Wiener Hochzeitsmord. Michael Ritter
Читать онлайн книгу.Fried schritt durch das Gässchen, das den Graben mit der dahinterliegenden Goldschmiedgasse verband. Auch so eine Neuerung, die dem Architekten hier eingefallen war. Statt den alten Trattnerhof wiederzuerrichten, hatte er ein zweigeteiltes Gebäude konzipiert, sodass ein Durchgang entstanden war. Na ja, jedem das Seine. Dr. Fried fand es schon ganz in Ordnung so, mehr oder weniger eben.
Ja, der alte Novak. Er war das einzige Nichtfamilienmitglied, das er zur Hochzeit eingeladen hatte. Er mochte den Novak. Und der Novak fand auf diese Weise Anschluss. Eine eigene Familie war ihm nie vergönnt gewesen. Irgendwie war das Schicksal in Gestalt einer Frau immer an ihm vorübergezogen. Und somit hatte er auch keine Kinder und keine Enkel, wie es für sein Alter nicht ungewöhnlich gewesen wäre.
Enkel! Dr. Fried ertappte sich, wie er auf offener Straße laut auflachte. Zum Glück hörte es niemand, denn im Durchgang befand sich gerade keine andere Person. Ob ihm seine Tochter schon bald den ersten Enkel schenken würde? Ob er es überhaupt als Geschenk betrachten würde? War er nicht doch zu jung für … Nein, das war wohl übertrieben. Mit sechsundfünfzig Jahren war man höchst reif, überreif vielleicht sogar für die Rolle des Großvaters. Was konnte er dafür, dass sich im Leben seiner Tochter alles verzögert hatte? Es war wohl der Tod ihrer Mutter, seiner geliebten Frau, der alles nach hinten verschoben hatte. Zum Glück hatte Dr. Fried schnell gelernt, das zu akzeptieren und seine Tochter nicht zu bedrängen – nicht im Privaten, nicht in der Schule, wo die Lernschwierigkeiten ihr mit einem Schlag sehr zusetzten.
Dr. Fried schritt zügig von der Goldschmiedgasse zur Peterskirche hinüber. Die grüne Kuppel lag satt in die Sonne getaucht da. Einige Gläubige betraten das Gotteshaus oder verließen es gerade, in dieser Kirche gab es immer ein reges Kommen und Gehen.
Dr. Fried hatte für die Hochzeit bewusst die Stanislaus-Kostka-Kapelle ausgewählt. Sie war ein wahrer Ort der Stille, bescheiden in ihren Ausmaßen, denn sie überschritt nicht die Größe von zwei Zimmern. Für Dr. Frieds und Max Beckers Familie war die Bestuhlung gerade ausreichend. Besser ein gut gefüllter kleiner Raum als ein leer wirkender großer, war sein Credo. Und, ja, zugegeben: Die Kapelle barg die besondere Eigenschaft in sich, dass seinerzeit auch er und seine Frau dort geheiratet hatten.
Amalia hatte darauf bestanden. Ihre Mutter würde vom Jenseits herüberschauen und sich freuen. Und noch mehr würde sie sich darüber freuen, dass ihre Tochter in ihrem damaligen Kleid heiratete und auf jener Bank vor Gott knien würde wie sie seinerzeit. Es war nicht Dr. Fried gewesen, der seine Tochter auf diese Idee gebracht hatte.
Amalia war ein gutes Mädchen. Eine junge Frau inzwischen, natürlich. Aber welcher Vater gewöhnte sich schon an den Gedanken, dass sein kleines Mädchen keines mehr war. Dass es sich zu einer eigenständigen jungen Frau gemausert hatte. Wie man es als Eltern ja erstrebte und worauf man hinarbeitete.
Sie würden eine ganze Messe feiern. Und Anton Novak würde eine der Lesungen vornehmen. Dr. Fried hatte seine Tochter gebeten, dass er den Novak danach fragen dürfe. Amalia war sofort einverstanden gewesen. Auch sie kannte »Onkel Novi« gut, oft war er früher zu Besuch bei ihnen zu Hause gewesen und hatte ihr etwas mitgebracht. Die Besuche waren nie privater Natur gewesen, sondern immer im Zeichen eines Falles gestanden, den ihr Vater gerade zu lösen hatte. Und zu Hause konnten er und Onkel Novak besonders gut nachdenken. Aber das hatte sie damals nicht gewusst, für sie war der Onkel einfach zu ihr gekommen, um ihr etwas zu schenken.
Dr. Fried ging die Milchgasse hinunter, querte die Tuchlauben und folgte der Steindlgasse bis an ihr Ende. Das Haus rechts an der Ecke war die Kurrentgasse 2, in dessen erstem Stock sich die Kapelle befand. Es diente als Pfarrhof für die Jesuitenkirche Am Hof und war entsprechend ruhig und unbewohnt.
Dr. Fried zog die schwere Holztür auf und trat in einen dunklen Hausgang, der zur Linken mit einer Treppe den Weg nach oben wies. Bedächtig nahm er den Hut vom Kopf.
Zweites Kapitel:
28. Juni
Das einzige Geräusch, das an sein Ohr drang, war das langsame Ziehen der Tür, die sich dem Schloss annäherte, und abschließend das harte Klicken, als sie in selbiges fiel. Danach war es still. Von einem Fenster oben am Ende der Stiege drang schwaches Tageslicht ins Innere. Dr. Fried hätte den Hausgang eher als halbdunkel denn als halbhell bezeichnet.
Als er zum ersten Gespräch mit dem Priester hier gewesen war, vor einigen Monaten, war ihm eine ältliche Frau in grauer Schürze und mit einem Wischmopp in den kralligen und fleckigen Händen entgegengekommen. Ihr Rücken war krumm gewesen und sie hatte schief zu ihm hinaufgeblickt. Es war schwierig gewesen, ihr die Information zu entlocken, die er damals benötigte, nämlich die Antwort auf die Frage: »Wo ist der Herr Pater?«
»Herbata? Herbata?«, hatte die Frau ein paarmal kopfschüttelnd wiederholt, bis Dr. Fried nach einigen weiteren Versuchen seinerseits bemerkte, dass die Frau kaum oder gar nicht Deutsch sprach und wohl aus dem slawischsprachigen Raum stammte. Herbata – war das nicht das polnische Wort für Tee? Der Priester, den er gesucht hatte und der für die Stanislaus-Kostka-Kapelle zuständig war, war ein gebürtiger Pole und hatte sich wohl Unterstützung aus der alten Heimat geholt.
Dr. Fried hatte sich auf Gesten und andere Worte verlegt. »Priester«, »Pfarrer«, hatte mehr Kreuzzeichen geschlagen, als er es normalerweise während einer Messe tat, und war erleichtert gewesen, als er endlich ein Lachen über das Gesicht der alten Frau huschen sah.
Sie hatte mit zitterndem ausgestrecktem Arm die Stufen hinaufgewiesen, den Stiel mit dem Wischmopp am Ende gegen ihren dürren Körper gelehnt.
»Na górze«, hatte sie mit ihrer kratzigen Stimme gesagt, und Dr. Fried hatte verstanden: »Na gusche.« Oben, hatte das wohl geheißen, denn sie hatte ja in das obere Stockwerk gewiesen. Abgesehen davon, dass es sowieso keinen anderen Weg ins Innere des Hauses gab, hatte Dr. Fried beschlossen, die Stufen hinaufzusteigen und dort nach einem Pfarrbüro zu suchen.
Nun kannte er den Weg natürlich. Er wusste, dass Pater Anzelm Szczepczyk ein kleines Büro hinter den Räumlichkeiten der Kapelle zugewiesen bekommen hatte. Offiziell gehörte das alles zur »Kirche zu den neun Chören der Engel« am Hof, von deren Altane aus im Jahre 1804 das Erbkaisertum Österreich proklamiert worden war. Dr. Frieds Vater hatte ihm oft davon erzählt, so lebhaft und begeistert, als ob er selbst dabei gewesen wäre. Als Kind war es Dr. Fried nicht klar gewesen, dass sich das rechnerisch mit dem Geburtsjahr des Vaters gar nicht ausgegangen wäre.
Die Stufen waren in der Mitte deutlich abgetreten. Es war ein altes Haus aus dem 15. Jahrhundert, dessen Grundsubstanz in den Jahrhunderten kaum verändert worden war. Das war zweifelsohne auch dem Umstand geschuldet, dass hier ein späterer Heiliger seine Wohnstatt gefunden hatte. Pater Anzelm hatte Dr. Fried die Geschichte des heiligen Stanisław Kostka ausführlich erzählt, nicht ohne eine gewisse Portion Nationalstolz, wie Dr. Fried amüsiert feststellen musste. Einmal hatte Pater Anzelm sogar die Formulierung »unser Heiliger« verwendet. Nun gut, jeder, wie es ihm gefällt. Dr. Fried hatte die Geschichte des heiligen Stanislaus natürlich bereits gekannt, nicht in allen kleinen Details, wie der Priester sie ihm darstellte, aber wer wusste schon, wie vieles davon erfunden war und der Begeisterung eines Polen für einen anderen entsprang.
Stanisław Kostka hatte gemeinsam mit seinem Bruder im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts zwei Zimmer in diesem Haus bewohnt. Sie waren Söhne aus einem polnischen Adelsgeschlecht und der junge Stanisław besuchte in Wien das Jesuitenkolleg. Seine Frömmigkeit war schon zu seinen Lebzeiten legendär, und nachdem er im Alter von nur achtzehn Jahren in Rom verstorben war, wurde er wenige Jahrzehnte danach selig und bald darauf heiliggesprochen. Die ehemaligen Wohnräume in Wien wurden zu einer Kapelle umgestaltet, in der man ihn seitdem verehrte.
Pater Anzelm war ein alter Mann. Hager, fast ausgemergelt war sein Körper, als würde er sich kasteien und nur der Verehrung »seines« Heiligen widmen. Sein Gesicht war von einem voluminösen Rauschebart bedeckt, sodass man dessen Formen kaum erahnen konnte. Eigentlich begann es erst so richtig ab der Nase und reichte über schmale Augen und eine breite Stirn hinauf bis zu einem wirren und dichten Gestrüpp von Haupthaar. Trotz seines höheren Alters befanden sich kaum graue Haare in seinem Bart oder auf seinem Kopf.
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