Wiener Hochzeitsmord. Michael Ritter
Читать онлайн книгу.Als Notar legte er Wert auf Genauigkeit und Zuverlässigkeit in allen Lebenslagen. Diese Eigenschaft hatte die beiden Brüder mehr auseinandergetrieben als zusammengebracht. Nicht dass sie zerstritten wären, nicht im Geringsten. Dr. Otto Fried liebte seinen Bruder Albert und Dr. Albert Fried liebte seinen Bruder Otto. Da gab es keinen Zweifel. Ihre Bruderliebe wuchs allerdings im selben Maße, in dem sie Distanz zueinander wahrten – räumlich wie zeitlich.
Wann hatten sie einander das letzte Mal gesehen? Dr. Fried dachte an das Begräbnis seiner Frau, aber so lange konnte es nun auch wieder nicht her sein. Das wäre eine Schande gewesen, den eigenen Bruder eine so lange Zeit … Nein, das konnte nicht stimmen. Die Verlobungsfeier! Natürlich! Vor ziemlich genau einem Jahr, in den Weinbergen Wiens, als Picknick gestaltet. Dr. Albert Fried hatte von dem Bräutigam seiner Nichte denselben Eindruck gehabt wie Dr. Otto Fried und es dem Bruder gleich zugeflüstert: »Eine gute Wahl, dieser junge Mann. Gratuliere. Der wird seinen Weg machen.«
Dr. Albert Fried trug einen Backenbart, in dem nur mehr marginale Spuren des ehemaligen tiefen Schwarz zu erkennen waren, das zudem dereinst sein üppiges Haupthaar bestimmt hatte. Üppig war es immer noch, doch inzwischen begann sogar schon das Grau zu weichen und einem bleichen Weiß Platz zu machen.
Ganz anders Dr. Otto Fried: Sein Gesicht war glatt rasiert, einzig als junger Mann hatte er einmal mit einem Oberlippenbart geliebäugelt. Es waren jene Zeiten gewesen, in denen er seine Wirkung auf junge Frauen hatte testen wollen. Er war vielleicht nicht gerade unwiderstehlich, aber auch nicht völlig erfolglos. Und sein Haupthaar – nun ja, die Fülle wie bei seinem Bruder hatte er selbst als Kind nicht aufbringen können. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden.
Das Haustor wurde geöffnet und die alte Frau, die Dr. Fried bei seinem ersten Besuch bei Pater Anzelm begegnet war, streckte ihren mageren Kopf heraus. Sie musterte die Versammelten auf der Straße und schien sie aufgrund der festlichen Kleidung für die richtige Gesellschaft zu befinden, denn mit einem einladenden Lächeln zog sie die Tür weiter auf und sagte etwas in ihrer Sprache, was »herein« oder »Kommen Sie bitte weiter« bedeutete.
»Zuerst ihr alle«, ordnete Dr. Fried an. »Wir kommen dann nach.«
Natürlich machte er von seinem väterlichen Vorrecht Gebrauch, die Braut persönlich vor den Altar zu führen, um sie dort dem Bräutigam zu übergeben. Max Becker legte kurz seine Hand auf Amalias Schulter, drückte sie sanft und strahlte sie an.
»Nimmst du sie?«, bat ihn Amalia und hielt ihm die Schachtel mit der Kerze entgegen. Er würde wissen, wo er sie aufzustellen hatte.
Während die kleine Hochzeitsgesellschaft der alten Frau die Treppe hinauffolgte, nahm Dr. Fried seine Tochter bei beiden Händen, der zarte Brautstrauß zwischen ihnen wie eine verbindende Brücke.
»Nun ist es also so weit«, sagte Dr. Fried und atmete schwer aus.
Er fühlte sich gut und er wusste, seiner Tochter ging es ebenso. Er drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange, als ein Rufen in seinem Rücken ertönte.
»Sind wir zu spät? Ihr habt doch noch nicht angefangen!« Es war Dr. Fried, Albert, der Notar, im Schlepptau seine Frau Victoria und sein Sohn Wilhelm. Er hatte ihn mit dem zweiten Vornamen seines Bruders benannt. Eines der wenigen Zeichen, dass zwischen ihnen beiden eine engere Verbindung bestand, als sie sich einzugestehen bereit waren.
Wilhelm war ein Nachzügler in der Familie Albert Fried. In Kürze würde er fünfzehn werden und hatte optisch wie charakterlich das meiste von seiner Mutter mitbekommen.
»Rauf mit dir!«, rief Dr. Otto Fried dem Neffen zu. Er war als Ministrant vorgesehen und Pater Anzelm wartete sicher schon auf ihn.
»Wir wollten deutlich früher hier sein«, entschuldigte sich Albert Fried und reichte seinem Bruder die Hand.
Der wandte sich zuerst Frau Dr. Albert Fried zu, begrüßte sie mit einem Handkuss und Küsschen links und rechts auf die Wange, dann griff er nach der kräftigen Hand seines Bruders. Sie blickten sich bei dem langen und festen Händedruck tief in die Augen, als ob jeder sich in der dahinterliegenden Seele des anderen wiedererkennen würde.
Wilhelm stürmte die Stufen hinauf, während die beiden Frieds und Amalia unten innehielten.
»Ich freue mich für dich«, wandte sich Dr. Albert Fried an seine Nichte.
Diese sah ihn mit einem milden Gesichtsausdruck an. Es war dem Verhältnis der beiden Männer zu verdanken, dass sie ihrem Onkel nicht oft im Leben begegnet war. Aber jedes Mal hatte er sich als ihr sehr zugewandter Mensch erwiesen.
»Dein Mann – dein zukünftiger Mann«, er grinste und blickte aus den Augenwinkeln zu Dr. Otto Fried hinüber, »ist ein großartiger Mensch. Als ich ihn damals bei eurer Verlobung kennenlernen durfte, war mir das sofort klar. Du hast eine gute Wahl getroffen, meine Kleine, und er noch viel mehr!«
Amalia ließ sich von ihrem Onkel in den Arm nehmen. Er roch nach Seife und einem dezenten Eau de Toilette.
»Es ist so weit!«, rief Wilhelm keuchend, der mit lauten Schritten die Stufen heruntergetrampelt kam.
Er trug den Talar und das strahlend weiße Rochett des Ministranten. Wild gestikulierend bedeutete er den dreien, ihm zu folgen.
»Na dann …«, sagte Dr. Albert Fried, nickte seinem Bruder zu, zwinkerte in Richtung Amalia.
Er folgte Wilhelm hinauf in die Kapelle. Dr. Fried und Amalia machten sich bereit, würdig und feierlich die Stufen hinaufzusteigen. Es waren die letzten Minuten, die letzten Sekunden, in denen Dr. Frieds Leben noch das alte war. So kann man den Wandel in Zahlen fassen, dachte er sich, als sie am Fuß der Treppe Position bezogen, fünfzehn Stufen, zehn Stufen, noch fünf Stufen – zehn Sekunden, neun, acht … Amalia hatte sich bei ihm eingehakt, diesmal befand sich das Brautsträußchen zwischen ihnen wie ein verbindender großer Knopf.
Schwerer Atem war plötzlich draußen vor dem Haustor zu hören. Dr. Fried wollte gerade die erste Stufe mit seiner Tochter nehmen, als sich ein schmaler Kopf und ein schweißglänzendes Gesicht zur Tür hereinschoben. Der Mann trug einen abgewetzten Filzzylinder, sein festlicher Anzug wirkte, als wäre er ihm wenigstens eine Nummer zu groß.
»Tut mir leid, ich bin wohl zu spät«, sagte der Mann schweratmend.
Amalia fiel ihm um den Hals, während er aus dem Hosensack ein weißes Taschentuch hervorfingerte und sich umständlich das Gesicht abwischte.
»Onkel Novi!«, rief Amalia freudig aus.
»Tut mir leid, Herr Doktor«, flüsterte der Novak in Richtung Dr. Fried, während die junge Frau seinen Hals umklammerte.
»Gehen S’ schnell rauf, Novak«, wies ihn Dr. Fried freundlich an. »Suchen S’ sich einen Platz, es geht gleich los.«
Wie als Kommando erklang die Orgel von oben herunter und spielte etwas unsicher den Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Der Novak stieg schnell die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und verschwand um die Ecke. Dr. Fried war verwundert, dass sein Assistent die Treppe auf so sportliche Weise bewältigte, aber ihm war in der letzten Zeit schon aufgefallen, dass dessen beeinträchtigtes Knie sich stärker belasten ließ als früher. Nun würde er also gleich schnellen Schrittes in die Kapelle hineinstürmen. Die Hochzeitsgäste würden sich wundern, dass er es war, der zu den musikalischen Klängen in die Kapelle trat, dachte sich Dr. Fried. Ja, er fühlte sich heiter und leicht.
»Gehen wir!«, forderte er seine Tochter auf und sie hakte sich erneut bei ihm unter.
Mendelssohn-Bartholdy beflügelte ihn. Er konnte sich nicht mehr erinnern, in welcher Stimmung er damals gewesen war, als er seine Frau diese Stufen nach oben geführt hatte. Sicher nicht so locker wie heute. Dabei veränderte auch dieser Tag sein Leben grundlegend, so wie es damals gewesen war. Die Stanislauskapelle schien ein Ort zu sein, der immer wieder massiv in seinen Lebenslauf eingriff.
Maximilian Ritter von Becker stand vor dem Altar, der weit geöffneten schmalen Tür zugewandt, durch die Dr. Fried und Fräulein Dr. Amalia Wilhelmina Fried vor die Festgäste und vor Gott traten. Dr. Fried übergab seine Tochter