Wiener Hochzeitsmord. Michael Ritter
Читать онлайн книгу.alleine in der letzten Reihe, schüchtern und in sich zusammengesunken, immer noch das Gesicht mit dem Taschentuch wischend, vor der mobilen Orgel, deren Pfeifen ihm ziemlich laut in die Ohren bliesen. Seinen abgelebten Zylinder hatte er auf den Stuhl neben sich abgelegt.
Dr. Fried nahm in der ersten Reihe Platz, neben der Bräutigammutter, der die Rührung des Augenblicks anzusehen und am schniefenden Atem anzuhören war. Die Brautjungfern saßen am äußersten Ende der Reihe. Und dann trat Pater Anzelm auf.
Es war wirklich ein Auftritt. Er hatte ein prachtvolles Ornat angelegt, viele Goldfäden waren hier eingearbeitet worden. Er kam durch einen kleinen Durchgang rechts neben dem Altarbereich, der von der restlichen Gemeinde durch eine hüfthohe schmiedeeiserne Begrenzung abgetrennt war. Das doppelflügelige Türchen in der Mitte stand offen, davor zwei gepolsterte Stühle und die Gebetsbank für die zu Trauenden. Wilhelm folgte als Ministrant dem Priester und vermied jeden Blickkontakt mit den Hochzeitsgästen. Dr. Fried bemerkte die alte Frau in dem Raum hinter der Kapelle, der als Sakristei diente. Schnell schloss sie die Tür und die Hochzeitsgesellschaft war für sich allein, konzentriert auf das Geschehen vorne vor dem Altar.
Pater Anzelm machte das Zeichen, dass alle sich erheben mögen, und sprach in die Bekreuzigungen der Gäste hinein die ersten Worte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
Viertes Kapitel:
29. Juni, nachmittags
In der Bierklinik servierte man traditionelle Wiener Küche. Dr. Fried wäre es im Traum nicht eingefallen, irgendein exotisches Lokal, eines von diesen Mode-Restaurants, für die Hochzeitsfeier in Betracht zu ziehen. Bodenständiges Essen galt ihm als die Krönung des Tages, als das Tüpfelchen auf dem i.
Die Kellner sausten durch die verschiedenen Stuben des Lokals. Sie trugen einheitlich schwarze Hosen und weiße Hemden und hatten lange schwarze Schürzen um die Hüften gebunden. Die Gäste waren an diesem Samstag wohl eher aus der Nachbarschaft zusammengesetzt. Arbeiter und Büromitarbeiter waren keine zu sehen. Die Baustelle gegenüber ruhte seit ein paar Tagen, worüber Dr. Fried sehr froh war. Keine lästigen Geräusche, kein Lärm, der die Zeremonie stören konnte.
Pater Anzelm hatte seinen Part perfekt gespielt. Sicher, für ihn war es kein Spiel, sondern ein hochheiliger Akt, ein Sakrament, das sich die beiden Eheleute gegenseitig gaben unter seiner Leitung. Nur seine Predigt war Dr. Fried etwas zu moralisierend gewesen, aber was sollte er von einem katholischen Priester anderes erwarten.
Max Becker war ihm nervöser erschienen als ursprünglich gedacht. Hatte er noch heiter und mit einem von innen herausleuchtenden Lächeln Amalia aus der Hand des Brautvaters entgegengenommen, so war seine Miene, seine ganze Körpersprache mit einem Schlag gehemmter gewesen, als der Priester auftrat. Ja, so war das, wenn man dem Ernst des Lebens real ins Antlitz blickte …
»Im Hof! Im Hof!«, rief der Oberkellner dem langsam sich hereinschleichenden Brautvater zu.
Dr. Fried hatte – als Gastgeber – als Erster die Kapelle verlassen, während alle anderen sich in die Arme fielen und zum Teil unter Tränen Gratulationen und beste Wünsche zum Ausdruck brachten. Mit einem Seitenblick in die Sakristei hatte Dr. Fried beim Hinausgehen bemerkt, wie die alte Frau und Pater Anzelm über das Körbchen gebeugt standen und die Scheine und Münzen zählten, die die Frau während der Kollekte eingesammelt hatte.
Es waren nicht einmal hundert Meter, die die Bierklinik von der Stanislauskapelle trennten. Und über diese kurze Distanz zog sich die Hochzeitsgesellschaft wie ein unendlich ausgedehnter Strudelteig.
Zuallererst also Dr. Fried. Er wollte die Gäste in den kleinen Innenhof dirigieren, wo eine Tafel vorbereitet war. Weißes Tischtuch, weiße Servietten, das beste Tafelgeschirr, das das Lokal zu bieten hatte. Silberbesteck? Wer weiß, Dr. Fried hatte es nicht explizit verlangt, wahrscheinlich verfügte das Lokal gar nicht über solchen Luxus. Man musste ja nicht übertreiben.
Recht schnell nach Dr. Fried folgte Anton Novak. Immer noch wirkte er wie verloren, zum Glück hatte Dr. Fried Namenstäfelchen bei jedem Sitzplatz aufstellen lassen und seinen Assistenten neben sich selbst platziert. Nun standen die beiden mitten im Lokal, auf dem Weg zwischen Eingang und Zugang zum Hof – und den Kellnern im Weg. Stets wurden sie durch ein hastiges »’tschuldigung« oder ein etwas angriffigeres »Achtung!« zur Seite geschoben und waren auch dort ein ärgerliches Hindernis für das Personal.
Das nächste Grüppchen, das laut schnatternd in das Lokal flatterte, waren Amalia und ihre beiden Brautjungfern. Man könnte meinen, das große Ereignis stünde noch bevor, so aufgeregt und hochgeputscht wirkten die drei.
»Dort hinein«, dirigierte sie Dr. Fried. »Also hinaus natürlich …«
Die drei jungen Frauen schienen ihn gar nicht zu bemerken und zogen unbeirrt an ihm vorüber durch die halb offen stehende Tür in den Hof. Den Brautstrauß hielt Amalia fest in beiden Händen, während zur Linken und zur Rechten sich Julia und Veronika eingehakt hatten. Julia trug mit Bedacht die Schachtel, in der sich Amalias Kerze befand.
»Ich geh’ auch schon mal raus«, sagte der Novak und folgte den Frauen.
Durch die Scheibe der Hoftür sah Dr. Fried, wie Amalia ihrem »Onkel Novi« erneut um den Hals fiel. Der hielt den Filzzylinder von sich, damit ihm ja kein Leid geschehe, und als die Braut von ihm abließ, zog er ein schmales Kuvert aus seinem Sakko und überreichte es ihr mit feierlicher Miene. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, dachte sich Dr. Fried, der genau wusste, wie bescheiden der Lohn seines Mitarbeiters war, der niemals die Chance hätte, in die Gehaltsklassen akademischer Beamter aufzusteigen. Die Welt war manchmal ungerecht.
Erneut schwappte ihm ein genuscheltes »’tschuldigung« entgegen und Dr. Fried trat schon wieder zur Seite, um dem heranrasenden Kellner auszuweichen. Dabei geriet er gefährlich nah an den Tisch eines älteren Paares, das sich schweigend gegenübersaß und tief in die Augen blickte. Verliebtheit in reiferen Tagen, überlegte Dr. Fried amüsiert und gönnte es den beiden. An einem Tag wie diesem!
»Hierher!«, rief Dr. Fried, als er Frau Ritter von Becker und Lucia eintreten sah. Die Hochzeitsgesellschaft schien sich tatsächlich in Kleinstgruppen im Lokal einzufinden.
Wenn das so weiter ging, würde es wenigstens eine halbe Stunde dauern, bis alle beisammen waren. Und das für einen Weg, der bei normalem Schritttempo ein bis eineinhalb Minuten in Anspruch nehmen sollte.
Der ältere Mann an dem Tisch, dem Dr. Fried so bedrohlich nah gekommen war, hatte einen Teller Suppe vor sich stehen. Als aufmerksamer Beobachter bemerkte Dr. Fried, dass der Inhalt des Tellers nicht dampfte. Der Mann musste seine Suppe kalt werden gelassen haben über sein ununterbrochenes fasziniertes Starren auf die Frau ihm gegenüber.
Eigentlich hatte sich Dr. Fried vorgestellt, dass alle schnell eintreffen würden und er den Mittagstisch mit einer kurzen Rede eröffnen könnte. Einer Rede über die Zukunft der beiden jungen Eheleute – indirekt über seine eigene Zukunft, die nun eine andere Richtung nahm. Stattdessen spazierte Georg gelassen mit Wilhelm auf ihn zu. Wilhelm wirkte wieder wie ein normaler Jugendlicher, abgesehen von dem an ihm deplatziert wirkenden Festanzug.
»Macht es euch draußen schon mal gemütlich«, schickte Dr. Fried sie gleich weiter. »Wenn alle da sind, werde ich kurz das Kommando übernehmen.«
Georg lächelte vielsagend, als wollten seine Lippen den Satz »Du hast doch sowieso alles unter deinem Kommando« zurückhalten. Er legte seine Hand auf Wilhelms Rücken und schob ihn zwischen Dr. Fried und einem böse dreinblickenden Kellner vorbei.
»Enge Stube«, murmelte Georg und ging mit ausgestreckten Armen auf die Braut zu.
Dr. Fried dachte sich nichts bei Georgs Verhalten. Es war die Mühe nicht wert. Gerade trippelte alleine und verlassen Max Beckers Schwester herein. Sie wirkte hilflos und ohne Orientierung, also nahm Dr. Fried sich ihrer an und führte sie in den Hof hinaus. Er musste ja nicht den Haushofmeister spielen und alle empfangen, die anderen würden den Weg zur Festgesellschaft schon finden.
Platz genommen hatte bislang niemand. Der Novak stand aber bereits hinter seinem Stuhl, die Hände auf die