Wohltöter. Hansjörg Anderegg

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Wohltöter - Hansjörg Anderegg


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      Dr. Barclay schenkte ihm ein gnädiges Lächeln. »Genau so ist es, junger Mann. Siehst du, Adam, nicht allen Leuten fehlt es an Allgemeinbildung. Telomere sind repetitive Proteingruppen am Ende der Chromosomen. Sie schützen das Erbgut. Bei jeder Zellteilung werden sie kürzer, und irgendwann kann sich die Zelle nicht mehr weiter teilen. Sie stirbt, und schließlich stirbt auch der Organismus.«

      »Das haben wir nun alles kapiert, Frau Professor, aber was hat es mit unserm Fall zu tun?«

      »Hättest du verstanden, was ich gesagt habe, wüsstest du es«, antwortete sie mit einem spöttischen Grinsen. Sie wandte sich wieder dem Monitor zu. »Wie man feststellt, sind die Gewebeproben links alle ungefähr gleich alt. Sie haben in etwa gleich viele Zellteilungen hinter sich. Das Nephron rechts aber ist viel jünger. Die Zellen entsprechen denen eines Kindes. Sie stammen vom Opfer, sind aber viel jünger.«

      »Sie können nicht in seinem Körper gewachsen sein«, murmelte Chris mehr zu sich selbst.

      »Jetzt ist es raus«, freute sich die Pathologin. »Es sind verjüngte Zellen des Toten, wie sie nur in einem hochspezialisierten Labor hergestellt werden konnten. Der Rest ist Spekulation. Ich vermute, dieses eingeschleuste Nephron sollte eine Art immunologische Schutzschicht bilden, eine biologische Tarnkappe, um akute Abwehrreaktionen zu vermeiden. Das könnte zumindest das fehlende ›Prograf‹ erklären.

      »Vollkommen irre«, brummte der DCI.

      »Danke.«

      Rutherford schnaubte. »Ich meinte nicht dich. Es ist irre, was die mit diesem Jungen angestellt haben.«

      »Labors, die so etwas zustande bringen, gibt es wahrscheinlich nicht viele in Großbritannien?«, fragte Chris.

      Dr. Barclay schüttelte den Kopf. »Nicht viele in Europa, würde ich sagen. Ich kenne kein Einziges, um ehrlich zu sein. Diese Frage kann nur ein Spezialist beantworten.«

      »Und, gibt es einen Namen?«, drängte der DCI ungeduldig.

      »Mir fällt nur einer ein. Er ist eine international bekannte Kapazität in der Transplantationsmedizin und Immunologie. Professor Nathaniel Pickering in Cambridge. Ich werde ihn gleich Montag früh anrufen.«

      Rutherford schüttelte den Kopf. »Das lässt du schön bleiben. Wir werden dem Professor einen Besuch abstatten. Ich muss sehen, wie er auf unsere Fragen reagiert.«

      Als Ron sie vor ihrem Haus absetzte, schoss Chris der Gedanke an das vernachlässigte ›BILLY‹-Regal und den neuen Schraubenzieher durch den Kopf. Sie verwarf ihn schnell wieder. Mochte Ron noch so geschickte Hände haben, ihr Bedarf an Sozialleben war gedeckt für diesen Samstag. Für den Rest des Wochenendes, um genau zu sein.

      Anne McLaren Laboratory, Cambridge

      Das Navigationssystem des Dienstwagens lotste sie auf den Parkplatz bei der Einfahrt in die Forvie Site. Chris schaltete den Motor ab. DCI Rutherford auf dem Beifahrersitz machte keine Anstalten, auszusteigen.

      »Sir, wir sind da«, sagte sie lächelnd. »Jedenfalls behauptet das unser GPS.«

      Er stieg aus, schaute sich vergeblich nach einem Wegweiser um und brummte ärgerlich: »Können die ihre Häuser nicht vernünftig anschreiben?«

      Sie fragte den Gärtner, der in der Nähe wuchernden Klee ausstach. Das West Forvie Building befand sich am südlichen Ende des Gebäudekomplexes, der sich ›Biomedizinischer Campus der Universität Cambridge‹ nannte. Das Haus beherbergte das ›Anne McLaren Laboratory for Regenerative Medicine‹, das medizinische Forschungszentrum, über das Professor Nathaniel Pickering mit eiserner Hand herrschte wie Heinrich der Achte über seine Untertanen, wenn sie Mad Barclay glauben wollten.

      Der DCI zückte den Ausweis und meldete sie beim Empfangsschalter an: »Detective Chief Inspector Rutherford und Detective Sergeant Hegel von Scotland Yard. Wir müssen Professor Pickering sprechen.«

      Die Angestellte hinter dem Pult starrte mit aufgerissenen Augen auf den Ausweis, dann drückte sie nervös eine Taste ihrer Telefonanlage. »Hier sind zwei Detectives von Scotland Yard für Professor Pickering«, hauchte sie mit zitternder Stimme. Nach einer Weile legte sie den Hörer ganz sachte auf die Gabel zurück, um den Professor ja nicht zu erschrecken. »Es kommt gleich jemand«, versicherte sie leise.

      Der Jemand ließ sich Zeit. Noch eine Minute, bis der DCI explodieren würde, schätzte Chris, als eine Dame im mausgrauen Deuxpièces mit strengem Blick auf sie zutrat.

      »Sie sind nicht angemeldet«, stellte sie zur Begrüßung fest.

      »Und mit wem haben wir das Vergnügen?«, knurrte Rutherford zurück.

      Die Dame ließ sich nicht so schnell einschüchtern. »Professor Pickerings Sekretärin«, entgegnete sie spitz. »Der Professor ist auf dem Weg zum Flughafen. Wenn Sie einen Termin vereinbaren möchten …«

      Chris beobachtete, wie Rutherfords Hals anschwoll und fragte schnell mit freundlichem Lächeln: »Hat der Professor das Haus schon verlassen?«

      »N – nein«, stammelte die graue Maus überrascht, »aber der Wagen wird jeden Augenblick eintreffen.«

      Chris lächelte noch freundlicher. »Gut, dann können wir ihm unsere Fragen stellen. Wir werden ihn nicht aufhalten. Es geht ganz schnell.«

      Die Sekretärin blickte unschlüssig von einem Detective zum andern. Unvermittelt drehte sie sich auf den Absätzen um und forderte sie auf, ihr zu folgen.

      Der Gesichtsausdruck des DCI sagte soviel wie: Darüber müssen wir noch reden, aber die Methode Hegel funktionierte wenigstens. Der Mann, der ihnen in seinem Büro entgegentrat, entsprach ungefähr dem genauen Gegenteil des Bildes, das sie sich von Pickering gemacht hatte. Er war auffällig klein, schon fast kleinwüchsig. Ein unscheinbares, dürres Männchen mit schütterem, grauem Haar und Spitzbart. Und er hatte entschieden bessere Manieren als sein Vorzimmer.

      »Detective Chief Inspector, Detective Sergeant«, grüsste er freundlich. »Was habe ich verbrochen?«

      »Das wissen wir nicht«, scherzte der DCI. »Aber Spaß beiseite. Wir möchten Ihnen nur einige fachliche Fragen stellen, deren Klärung uns bei einer Ermittlung weiterhelfen könnte.«

      »Ich helfe der Polizei selbstverständlich jederzeit gerne, aber wie Ihnen Miss Jones gesagt hat, werde ich in Kürze abreisen.«

      »Das ist uns bewusst, Professor. Deshalb gleich die wichtigste Frage: Sind Ihnen Fälle von Transplantationen bekannt, bei denen Patienten Schweinenieren verpflanzt wurden?«

      Pickering schaute ihm unverwandt in die Augen. Außer einem leicht erstaunten Stirnrunzeln zeigte er keine Reaktion. »Xenotransplantation?«, fragte er nachdenklich. »Wie kommen Sie denn darauf?«

      »Gibt es solche Fälle?«

      Pickering schüttelte den Kopf. »Das wäre medizinisch höchst fragwürdig. Man diskutiert die Verpflanzung tierischer Organe in Fachkreisen schon lange als eine hypothetische Methode, dem eklatanten Mangel an menschlichem Spendermaterial zu begegnen. In der Praxis wird die Xenotransplantation aber nicht durchgeführt. Zu viele Fragen sind noch offen, medizinische und ethische.«

      »Wie ist die Praxis im Ausland?«

      »Meines Wissens wird Xenotransplantation nirgends praktiziert.«

      »Pakistan?«, fragte Chris.

      Einen Moment glaubte sie, einen irritierten Ausdruck auf seinem Gesicht zu entdecken, doch dann antwortete er kühl: »Es gibt natürlich keine Garantie. Sie müssen mich jetzt leider entschuldigen, Detectives.«

      Als hätte sie es gehört, öffnete Miss Jones die Tür und kündigte den Wagen an. Pickering überlegte kurz, dann sagte er zu ihr:

      »Führen Sie die Detectives doch bitte zu Dr. Roberts.« Zu Rutherford gewandt, erklärte er: »Dr. Roberts wird Ihnen alle fachlichen Fragen beantworten können. Ich habe jetzt leider keine Zeit mehr. Bitte entschuldigen Sie mich.«

      Damit verließ er eilig das


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