Wiener Hochzeitsmord. Michael Ritter

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Wiener Hochzeitsmord - Michael Ritter


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Maschen!« Dr. Fried stapfte zornig in das Zimmer und unterbrach die flirrende Freude der jungen Frauen. »Das kann man einfach nicht binden!«, beklagte er sich und hielt Amalia die schwarze Schleife entgegen. Er weigerte sich standhaft, vorgebundene Fliegen anzulegen. Als Mann und Herr von Format hatte er gewisse Prinzipien.

      Amalia lächelte milde. Tante Lucia hatte ihr oft erzählt, wie sich ihr Vater damals vor der eigenen Hochzeit mit der Schleife eine wahre Schlacht geliefert hatte. Schweißgebadet war er schließlich vor den Altar getreten. Ihr Vater erzählte die Geschichte freilich anders, allerdings doch nur in kleinen Details abweichend.

      »Komm her, ich mach’ dir das!« Sie winkte ihn vor den Spiegel und band hinter ihm stehend geduldig eine wohlgeformte Schleife.

      »Sehr gut«, zeigte sich Dr. Fried zufrieden und bedankte sich mit einem Kuss auf die Stirn seiner Tochter. Nun konnte er sich in aller Ruhe die Manschettenknöpfe anlegen und die dunkelgraue Weste anziehen.

      »Max wird staunen!«, sagte er, als er das Zimmer wieder verließ. »Eine schönere Braut habe ich nie zuvor gesehen.« Und er dachte – ohne es auszusprechen – kurz an seine verstorbene Frau.

      Er fühlte längst keinen Schmerz mehr, schon seit fast ewig empfundenen Jahren nicht. Es war eher ein sentimental-schönes Gefühl, das in ihm hochstieg, wenn er sich an seine Frau erinnerte. Ein wärmendes Erinnern. Ein Erinnern, das ihm immer wieder zuflüsterte: »Es war gut, wie es war. Und gut ist es auch jetzt.« Wäre Dr. Fried ein tiefgläubiger Mensch gewesen, er hätte sich einreden können, dass es die Stimme seiner Frau aus dem Jenseits war, die ihm diese Erkenntnis einflüsterte. Natürlich hatte er ein »Recht«, erfüllt weiterzuleben; die »Pflicht« in Gestalt des ihm anvertrauten Kindes verließ mit dem heutigen Tag seinen Haushalt.

      Sein Leben würde sich massiv ändern. Es gab keine Amalia mehr, die sich um seine Wohnung, seinen Haushalt, seine alltäglichen Bedürfnisse kümmern würde. Sie hatte das immer getan, seinerzeit neben der Schule, später neben dem Studium und zuletzt neben ihrer Tätigkeit in der vor zwei Jahren gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Professor Freud persönlich hatte sie dem Präsidenten der Vereinigung, Carl Gustav Jung, als Mitarbeiterin vorgeschlagen und der hatte sie sofort mit offenen Armen aufgenommen. Und das, obwohl sie keine Jüdin war. Das fand Dr. Fried beachtlich. Nicht dass er antisemitische Haltungen vertreten würde, aber er wusste doch, dass die Juden gerne unter sich blieben.

      Dr. Fried erinnerte sich an den vor zwei Jahren verstorbenen Bürgermeister Dr. Karl Lueger und seinen berühmt gewordenen Ausspruch: »Wer ein Jud’ ist, bestimme ich.« Damit war eigentlich alles gesagt, fand Dr. Fried. Die Judenfrage war weder ein Problem noch ein politisches Thema, wozu manche Gruppierungen es machen wollten. Und ob man Juden mochte oder nicht, war eine ganz persönliche Entscheidung. Dr. Fried traf diese Entscheidung stets neu gegenüber einem jeden Individuum.

      Auf der Konsole im Vorzimmer lag eine längliche weiße Schachtel mit geöffnetem Deckel. Darin befand sich achtlos zusammengeknüllt weißes Seidenpapier. In dieses würden sie die Kerze einpacken und in der Schachtel behutsam zur Kapelle transportieren. Es würde eng werden zu viert.

      Dr. Fried fühlte sich wie im Staatsornat. Er hätte auch seine Paradeuniform anziehen können, aber schließlich war die Hochzeit kein offizieller Staatsakt, sondern ein privates Fest. Dementsprechend ging er in Zivil. Die weiße Nelke im Knopfloch seines Sakkos war das Einzige an Auszeichnung, was er zuließ: die Auszeichnung als Brautvater.

      »Wir wären so weit, Paps!«, erklang von hinten Amalias Stimme.

      Sie war noch nicht zu sehen, aber ihre beiden Freundinnen flatterten in ihren Brautjungfernkleidern wie Kolibris auf ihn zu. Dahinter tauchte wie ein Schemen Amalia auf. Mit beiden Händen umfangen trug sie die Kerze für ihre Mutter und ging zügig auf die Konsole zu. Gemeinsam mit Dr. Fried verpackte sie die Gedenkkerze und hielt kurz inne, einen festen Blick auf ihren Vater gerichtet. Der erwiderte den Blick, mild, bestimmt. Er nickte. Mehr nicht, das genügte. Es war der richtige Gedanke und es war die richtige Tat. Sie würden die Kerze nicht, wie den Blumenschmuck, in der Kapelle lassen, sondern zur anschließenden Festtafel mitnehmen. Am Ende würde Amalia sie in ihr neues Zuhause, in Max’ Wohnung, bringen und ihr dort einen angemessenen Platz geben.

      Max Becker hatte von Anfang an Verständnis für die Idee mit der Kerze gehabt. Er hatte Amalia sogar darin bestätigt. Er selbst hatte seinen Vater verloren, als er ein kleiner Junge war. Er hatte noch viele Erinnerungen an ihn, und oft tauschten er und Amalia ihre Erinnerungen aus. Als Amalia ihn gefragt hatte, ob er nicht ebenfalls eine Kerze für seinen Vater aufstellen wollte, hatte er nur den Kopf geschüttelt. Er hatte für einen Augenblick das Gesicht abgewandt – vielleicht um Tränen zu verbergen? Amalia hatte ihn innig umarmt und in dieser Umarmung, die er nie wieder lösen zu wollen schien, hatte er es ihr wie eine Beichte erzählt: Sein Vater hatte sich das Leben genommen.

      »Ich denke, der Wagen steht bereits unten«, sagte Dr. Fried.

      Die Aufregung nahm zu. Sein Herz schlug heftiger, die beiden Brautjungfern waren überhaupt nicht mehr zu bremsen in ihrem Geplapper, und Amalia umklammerte mit weit aufgerissenen Augen die Schachtel mit der Kerze.

      »Gehen wir«, hauchte sie, dann lachte sie ihren Vater und die beiden Brautjungfern an und schlüpfte als Erste zur Wohnungstür hinaus.

      Der Motor des schwarzen H 10 Reichenberger mit aufgeschlagenem Verdeck tuckerte vor sich hin. Der Chauffeur saß in Livree und mit Kappe am Steuer und blickte geduldig, vielleicht sogar gelangweilt auf die Gruppe, die eben aus dem Haustor trat. Eine Person durfte neben ihm Platz nehmen und dieses Vorrecht hatte Dr. Fried vorab für sich ausbedungen. Wenn man schon einmal mit einem dieser modernen Geräte, die sich Taxis nannten, fuhr, dann wollte er es auch entsprechend auskosten.

      Bezahlt war der Wagen bereits. Dr. Fried hatte vor einigen Tagen alles mit dem Chef des Chauffeurs ausverhandelt, eine einfache Fahrt, den Weg zurück würden sie zu Fuß gehen oder eine Pferdekutsche nehmen, jeder in einen Teil der Stadt.

      Das Fahrzeug war laut. Die gute Stimmung der jungen Frauen sank in ungeahnte Tiefen, während sie rumpelnd und sich immer wieder die Ohren zuhaltend in Richtung Stadtzentrum unterwegs waren. Die Straßen waren teilweise holprig, ein Vergnügen war die Fahrt nicht. Aber sie bewegten sich wenigstens auf den modernen Höhen ihrer Zeit.

      Dr. Fried ließ den Wagen in der Tuchlauben halten. Den Weg zur Kapelle durch die Steindlgasse wollten sie zu Fuß zurücklegen. Das Trinkgeld für den Chauffeur fiel angemessen aus, Dr. Fried erkannte es an dessen Gesichtsausdruck. Als Kriminalinspektor hatte er gelernt, die Gesichter der Menschen zu lesen – wenigstens bis zu einem gewissen Punkt. Geständnisse hatte er, zugegebenermaßen, bislang noch nicht aus dem Mienenspiel von Tätern herausfiltern können.

      Der Weg führte sie an der Bierklinik vorbei, in der sie nachher die Hochzeitstafel haben würden. »Anton Polan’s Restauration« stand breit über dem Eingangstor, das in einen Hof führte.

      Dr. Fried und die jungen Frauen waren nicht die Ersten. Tante Lucia stand mit ihrem Mann vor dem Haustor der Kurrentgasse 2 und schien schlagartig erleichtert, als sie die Braut und ihre Brautjungfern erblickte. Dr. Frieds Schwägerin war kinderlos geblieben, was ihr Mann Georg – so unterstellte Dr. Fried es jedenfalls, wenngleich er es nie gewagt hätte, das in Gegenwart von Lucia auszusprechen – als absoluten Vorteil betrachtete. Auch der andere, der neue Teil der Familie traf gerade ein. Maximilian Ritter von Becker, umrahmt von einer älteren und einer jüngeren Frau, schritt eilig in ihre Richtung.

      »Diese Fiaker!«, schimpfte er vor sich hin. »Vermaledeite Kerle! Wissen die nicht, wie sie hierher fahren sollen?«

      Da hatte es Dr. Fried mit seiner krachenden Maschinenkutsche wohl doch besser getroffen. Er küsste Frau Becker die Hand, erst der älteren, dann der jüngeren. Den Bräutigam hieß er sogar mit einer innigen Umarmung willkommen. Max Beckers Schwester war ein bildhübsches Geschöpf, aber anscheinend etwas simpel gestrickt. Ihr Lächeln, so strahlend und sympathiegewinnend es auch sein mochte, stand wie eingefroren in ihrem Gesicht und schien sich gar nicht mehr auflösen zu wollen. Hoffentlich kein Krampf, dachte Dr. Fried sich unwillkürlich und ermahnte sich in aller Stille sogleich wegen derart unpassender Gedanken.


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