Wohltöter. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.hatte die Gelegenheit, ein spannendes Projekt an der Uni zu übernehmen. Wir wollen die chemische Bodenbeschaffenheit der ganzen Insel katalogisieren.«
»Da hast du dir einiges vorgenommen.«
»Allerdings. Die Beschaffung und Analyse der Proben grenzt schon an Sisyphusarbeit, aber die echten Probleme beginnen mit dem Indizieren. Die Datenbank soll allgemein für möglichst verschiedenartige Zwecke zur Verfügung stehen. An dieser Knacknuss arbeiten wir noch.«
»Mich überrascht, dass ihr eure Geologie noch nicht vollständig erfasst habt«, meinte Chris erstaunt.
May lachte. »Natürlich ist das längst geschehen, aber unser Projekt geht viel weiter. Wir messen die chemische Zusammensetzung so genau, dass die Herkunft jeder Bodenprobe praktisch auf den Quadratkilometer genau bestimmt werden kann.«
»Alles klar. Der Traum jedes Kriminalisten.«
»Wer weiß schon, wovon ihr träumt, Detective.«
»Detective Sergeant«, grinste Chris.
Nicht jede Begegnung auf dieser Party verlief so harmonisch. Auf der Toilette stellte sie Lizzy die falsche Frage. Die Antwort interessierte sie nicht im Geringsten. Sie wollte nur höflich sein, nicht wortlos an Marcus’ letzter Eroberung vorbeigehen.
»Schon gepackt?«, fragte sie arglos.
Lizzy schaute sie entsetzt an, dann brach sie in Tränen aus und warf sich heulend an ihre Brust. Sie schluchzte hemmungslos, dass Chris nicht wusste, wohin sie blicken und was ihre Hände tun sollten. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff: Lizzy musste zu Hause bleiben. In den Geologen-Camps am Kap Hoorn und in der Antarktis gab es weder Platz noch Arbeit für ein Model.
Ihr gesellschaftliches Soll war für heute erfüllt. Sie griff noch einmal zum Saxophon und spielte Marcus zum Abschied einen Ausschnitt aus dem ›Farewell Blues‹ in der Version von Charlie Parker. Solo, schnell. Es sollte ein fröhlicher Abschied werden, obwohl sie das Stück schon in besserer Stimmung interpretiert hatte.
Wie in einem schlechten Film zogen auch draußen wieder schwarze Wolken auf, als sie das Lokal verließ. Die ersten Tropfen fielen, kurz bevor sie den Bahnhof erreichte. Auf der Rückfahrt betrachtete sie eine Weile die flüssigen Gemälde, die der Regen auf die Fensterscheibe zeichnete. Den Rest der Strecke versuchte sie, dösend die Leere in ihrem Innern zu vergessen.
Eine leichte Berührung weckte sie. »Your phone, Madam«, sagte der sichtlich ungeduldige Herr gegenüber.
Sie murmelte eine Entschuldigung, während sie das Handy aus der Tasche klaubte. Anrufer unbekannt stand auf dem Display. Missmutig drückte sie die Empfangstaste. »Hallo?«
»DS Hegel?«
Diese Stimme kannte sie. Ihr Puls beschleunigte sich. Es kostete sie einige Anstrengung, ruhig und freundlich zu antworten: »Dr. Barclay, was kann ich für Sie tun?«
»Nichts, meine Teure, aber ich kann etwas für Sie tun. Sie müssen herkommen.«
»Was – wohin soll ich?«, stammelte sie verblüfft.
»Zu mir in die Gerichtsmedizin. Es gibt Neuigkeiten.«
»Es ist Samstag. Ich bin nicht im Dienst. Hat das nicht Zeit …«
»Nein.«
Keine Verbindung mehr. Wie lange dauerte es wohl, sich an Mad Barclays erratischen Charakter zu gewöhnen, falls man es überhaupt schaffte? Die bohrende Frage beschäftigte sie, bis der Zug in der Paddington Station hielt.
Scotland Yard, London
Der Regen erwischte Chris doch noch auf den wenigen Schritten vom Taxi zum Gebäude. Sie wischte sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht und steckte den Ausweis in den Schlitz. Der Beamte an der Sicherheitsschleuse schmunzelte beim Anblick ihres Instrumentenkoffers.
»Etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie spitz.
Der Uniformierte schüttelte den Kopf. »Sorry, Detective Sergeant, ich fragte mich nur, ob das Orchester nun komplett sei.«
»Wieso – sind noch mehr Musiker in der Pathologie?«
»Das nicht, aber ihre Kollegen sind schon da.«
Kollegen. Plural. Der Mann konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie diese Information erleichterte. Kein Tête-à-Tête mit der verrückten Pathologin. Der Samstagnachmittag war vielleicht doch nicht ganz verloren. Sie fand Dr. Barclay, den DCI und Ron im Labor.
»Tut mir leid, dass ich nicht früher kommen konnte«, entschuldigte sie sich. »Ich bin erst gerade nach London zurückgekehrt.«
»Wohnt er außerhalb?«, bemerkte die Pathologin spöttisch, offensichtlich ohne eine Antwort zu erwarten. »Wo war ich stehengeblieben? Ach so, ja, die Gewebeproben.« Sie führte sie zu einem Bildschirm, der an ein Mikroskop angeschlossen war. Mit einem wohlwollenden Blick auf Chris fuhr sie fort: »Das Telefongespräch mit unserm neuen Sergeant hier hat mir keine Ruhe gelassen. Ich musste der Sache mit dem fehlenden ›Prograf‹ auf den Grund gehen. Entgegen all meinen bewährten Prinzipien habe ich also nach der Obduktion, sozusagen in meiner Freizeit …«
»Und unserer …«, brummte der DCI mürrisch, aber laut genug, dass sie es verstand.
»Du wirst es überleben, Adam. Ich habe also in meiner Freizeit nochmals Gewebeproben von der Schweineniere genommen und Chemie und Struktur des Zytoplasmas und der Nuklei analysiert.«
Der DCI schüttelte ungeduldig den Kopf. »Kannst du vielleicht so reden, dass auch ich verstehe, warum wir am Samstagabend hier sind?«
Sie bedachte ihn mit einem eisigen Blick, der jeden zum Schweigen gebracht hätte, dann sprach sie weiter, ohne seinen Einwand zu beachten: »Gefunden habe ich das hier. Ich kann Ihnen sagen: So etwas habe ich noch nie gesehen, und Sie mit Sicherheit auch nicht.«
Da mochte sie recht haben, dachte Chris. Das Bild auf dem Monitor bestand in ihren Augen aus ein paar rot und blau gefärbten Klecksen. Es glich der Fensterscheibe in ihrer Küche, als sie eingezogen war, nur die Farben stimmten nicht. Um nicht ganz dumm dazustehen, wagte sie die Vermutung: »Verschiedene Zelltypen?«
Die Ärztin strahlte. »Jeder intelligente Mensch würde das vermuten, nicht wahr?«, platzte sie heraus. »Das ist ja das Verrückte, warum ich Sie hergebeten habe. Die unterschiedlich gefärbten Zonen bestehen alle aus ein und demselben Zelltyp. Alle stammen aus dem Nephron. Das ist das Gewebe, das die eigentliche Nierenfunktion ausübt.«
Sie stand mit verschränkten Armen vor dem Bildschirm und wartete auf Kommentare. Die Männer schwiegen, also versuchte Chris es nochmals:
»Das heißt …«
»Genau«, freute sich Dr. Barclay. »Das sind zwar alles Nephronzellen, aber sie stammen nicht alle von unserm Schwein. So ist das, meine Lieben. Die blauen Zellen sind normales Nierengewebe des Tiers. Die Roten, die sich da so friedlich zu den blauen gesellt haben, das ist menschliches Nephron, und zwar von unserm jungen Mann dort drüben im Kühlschrank.«
Chris schaute sie mit großen Augen an. »Aber …«
»Genau das sagte ich auch, als ich es entdeckte. So etwas gibt es gar nicht, dachte ich.«
»Sieht aus, als hättest du dich geirrt«, spottete der DCI. »Was lernen wir nun daraus?«
»Mein lieber Chief Inspector, das ist das Wesen der Wissenschaft. Je mehr wir wissen, desto mehr Rätsel entdecken wir. Das ist aber noch nicht alles.«
Sie schob eine andere Probe auf den Objektträger, justierte das Bild, dann trat sie einen Schritt zurück und wartete auf die Reaktion ihrer ahnungslosen Zuschauer.
»Links sehen Sie menschliche Zellen aus verschiedenen Gewebeproben des Toten. Oben zum Beispiel Hautzellen. Rechts daneben habe ich Nephronzellen präpariert. Menschliche Zellen aus dem Nierengewebe, die Sie vorher als rote Flecke gesehen haben. Was man in diesem Bild sehr schön sieht, ist das Alter der Zellen. Je dunkler die Färbung, desto länger die Telomere.«
Der