Tatort Oberbayern. Jürgen Ahrens

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Tatort Oberbayern - Jürgen Ahrens


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selten hier gewesen war. Noch immer stand das alte Gasthaus unter dem Schutz einer riesigen Kastanie, die jetzt im Juli mit ihrem gigantischen Blätterwerk als Sonnenschirm für die Tische des Biergartens diente. Für einen Samstag im Sommer war wenig los an den Tischen, ein paar Einheimische saßen beim Bier, Essen hatten nur wenige vor sich stehen. Vielleicht entsprach die deftige, bayerische Küche im Adler nicht mehr den heutigen Ansprüchen, überlegte Katharina.

      Wie früher roch es nach Frittierfett – für Katharina ein köstlicher Duft, da sie mit ihm Pommes frites verband, eine Delikatesse, die ihr in ihrer Jugend meist verwehrt geblieben war. Fett war verpönt bei Katharinas gesundheitsbewusster Mutter, ebenso wie Fast Food. Wahrscheinlich deshalb hatte die Tochter bis heute eine ausgeprägte Vorliebe für Dönerbuden und Burger. Ihre Mutter hingegen war ihrer Linie treu geblieben und arbeitete inzwischen erfolgreich als Heilpraktikerin.

      Ohnehin hatte Klein-Katharina mit ihren Eltern selten im Adler gegessen, das konnte sich die Familie damals nicht leisten. Ein Tagesausflug an den Chiemsee war teuer genug bei einem Polizistengehalt. Da musste die Brotzeit mitgebracht werden. Warm gegessen wurde abends zu Hause. Katharina hatte dann voller Neid zu den Familien rübergeschielt, die dort sonntags zu Mittag aßen, ohne auf die Preise und den Fettgehalt der Speisen zu achten. Sie hatte höchstens eine Apfelschorle bekommen, an Festtagen Limo, wenn ihre Eltern im Adler einen Kaffee tranken. Katharinas Weg führte anschließend meist zum Kiosk gegenüber. Mit ihrem Taschengeld zumindest durfte sie machen, was sie wollte. Und das investierte sie bei Breitbrunn-Ausflügen in Brausestangen, weiße Schokolade, bunte Gummitiere und Chips. Voller nostalgischer Gefühle betrat sie den Adler.

      Zum Jesusstüberl ging es auf ausgetretenen Fliesen in einen kleinen Raum direkt gegenüber der Küche. Katharina hatte noch den verlockenden Geruch von Schweinsbraten in der Nase, als sie die Stube betrat.

      Drei Biertische, karierte Tischdecken, Plastikblumengestecke und schwere Holzstühle. Der Namensgeber der Stube fehlte nicht, er hing links im Eck am Kreuz und sah aus, als bewachte er seine Schäfchen.

      Robert Adelhofer war allein.

      Passenderweise hatte er sich direkt unter dem Holz-Jesus platziert, vor ihm stand eine Tasse Kaffee.

      »Frau Langenfels, danke, dass Sie gekommen sind.« Robert stand auf, schenkte Katharina ein freundliches Lächeln und drückte ihr erneut die Hand. Insgesamt wirkte er nach wie vor wie der »Bruder in Trauer«, ob das echt war, wagte Katharina noch nicht zu beurteilen.

      »Herr Adelhofer, ich möchte von Anfang an offen zu Ihnen sein. Ich war überrascht, als Ihr Manager uns ein Exklusivinterview angeboten hat. Um spätere Schwierigkeiten zu vermeiden, muss ich Ihnen zunächst eine Frage stellen, die dem Anlass höchst unangemessen ist. Aber das ist ein Exklusivinterview zum Tod Ihres Bruders eigentlich auch, nicht wahr? Natürlich verstehe ich, dass Sie in Ihrer Position nicht darum herumkommen, mit den Medien zu sprechen.« Falls Adelhofer die Spitzen verstanden hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er saß nur da, schaute Katharina an und schien aufmerksam zuzuhören.

      »Wie viel wollen Sie für dieses Gespräch?«

      Robert lächelte kurz, dann nahm sein Gesicht erneut ernste Züge an und er sprach im Ton des verständnisvollen Geschäftspartners:

      »Das ist doch kein Problem, Frau Langenfels, natürlich müssen Sie mir diese Frage stellen. Ich kann Sie beruhigen. Es mag Ihnen ungewöhnlich erscheinen, ich werde umsonst mit Ihnen sprechen. Aus dem Tod meines Bruders Profit zu schlagen, erschiene mir in höchstem Maße unmoralisch. Was Herr Wedel und ich überlegt haben, ist, Kontakt mit Silke Heinrich aufzunehmen.«

      Katharina ahnte nichts Gutes.

      »Silke Heinrich, Sie wissen, die bewundernswert starke Witwe des Fußballers Sven Heinrich, der sich erhängt hat. Ich möchte sie für nächste Woche in meine Sendung einladen und für ihre Stiftung zur Behandlung von Depressionen Geld sammeln. Es sieht nach außen hin anders aus, ich denke trotzdem, die Schicksale von Sven Heinrich und meinem Bruder lassen sich durchaus vergleichen.«

      Dass der Fernsehauftritt von Heinrichs Witwe beautiful Robert beautiful Quoten bescheren würde, spielte bei diesen großherzigen Plänen natürlich keinerlei Rolle, dachte Katharina. Nur gut, dass Silke Heinrich bestimmt viel zu klug sein würde, um darauf einzusteigen.

      Dies behielt Katharina für sich und fragte stattdessen interessiert: »Inwiefern sehen Sie Parallelen zwischen dem Leben und Sterben von Sven Heinrich und Ihrem Bruder?«

      »Nun, Depressionen sind – wie wir heute wissen – oft ein bereits in den Genen angelegtes Krankheitsbild. Menschen, denen es an nichts fehlt, die nach außen ein glückliches, privilegiertes Leben führen, erkranken daran. Einfach nur deshalb, weil es ihnen in die Wiege gelegt wurde. Von einer depressiven Mutter oder einem depressiven Vater.«

      »Und dies trifft – verzeihen Sie – traf auf Ihren Bruder Lukas zu?«

      Robert blickte traurig zu Boden, während er leise sagte:

      »Sie haben meine Mutter heute am Grab gesehen. Ich fürchte, sie steht immer noch da. Wir waren beide eben noch mal bei ihr, mein Vater und ich. Wir kommen nicht an sie ran. Sie ist wie erstarrt.«

      »Daraus schließen Sie, dass Ihre Mutter krankhaft depressiv ist und dies an ihren Sohn Lukas weitervererbt hat?« Katharina fiel es schwer, diese Ungeheuerlichkeiten auszusprechen.

      »Zumindest gibt es viele Kindheitserinnerungen, in denen ich eine traurige Mutter vor Augen habe, eine weinende Mutter, eine verzweifelte Mutter. Wie man weiß, müssen diese Dinge nicht vererbt werden, aber sie können. Ich scheine derjenige zu sein, der verschont wurde, und der arme Lukas eben nicht.«

      »Herr Adelhofer, entschuldigen Sie, dass ich es an diesem schwierigen Tag anspreche. Es gab immerhin in Lukas’ und Ihrem Leben ein einschneidendes Ereignis, das sein weiteres Leben beeinflusst haben könnte.«

      Robert raufte sich die Haare und wirkte etwas verunsichert.

      »Natürlich, Frau Langenfels. Mein Bergwinter, und was danach kam, war logischerweise für unser beider Leben von entscheidender Bedeutung. Aber es ist gut ausgegangen. Ich hätte Depressionen kriegen müssen hinterher, nicht er. Ich kam traumatisiert zurück, Lukas war der wunderbare große Bruder, der mich berühmt gemacht hat. Nein, glauben Sie mir, das sind die Gene«, flüsterte er verschwörerisch.

      »Nur eine letzte Frage noch: Sie haben – dem Anschein nach – Ihre Zeit in den Bergen gut überstanden. Würden Sie sagen, es geht Ihnen heute richtig gut?«

      »Keine Sorge, Frau Langenfels. Sie sehen einen voll im Saft stehenden bayerischen Buben vor sich. Mit allem, was dazugehört – und ohne psychische Probleme, falls Sie das meinen.«

      »Und Ihr Bergtrauma haben Sie in den Griff bekommen? Eine Ihrer ersten ›Krise‹-Sendungen hatte das Thema: ›Traumata bewältigen – Rückkehr an den Ort des Schmerzes‹. Damals sagten Sie, so weit seien Sie noch nicht, die Berge seien ein großes Tabu für Sie. Aber das ist ja schon vier Jahre her.«

      Robert Adelhofer grinste verlegen.

      »Ertappt. Nein, die Berge werden wohl für den Rest meines Lebens nicht mehr zur Liste meiner Aufenthaltsorte gehören.«

      Katharina lächelte ihn an. »Danke, Herr Adelhofer, für dieses offene Gespräch. Es war interessant für mich. Besonders froh bin ich, dass wir die Geschichte mit dem Trauma klären konnten. Ich habe tatsächlich falsche Informationen zugespielt bekommen.«

      Adelhofer schaute überrascht. »Ich verstehe nicht?«

      Katharina legte nach: »Ach, es gibt einige Leute, die behaupten, Sie nach Ihrem Bergwinter in den Bergen gesehen zu haben. Angeblich gibt es Fotos. Aber das können Sie dann ja nicht gewesen sein. Gut, ich werde mal gehen. Wenn ich noch Fragen habe, darf ich Sie sicher anrufen.«

      Katharina stand auf und war schon an der Tür vom Jesusstüberl, als Adelhofer nachhakte:

      »Frau Langenfels, entschuldigen Sie meine Neugier, wer behauptet das? Ich muss auf der Hut sein, bei übler Nachrede schalte ich sofort meinen Anwalt ein.«

      Katharina


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