Reise um den Mond. Jules Verne

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Reise um den Mond - Jules Verne


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da dieser Ausdruck nicht mehr zutrifft, der Zeitraum von zwölf Stunden, der auf der Erde einen Tag ausmacht, endete mit einem üppigen Abendessen, das fein zubereitet war. Bislang war noch nichts vorgefallen, was den Reisenden ihre Zuversicht hätte schwächen können. Darum schliefen sie auch voller Hoffnung, ihres Erfolges sicher, ruhig ein, während das Projektil die Himmelsbahnen mit gleichmäßig abnehmender Geschwindigkeit durchquerte.

      VIERTES KAPITEL Ein wenig Algebra

      D

      ie Nacht verlief ohne einen Zwischenfall. Korrekterweise muss man sagen, dass die Bezeichnung ›Nacht‹ in diesem Falle eigentlich unpassend ist. Denn auf die Stellung zur Sonne bezogen blieb die Position des Projektils unverändert. Astronomisch ausgedrückt herrschte auf der unteren Seite des Projektils Tag, auf der oberen Seite Nacht. Wenn nun im weiteren Verlauf dieser Erzählung diese beiden Ausdrücke gebraucht werden, ist darunter immer der Zeitraum zu verstehen, der auf der Erde zwischen Auf- und Untergang der Sonne verstreicht.

      Die Reisenden schliefen durchaus ruhiger, weil das Projektil trotz seiner hohen Geschwindigkeit wie unbeweglich erschien. Das Hingleiten durch den Raum gab keine Bewegung zu erkennen. Die Ortsveränderung, so schnell sie auch vonstatten geht, kann sich auf den Organismus nicht merklich auswirken, wenn sie sich im leeren Raum abspielt oder wenn die den Körper umgebende Luft gleichzeitig mit fortbewegt wird. Welcher Erdbewohner bemerkt schon die Geschwindigkeit, in der sich die Erde stündlich um 90.000 Kilometer dreht. Unter diesen Bedingungen empfindet man die Bewegung genauso wenig wie den ruhenden Zustand. Jeder Körper verhält sich in dieser Hinsicht gleich. Befindet er sich im Ruhezustand, so bleibt er solange darin, bis ihn irgendeine äußere Gewalt von seinem Platz bewegt. Ist er in Bewegung, so bleibt diese bestehen, wenn diese Bewegung nicht durch ein Hindernis gehemmt wird. Dieses Gleichgewicht zwischen Bewegung und Stillstand nennt man Schwerelosigkeit. Im Projektil eingeschlossen konnten Barbicane und seine Genossen also meinen, sie seien in völliger Unbeweglichkeit.

      Im Übrigen: Auch wenn sie sich außerhalb des Projektils befunden hätten, wäre die Wirkung dieselbe gewesen. Hätte nicht der Mond über ihnen ständig an Größe zugenommen, so hätten sie schwören können, dass sie sich in einem vollständig bewegungslosen Zustand befanden.

      Am 3. Dezember wurden die Reisenden morgens früh von einem munteren, ganz unvermuteten Geräusch geweckt. Es war das Krähen eines Hahnes, der sich im Projektil befand. Michel Ardan sprang auf, kletterte zu seiner Kammer empor, verschloss eine halbgeöffnete Kiste und flüsterte:

      »Willst du wohl still sein! Das Tier bringt meinen Plan noch zum Scheitern.«

      Indessen waren Nicholl und Barbicane erwacht.

      »Ein Hahn?«, fragte Nicholl.

      »Oh nein! Meine Freunde«, erwiderte Michel beschwingt. »Ich habe diesen ländlichen Ton hervorgebracht, um euch zu wecken!« Und dazu ließ er ein prachtvolles ›Kikeriki‹ erschallen, welches dem stattlichsten Gockelhahn Ehre gemacht hätte.

      Die beiden Amerikaner lachten unwillkürlich.

      »Eine nette Begabung«, sagte Nicholl mit einem argwöhnischen Blick auf seinen Genossen.

      »Ja«, erwiderte Michel, »ein echt gallischer Spaß, wie er in meiner Heimat üblich ist, und zwar in den besten Gesellschaften!« Dann fuhr er ablenkend fort: »Weißt du, Barbicane, woran ich die ganze Nacht gedacht habe?«

      »Nein«, erwiderte der Präsident.

      »An unsere Freunde in Cambridge! Du hast ja bereits bemerkt, dass ich in mathematischen Dingen ein unnachahmlicher Ignorant bin. Ich kann mir deshalb nicht erklären, wie die Gelehrten vom Observatorium auszurechnen imstande waren, welche Anfangsgeschwindigkeit das Projektil, als es aus der Kanone kam, haben musste, um bis zum Mond zu gelangen.«

      »Du meinst«, sagte Barbicane, »bis zu dem neutralen Punkt, an dem sich die Anziehungskräfte der Erde und des Mondes ausgleichen. Denn von diesem Punkte an, in etwa nach der Bewältigung von neun Zehnteln der gesamten Fahrt, wird das Projektil lediglich aufgrund seines Eigengewichtes auf den Mond fallen.«

      »Klar«, gab Michel zurück, »aber ich frage nochmal: Wie konnten sie die Anfangsgeschwindigkeit berechnen?«

      »Nichts leichter als das«, entgegnete Barbicane.

      »Und wärst du dazu in der Lage, diese Berechnung anzustellen?«, fragte Michel Ardan.

      »Vollständig. Wenn uns das Observatorium diese Mühe nicht abgenommen hätte, hätte ich sie ohne weiteres mit Nicholl aufgestellt.«

      »Mein geschätzter Barbicane«, erwiderte Michel Ardan darauf, »mir hätte man eher den Kopf über den Füßen abschneiden können, als dass ich diese Aufgabe zu lösen vermocht hätte!«

      »Weil du eben nichts von Algebra verstehst«, entgegnete Barbicane ruhig.

      »Ah! Mein Gott, was seid ihr für Buchstabenfresser! Ihr glaubt, mit eurer Algebra alles fertig bringen zu können.«

      »Michel«, entgegnete Barbicane, »meinst du, man könne ohne Hammer schmieden oder ohne Pflug ein Feld bestellen?«

      »Schwerlich.«

      »Also! Die Algebra ist ein Werkzeug wie ein Pflug oder ein Hammer, und für den, welcher sich damit auskennt, ein vortreffliches Werkzeug.«

      »Ach, im Ernst?«

      »Ja, das ist sehr ernst gemeint!«

      »Und du könntest in meiner Gegenwart von diesem Werkzeug Gebrauch machen?«

      »Wenn es dich interessiert?«

      »Und mir zeigen, wie man die Anfangsgeschwindigkeit unseres Projektils ausgerechnet hat?«

      »Ja, mein werter Freund. Indem ich alle Elemente des Problems berücksichtige: die Entfernung des Zentrums der Erde von dem des Mondes, den halben Durchmesser der Erde, die Erdmasse und die Mondmasse. Anhand dieser Elemente kann ich ganz genau berechnen, wie groß die Anfangsgeschwindigkeit des Projektils sein musste, und zwar mithilfe einer simplen Formel.«

      »Lass hören! Welche Formel?«

      »Du sollst sie zu hören bekommen. Nur werde ich dir nicht die krummen Linien bezeichnen, welche das Projektil zwischen der Erde und dem Mond beschreibt, indem ich ihre Bewegung um die Sonne mit in die Rechnung einbeziehe. Sondern ich will die beiden Gestirne als unbewegt voraussetzen, das reicht für unseren Zweck aus.«

      »Und weshalb?«

      »Weil ich sonst die Lösung der Aufgabe suchen würde, die man das Problem der drei Körper nennt, wozu die Integralrechnung noch nicht weit genug ausgereift ist.«

      »Demnach«, sagte Michel Ardan in spöttischem Ton, »haben die Mathematiker noch nicht ihr letztes Wort gesprochen?«

      »Allerdings nicht«, erwiderte Barbicane.

      »Gut! Vielleicht sind die Seleniten in der Integralrechnung etwas weitergekommen! Und nebenbei: Was bezeichnet man denn als Integralrechnung?«

      »Diese Rechenart ist das Gegenteil von der Differentialrechnung«, erklärte Barbicane mit würdigem Ernst.

      »Danke verbindlichst.«

      »Mit anderen Worten, es handelt sich um eine Rechenart, mit der man die bestimmten Größen sucht, deren Differentiale man kennt.«

      »Das ist wenigstens deutlich ausgesprochen«, erwiderte Michel mit der zufriedensten Miene.

      »Und nun«, fuhr Barbicane fort, »gebt mir ein Stückchen Papier und einen Bleistift. Und vor Ablauf einer halben Stunde will ich die gewünschte Formel gefunden haben.«

      Darauf vertiefte sich Barbicane in seine Arbeit, während Nicholl in den Weltraum hinaussah und es seinen Kameraden überließ, für das Frühstück zu sorgen. Noch bevor eine halbe Stunde vergangen war, hob Barbicane den Kopf und zeigte Michel eine ganze Seite voll mit algebraischen Zeichen, darunter auch die gesuchte, allgemeine Formel:

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