Vollzug. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.rief sie erregt aus. »Was ist, wenn sein Hirn nicht mehr funktioniert, falls er je wieder aufwacht, als Gemüse?«
»Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen. Gute Nacht.«
Dieser Anruf verschlimmerte ihren Geisteszustand noch weiter. Sie spielte mit dem Gedanken, ihren Freund Jamie anzurufen, der nichts von den Ereignissen der letzten zwei Tage ahnte. Der Arzt Dr. Jamie Roberts war seit Jahren ihr Geliebter, eine Art Ehemann auf Distanz. Er lebte und arbeitete als Mediziner am Imperial College in London. Normalerweise schätzte sie die Vorteile der Fernbeziehung, aber in dieser Nacht … Ein Finger schwebte kurz über Jamies Namen auf dem Touchscreen des Smartphones, bevor sie es ausschaltete. Lustlos goss sie sich ein Glas Rotwein ein, vom gehaltvollen, schweren Burgunder, Nuits-Saint-Georges, nicht den wässrigen badischen Landwein, den man trinkt, um den Durst zu löschen. Der fruchtige Körper des Weins widerte sie an, aber sie leerte das Glas in wenigen Zügen und goss sich ein Zweites ein. Die Flasche fast leer, der Kopf ein Karussell, fiel sie erschöpft ins zerwühlte Bett zurück.
Auch solche Medizin half nicht in dieser Nacht. Der Alkohol verstärkte ihre schlimmsten Albträume. In einem lichten Augenblick fiel ihr auf, dass sich die Bettwäsche kaum mehr von den stinkenden Schlafsäcken im Plattenbau unterschied. Die Erkenntnis blieb allerdings ohne Konsequenzen. Sie verfiel in einen Dämmerzustand, schloss endlich die Augen.
Ein anhaltender Pfeifton wie der Alarm auf der Intensivstation nach dem Aussetzen des Herzschlags schreckte sie auf. Vergeblich versuchte sie, die Augen auf das Fenster zu fokussieren, wo das Geräusch herkam. Immerhin glaubte sie, einen winzigen Vogel wegfliegen zu sehen.
»Angeber«, lallte sie ihm nach.
Ihre Hüfte begann wieder zu schmerzen. Sie versuchte eine Weile, sich wenigstens darauf zu konzentrieren, bis sie entnervt aufgab.
»Jetzt reicht‘s!«, herrschte sie das Saxophon an, das apathisch im offenen Instrumentenkoffer lag.
Sie schleppte sich hinkend zum Fenster, schlug es zu und ließ den Rollladen herunter. In einer Schublade des Nachttischs fand sie das Röhrchen mit Schlaftabletten, an das sie sich schwach erinnerte. Die Aufschrift konnte sie nicht entziffern. Vielleicht waren es die vergammelten Kopfschmerztabletten. Egal. Sie kippte den Inhalt ins leere Wasserglas neben dem Bett, goss den Rest des Nuits-Saint-Georges dazu und schüttete den Drogencocktail in sich hinein. Auf dem Rücken liegend, nackt, wie sie auf diesem traurigen Planeten angekommen war, wartete sie auf die Wirkung. Für ein paar Augenblicke fühlte sie sich leichter. Dann begann die ganze Flasche Wein in ihren Kopf zu fließen. Die Hirnmasse löste sich im Alkohol auf und der Magen begann zu pochen wie ein zweites Herz. Sie rollte aus dem Bett, kroch auf allen Vieren Richtung Bad, dann knipste jemand das Licht aus.
Richters Anruf erreichte Caro am Computer im Labor der Kriminaltechnik. Seine Stimme klang besorgt, was bei ihm im Verkehr mit seinem Fußvolk eher selten vorkam.
»Ich suche Kommissarin Hegel. Im Büro ist sie nicht erschienen. Am Telefon erreiche ich sie nicht. Wissen Sie vielleicht, wo sie sich verkrochen hat?«
Caro erschrak. »Ich – weiß nicht. Sie ist gestern früh nach Hause gefahren. Es ging ihr nicht gut …«
»Das habe ich gemerkt. Deshalb mache ich mir jetzt Sorgen, verstehen Sie?«
Da gab es nicht viel zu verstehen.
»Sie wohnt doch in Ihrem Haus?«
»Allerdings. Wahrscheinlich ist sie noch dort, hat nur verschlafen. Ich suche sie.«
»Tun Sie das, und verlieren Sie keine Zeit.«
Die Tür der Dachwohnung war nicht verschlossen. Mit flauem Gefühl im Magen trat sie ein, nachdem niemand auf ihr Klopfen geantwortet hatte. Ihre Dogge Nero stieß sie unsanft beiseite und schoss aufs offene Bad zu. Leise winselnd, mit anklagendem Blick, erwartete die Hündin sie neben ihrer leblos am Boden liegenden Freundin. Um Mund und Nase hatte sich Erbrochenes angesammelt. Wenig nur, aber die rote Farbe trieb Caros Puls auf 180.
»Chris, um Gottes willen!«, krächzte sie entsetzt. »Was ist geschehen?«
Chris regte sich nicht. Atmete sie überhaupt noch? Während Caro auf die Antwort der 112 wartete, suchten ihre Finger zitternd die Halsschlagader der Freundin. Chris‘ Herz schlug schwach und unregelmäßig.
Betäubender Rosenduft stieg Chris in die Nase. Sie schlug die Augen auf. Sie lag in einem fremden Bett. Gedämpftes Licht drang durch die halb geschlossenen Jalousien ins fremde Zimmer. Sie wusste nicht, wo sie sich befand und wie sie hierher gekommen war, aber sie erinnerte sich an die gleiche Situation vor nicht allzu langer Zeit. Inklusive Nadel im Arm und Infusionslösung am Haken neben dem Bett. Als sie den Kopf auf die andere Seite drehte, sah sie die Rosen. Schon halb verwelkt steckten sie in einer schmucklosen Vase. Daneben schlummerte Jamie leise schnarchend.
»Willst du dich nicht zu mir legen?«, fragte sie. »Im Bett schläft sich‘s bequemer.«
Zum ersten Mal seit dem Einsatz in Hamburg lächelte sie wieder. Jamie sprang auf beim Klang ihrer Stimme. Er setzte sich auf die Bettkante, beugte sich zu ihr herunter und küsste sie vorsichtig auf die Stirn. Sie schlang die Arme um ihn, um ihm zu zeigen, wie man es richtig machte.
»Lieb von dir, mich zu besuchen«, flüsterte sie nach dem langen Kuss, »aber warum liege ich im Krankenhaus?«
»Das ist eine unappetitliche Geschichte. Willst du sie wirklich hören?«
»Aber sicher.«
»Man hat dir den Magen ausgepumpt. Caro hat angerufen.«
»Das war doch nicht nötig.«
»Doch!«, widersprach er heftig. »Bei der Menge Barbiturate und dem Alkohol …«
»Ich meine, dass Caro dich anruft und du extra herfliegst.«
Er blickte sie mit dem betroffenen Ausdruck an, dem sie seit der ersten Begegnung nicht widerstehen konnte, und meinte kopfschüttelnd:
»Dich kann man aber auch wirklich nicht allein lassen, Liebes.«
Sie richtete sich auf, zog ihn sanft an sich, gerade eng genug, damit er ihre harten Brustwarzen spürte, und säuselte ihm ins Ohr:
»Musst du eben bleiben.«
Wiesbaden
Chris sah es kommen. Sie wusste, was sie erwartete, als Oberstaatsanwalt Richter »Dr. Hegel« zwei Tage nach ihrem Kollaps zu einem Zwiegespräch in sein Büro bestellte.
»Ich bin nicht verrückt«, sagte sie mit wenig überzeugender Stimme nach seiner Ankündigung.
»Das hat doch damit nichts zu tun«, wehrte Richter ab. »Ich biete Ihnen lediglich professionelle Hilfe an. Es ist einfach zu viel auf Sie eingestürzt in den letzten Tagen. Ihr Partner liegt schwer verletzt auf der Intensivstation und jetzt ihr Suizidversuch …«
»Das war kein Suizidversuch!«, fuhr sie auf. »Ich habe nur einen über den Durst getrunken.«
Er lächelte verständnisvoll, wie man Verständnis zeigt für den bedauerlichen Irrtum eines Kindes.
»Ich mache mir große Sorgen um meine beste Ermittlerin«, fuhr er fort. »Lassen Sie sich helfen, Dr. Hegel.«
Sie sah eine Weile durch ihn hindurch, dann entgegnete sie entschlossen:
»Ich gehe nicht zur Psychotante. Eher müssen Sie mich feuern. Sie wissen, was ich von Psychologen halte. Die lesen ein paar Märchenbücher und glauben, das Leben da draußen zu kennen. Hat einer von denen je ins Mündungsfeuer einer ›SIG Sauer‹ geblickt?«
Er setzte zu einer Antwort an, schloss den Mund wieder und betrachtete sie lange nachdenklich. Schließlich stieß er einen leisen Seufzer aus und sagte:
»Ich erinnere mich. Sie haben seinerzeit das psychologische Seminar abgebrochen …«
»Sie selbst haben mich da rausgeholt«, korrigierte sie schnell. »Vielen Dank auch.«
»Was mache ich nur