle und rührte in dem Kessel. David verteilte die Holzteller und Glasbecher auf dem Tisch, aus denen alle außer Benjamin am Sabbat zu trinken pflegten, und erzählte ihm derweil begeistert von einem neuen Murmelspiel. Hannah schmiegte sich an ihren Vater und kämpfte sich schließlich hinauf auf seinen Schoß.
»David, stell auch den Kidduschbecher auf Papas Platz«, hörte Chaim Jehudith aus der Küche rufen. »Das Döschen mit dem Salz und der Teller mit den Sabbatbroten liegen hier bei mir auf dem Tisch.«
David tat, was ihm aufgetragen worden war, und setzte sich dann rechts neben seinen Vater.
Jehudith stellte den dampfenden Kessel in die Mitte des Tisches und setzte Benjamin auf den erhöhten Stuhl, von dem er alles beobachten konnte. Damit er nicht herunterfiel, band sie ihm ein Stofftuch um den Bauch, das sie dann an der Lehne festmachte. Sie ging nochmals in die Küche, entzündete einen Holzspan an der Feuerstelle und nahm Hannah, die Chaims Schoß entglitt, an die Hand. Die beiden wandten sich der Kommode zu, auf der bereits die zwei Sabbatkerzen standen.
Jehudith drückte den Span, an dessen anderen Ende ein kleines Flämmchen brannte, in Hannahs Hand und führte sie zu der Kerzenspitze. Mit leuchtenden Augen beobachtete Hannah, wie sich die Kerzen entzündeten. Gemeinsam mit ihrer Mutter sprach sie den Segen und das Sabbatmahl konnte beginnen.
In der Nähe von Peters Heim
Nachdem in der Stube wieder Ruhe eingekehrt war, setzte sich seine Mutter zu Peter auf die Bank. Sie legte den Arm um seine Schultern, aber er machte sich ganz steif.
Er wollte weg, nur noch weit weg.
Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus und entzog sich der Nähe seiner Mutter. Zunächst ging er langsam in Richtung des Hügels, dann lief er den Weg hinauf. Unter seinen nackten Füßen spürte er den trockenen Boden und das Stechen der Steine in seinen Fußsohlen. Dieser Schmerz tat ihm gut. Schließlich rannte er, rannte, so schnell er konnte, als könne er die Schmach wegrennen.
Peter erreichte die Hügelspitze und hielt an. Unter ihm schleppte der große Fluss sein Wasser Richtung Mainz. Er hockte sich nieder. Jetzt erst flossen die Tränen aus seinen Augen, Rinnsalen gleich. Er legte sich mit dem Bauch auf den Boden und schlug mit der Faust in das trockene Gras, bis er schließlich keine Kraft mehr hatte.
Nach einiger Zeit richtete er sich auf, schaute noch einmal auf den mächtigen Strom und ging langsam und mit hängendem Kopf zurück zu ihrem Haus.
Mainz – in Jehudiths und Chaims Haus
Jehudith hatte sie alle mit einer neuen Nachtischkreation überrascht: ein Honigkuchen mit geraspelten Mandeln und Rosinen, die sie am Tag zuvor in einem Wacholderlikör eingelegt hatte. Sie wurde überschwänglich gelobt, nicht nur von Chaim, sondern auch von David und Hannah. Benjamin zeigte seine Freude durch aufgeregte Armbewegungen in Richtung der Mandel- und Rosinenkrümel, die auf dem Teller übrig geblieben waren. Vielleicht war er aber auch enttäuscht darüber, dass seine Mutter diese köstlichen Krümel abkratzte, bevor sie den Kuchen in sein Mündchen führte.
Chaim fühlte sich satt und zufrieden. Jehudith zwinkerte ihm zu, zum Zeichen, dass er nun den Abschlusssegen sprechen sollte. Er füllte den Kidduschbecher ein letztes Mal und tat wie ihm geheißen.
David und Hannah maulten ein wenig, aber der strenge Blick seiner Frau genügte, damit die beiden ins Kinderzimmer abzogen.
Chaim stand auf und räumte den Tisch ab, während Jehudith Benjamin ins Bett brachte. Als er allein in der Küche war, geriet seine gute Laune ins Wanken, die er während des gesamten Sabbatmahls im Kreise seiner Familie empfunden hatte. Die Schattengesichter der Ratssitzungen schlichen sich in seine Gedanken zurück.
Beim Hinaufgehen ins Dachgeschoss kam er an dem Zimmer der Kinder im zweiten Stock vorbei und hörte sie und David das Maariw, das Nachtgebet, sprechen.
»Schma Jisrael, Adonaj elohejnu, Adonaj echad!«, sprach David.
»Höre, Israel! Adonaj ist unser Herr, Adonaj ist eins«, antwortete Jehudith.
Wie lange würden sie dieses Gebet in Mainz noch sprechen dürfen? Es half nichts, diese missliebigen Ahnungen stiegen immer wieder in Chaim auf, sosehr er sie zu verscheuchen wünschte. Bedrückt ging er hinauf in die Dachkammer, in der er mit Jehudith nächtigte.
Er setzte sich auf einen Hocker am Fenster. Sie wohnten in einem der wenigen dreistöckigen Häuser in Mainz. Vom Dachboden aus konnte er seine Blicke über die Stadtmauer bis zum Hafen schweifen lassen. Auf dem Turm am Zugang zum Hafen standen die üblichen zwei Männer der Stadtwache. Nichts deutete auf eine bevorstehende Gefahr hin.
Er stand auf und sprach das Schma Jisrael. Es fiel ihm zunächst schwer, seine Gedanken auf das Gebet zu richten. So brabbelte er mehr, als dass er mit seinem Herzen bei der Sache war.
Er versuchte, seinen Geist in den Rhythmus des Singsangs zu zwingen. Bei der Amidah, dem Achtzehngebet, gelang es ihm schließlich, in Schwingung mit den heiligen Worten zu kommen.
»Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott und Gott unserer Väter,
Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs,
großer starker und furchtbarer Gott,
der Du beglückende Wohltaten erweisest und Eigner des Alls bist.«
Chaim befand sich nun im Zustand des Einverständnisses mit dem großen Plan des Schöpfers aller Dinge. Er genoss dieses Gefühl der Geborgenheit in all seinem Unwissen und trotz all der Fremdheit, mit der Gott ihm zuweilen entgegentrat. Er schwang mit in Gottes Wollen, wie der Samen einer Pusteblume, der dem Wind eine Zeit lang widerstehen mag, sich aber irgendwann löst, ja lösen muss, um endlich über die Wiesen zu schweben und neue Frucht hervorbringen zu können.
Mit jeder Zeile des Gebets verflog etwas von seiner Angst, sie verlor an Gewicht, leichter und leichter wurde ihm im Herzen. Alles würde gut werden, alles hatte seine Ordnung, er konnte loslassen, die Dinge geschehen lassen. Geradezu heiter war ihm, als er zur zwölften Bitte kam.
»Den Verleumdern sei keine Hoffnung,
und alle Ruchlosen mögen im Augenblick untergehen,
alle mögen sie rasch ausgerottet werden,
und die Trotzigen schnell entwurzle, zerschmettere, wirf nieder
und demütige sie schnell in unseren Tagen.
Gelobt seist Du, Ewiger,
der Du die Feinde zerbrichst und die Trotzigen demütigst!«
Das Gebet entglitt ihm erneut. Die Auseinandersetzungen mit Mosche kamen ihm in den Sinn, der auf einer anderen, schärferen Version der zwölften Bitte beharrte. Die freche Regierung mögest du eilends ausrotten in unseren Tagen, so sollte es im Gottesdienst heißen, und, schlimmer noch, die Nazarener und die Ketzer mögen umkommen in einem Augenblick. Warum diese Unversöhnlichkeit, die nur neuen Hass erzeugte? All die zähen Diskussionen im Rat kochten in ihm hoch. Er hatte sie so satt.
Erneut konnte Chaim seine Gedanken bezwingen und kam zurück in den Fluss, in das Schweben, das er gerade heute so ersehnte, das er gerade jetzt brauchte. Und so fiel alle Last des Tages von ihm ab, und er beendete das Gebet, wenn auch nicht glücklich, so doch ruhiger, gelassener.
»Verleihe