Wohltöter. Hansjörg Anderegg

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Wohltöter - Hansjörg Anderegg


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Nach einem kurzen Telefongespräch führte sie Miss Jones ohne ein weiteres Wort durch die langen Gänge an einen verlassenen Arbeitsplatz im Erdgeschoss.

      »Dr. Roberts ist noch im Labor. Er wird Sie gleich begrüßen«, sagte die Sekretärin und ließ sie stehen.

      »Danke, Miss …«, rief ihr der DCI nach, doch sie war schon zu weit weg, um den subtilen Sarkasmus zu bemerken.

      »Nette Gesellschaft hier«, murmelte Chris.

      Rutherford schnaubte verächtlich, antwortete nur mit einem Wort, das offenbar alles erklärte: »Cambridge.«

      »Tut mir leid, dass Sie warten mussten, Detectives«, sagte eine warme Männerstimme, die ein paar der empfindlichsten Saiten in Chris spontan zum Schwingen anregte. Die restlichen Saiten begannen vibrieren, als Dr. Roberts ihr die Hand gab. Der Mann, der lässig im offenen weißen Mantel vor ihr stand, hatte ungefähr ihr Alter. Er war ein bisschen größer als sie, sein Mund auf ihrer Augenhöhe umrahmt von Lippen, an denen sie sich jetzt schon nicht sattsehen konnte. Und er schaute sie so betroffen an, als müsste er ihr die denkbar schlechteste Diagnose stellen und wüsste beim besten Willen nicht wie. Mit weichen Knien murmelte sie eine unverständliche Begrüßung und zog ihre Hand im letzten Moment zurück, bevor ihr der Schweiß ausbrach. Befremdet stellte sie fest, wie der junge Mann den DCI mit genau dem gleichen Diagnose-Blick begrüßte.

      »Bitte nehmen Sie Platz in meiner Präsidentensuite. Ich muss mich für die Unordnung entschuldigen.« Diagnose-Blick zu Chris, dann fragte er: »Was kann ich für Sie tun, Detectives?«

      Welcher Teufel ritt den DCI, dass er ihr bedeutete, diesen Doktor zu befragen? Sie räusperte sich umständlich, versuchte, sich auf den Fall zu konzentrieren und klärte Dr. Roberts über den Obduktionsbefund auf, ohne unnötige Einzelheiten zu nennen.

      »Eine Schweineniere«, wiederholte er ungläubig. »So etwas hat man bisher nur in der Theorie diskutiert.«

      »Das meinte auch Professor Pickering. Seiner Ansicht nach wird Xenotransplantation nirgends praktiziert. Würden Sie das bestätigen?«

      »Absolut. Wir beschäftigen uns zwar hier nicht selbst mit Transplantationen, dafür sind Kliniken zuständig, wie das ›Addenbrooke’s‹ nebenan. Aber als Forschungseinrichtung für regenerative Medizin stehen wir in engem Kontakt mit den Spezialisten. Nein, eine Schweineniere zu verpflanzen, würde keinem dieser Leute einfallen, da bin ich mir sicher.«

      »Und doch ist es offenbar geschehen.«

      »Ja, vollkommen unglaublich.« Wieder schaute er sie fast erschrocken an. »Ich kann es nicht fassen.«

      Sie ertrug den Blick nicht länger, tat, als konsultierte sie ihre Notizen und fragte weiter: »Was können Sie uns über die seltsamen Zellen sagen, die unsere Pathologin entdeckt hat?«

      »Die adulten Stammzellen?«

      »Wenn Sie es sagen …«

      »Ich müsste das Nephron natürlich selbst untersuchen, um eine fundierte Aussage machen zu können. Aus Ihrer Beschreibung schließe ich aber, dass es sich bei den menschlichen Nierenzellen um Material handelt, das man wahrscheinlich aus Stammzellen gewonnen hat. Da ich nicht annehme, dass embryonale Stammzellen des Mannes zur Verfügung standen, kann ich mir nur zwei Möglichkeiten vorstellen: Entweder hat man gesundes Nephron aus den entfernten Nieren retten können, oder man hat Stammzellen aus anderem gesundem Gewebe des Mannes gezüchtet, zum Beispiel aus Hautzellen. Solche Stammzellen kann man anschließend zu Nierenzellen umprogrammieren. Aber das sind alles Spekulationen.«

      DCI Rutherford schaltete sich ein. »Sie produzieren hier solche Zellen – wie heißen die noch mal?«, fragte er misstrauisch.

      »Adulte Stammzellen. Ja, das ist einer der wichtigsten Forschungszweige am Institut. Ich selbst beschäftige mich seit einem Jahr ausschließlich mit der Regenerierung von Nierengewebe.« Beim Anblick der überraschten Gesichter brach er in Gelächter aus. »Entschuldigen Sie. Bevor Sie mich jetzt verhaften, muss ich darauf hinweisen, dass sich allein in Großbritannien fast zwanzig Forschungseinrichtungen mit dem gleichen Thema befassen. Das Gebiet der regenerativen Medizin ist riesig und das Zukunftsthema der Medizin.«

      Der DCI gewann seiner Bemerkung nichts Heiteres ab. Düster sagte er: »Wir brauchen die Liste aller Institute.«

      Dr. Roberts setzte sich an seinen Computer. »Kein Problem«, meinte er. »Soll ich sie ausdrucken oder mailen?«

      »Beides – bitte«, verlangte Chris hastig, bevor der DCI es sich anders überlegte. Sie hatte das Gefühl, Dr. Roberts Mailadresse in Zukunft noch zu benötigen. Sie gab ihm ihre Visitenkarte. »Hier steht alles drauf«, erklärte sie unnötigerweise. »Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Ihnen etwas einfällt, was wichtig für uns sein könnte.«

      »Ich nehme Sie beim Wort, Detective Sergeant«, schmunzelte er, steckte die Karte ein und gab ihr den Ausdruck.

      Der DCI betrachtete die lange Liste argwöhnisch. »Sind das alle?«

      »Alle in Großbritannien.«

      »Und jedes dieser Institute hat die Fähigkeit, solches Nierengewebe herzustellen?«

      »Theoretisch ja. In der Praxis allerdings …«

      »Ja?«

      Chris musste sich abwenden. Dr. Roberts leicht verlegenes Lächeln ertrug sie nicht.

      »In der Praxis«, fuhr er fort, »fürchte ich, sind wir das einzige Labor, das sich auf die Erzeugung menschlichen Nephrons spezialisiert hat. Allerdings haben wir nichts mit Schweinenieren zu tun.«

      »Interessant«, murmelte Rutherford mit steinerner Miene.

      »Allerdings«, stimmte Dr. Roberts zu. »Je länger ich über Ihren Obduktionsbefund nachdenke, desto rätselhafter erscheint er mir.«

      Chris wagte einen Blick. »Was meinen Sie damit?«

      Die Verpflanzung von Zellmaterial aus iPSC …«

      »Bitte?«

      »Entschuldigen Sie. iPSC ist nur eine Abkürzung für die Stammzellen, über die wir vorher gesprochen haben. Der Begriff bedeutet ›induced pluripotent stem cells‹, also erwachsene, spezialisierte menschliche Zellen, die man in Stammzellen zurückverwandelt hat. Solche Stammzellen kann man anschließend zu praktisch jedem beliebigen Zelltyp umprogrammieren. Daher die Bezeichnung pluripotent. Das Hauptproblem dabei ist, dass die Herstellung der iPSC kompliziert, langwierig und sehr ineffizient ist, ebenso die Spezialisierung. Bei der heute üblichen Methode entsteht so ein Brei aus, beispielsweise, Nierenzellen und nicht umgewandelten iPSC. Diese verbleibenden Stammzellen können extrem gefährlich werden. Es besteht ein hohes Risiko, dass ein solches Gewebe karzinogen wird.«

      »Sie lösen Krebs aus«, ergänzte Chris nachdenklich.

      Er nickte. »Ich kann Ihnen das gerne im Labor zeigen.«

      Diesmal war der DCI schneller. »Das wird nicht nötig sein, Doctor«, winkte er ab. »Wir bedanken uns erst einmal für Ihre Auskünfte und würden gerne auf Sie zurückkommen, wenn wir weitere Fragen haben. Ist das in Ordnung?«

      »Selbstverständlich, wird mir ein Vergnügen sein.«

      Der Diagnose-Blick! Chris erwiderte seinen Händedruck beim Abschied nur flüchtig. Schnell wandte sie sich ab und folgte dem DCI zum Ausgang.

      Im Wagen beobachtete der Rutherford sie eine Weile spöttisch, dann fragte er: »Haben Sie mitbekommen, dass der gute Dr. Roberts sich gerade als einer der Hauptverdächtigen profiliert hat?«

      »Nett von ihm, nicht wahr?«, lächelte sie gequält. »Ich kann mir allerdings nur schwer vorstellen, dass er etwas mit unserer Schweineniere zu tun hat. Er müsste schon ein außerordentlich begabter Lügner sein. Und warum sollte er uns auf die Nase binden, dass ausgerechnet er auf dem Gebiet künstlicher Nierenzellen forscht?«

      »Eben weil er ein guter Lügner ist. Und weil wir das sowieso herausfinden würden.«

      »Glaube ich nicht«,


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