Vollzug. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.gelegt. Trotz seines fortgeschrittenen Alters war es das erste Mal, dass Ullrich hautnah mit dieser Geißel der Menschheit in Berührung kam. Seine Eltern waren früh verstorben, lang bevor der Zerfall des Gehirns einsetzte, ebenso wie seine über alles geliebte Johanna. Die Begeisterung war verflogen. Das gleißende Licht der Junisonne auf dem gewachsten Parkett des Treppenhauses wollte nicht mehr zu diesem traurigen Sonntag passen.
Immerhin konnte er nun seinen Chef beruhigen. Der geniale Physiker und Gründer der ›TransX‹, Professor Volkmann, lebte in ständiger Angst vor Industriespionen, wahrscheinlich ein Erbe der DDR-Vergangenheit. Ullrich musste mit seinem Blut unterschreiben, bevor er seinen Mentor zur Betriebsfeier einladen durfte. Der alte Mann würde nicht erscheinen. Er hatte die Einladung wohl schon vergessen. Die Feier konnte ohne gefährliche ›Externe‹ stattfinden. Wehmütig dachte Ullrich an die Zeit an der Uni zurück, in der Alter und Verfall kein Thema waren. Alles schien damals möglich, als er noch überzeugt war, im guten Deutschland zu leben.
In Gedanken versunken trat er aus dem Eckhaus gegenüber der Marienkirche auf die Lange Straße. Gebrüll und der Gestank von Feuerwerkskörpern und Fackeln holte ihn augenblicklich in die Gegenwart zurück. Er stand unversehens mitten in der Meute, die johlend, ihre schwarz-roten Fahnen schwingend, vom Stadthafen über den Burgwall herauf dem Neuen Markt zuströmte. Immer lauter skandierten die meist jungen, kahlgeschorenen Männer Parolen wie: »Islamisten raus!«, »Deutschland den Deutschen!« und »Sieg Heil!«. Sein militärischer Bürstenschnitt und die Schnürstiefel, die er trug, um seinen kaputten Fuß zu schonen, legitimierten ihn als einen der Ihren. Ob er wollte oder nicht, schob und zerrte ihn die Meute der Nazis mit sich auf den Marktplatz, wo sein Auto stand. Sein Fuß stieß an die Bordsteinkante. Er stürzte beinahe, hielt sich jedoch im letzten Moment am Vordermann fest.
»Nicht schlappmachen, Alter!«, brüllte der ihm ins Ohr.
Er richtete sich auf und spürte einen Stich, als steckte ein Hunderter Nagel im Fuß. Es war die regelmäßig wiederkehrende Erinnerung an seine dunkle Zeit im ›Gelben Elend‹, der DDR-Justizvollzugsanstalt Bautzen, in der die Stasi sich nach Lust und Laune austoben durfte.
Mit einem Mal begriff er, was die Neonazis bis zum Siedepunkt aufheizte. Ein Demonstrationszug muslimischer Männer, Frauen und Kinder näherte sich von der Kröpeliner Straße her dem Neuen Markt. Sie trugen ruhig ihre Transparente, ohne sich von den Hasstiraden der Rechtsextremisten aufhalten zu lassen. Nur Minuten trennten die beiden Massen voneinander. Polizei war noch immer keine zu sehen. Die Zeiten haben sich geändert seit der Wende und nicht immer zum Besseren, ging ihm durch den Kopf.
Endlich übertönten die Sirenen der Einsatzwagen den Krawall um ihn herum. Eine Hundertschaft Polizisten in Kampfmontur, Knüppel in der einen, Schutzschild in der anderen Hand, begann, die Nazis einzukreisen und einen Puffer zum Zug der Muslime zu bilden. Ein paar Kahlköpfe warfen Steine und Flaschen auf die anrückenden Polizisten. Die meisten verließ der Mut nach der ersten Tränengas-Granate. Ullrich staunte, wie rasch sie die Übermacht des Gegners erkannten. Sie kühlten ihre Wut über die verhinderte Schlacht gegen die Muslime an Fensterscheiben und geparkten Fahrzeugen.
»Halt, das ist mein Auto!«, brüllte er den fetten Deppen mit dem Kindergesicht an, als der mit dem Baseballschläger ausholte.
Wortlos rannte der Junge weiter. Die Frontscheibe des nächsten Wagens barst in tausend Teile und verwandelte sich in undurchsichtiges Milchglas. Ein Ausläufer der Tränengaswolke streifte Ullrich. Keuchend und hustend, mit brennenden Augen tastete er nach dem Autoschlüssel und schaffte es wie durch ein Wunder, sich im Wagen in Sicherheit zu bringen, bevor die nächste Granate platzte.
Auf dem Weg zurück ins beschauliche Küstenstädtchen Lubmin gab es im Radio nur ein Thema: die dramatische Entwicklung in Hamburg und aufflammende Unruhen in Leipzig, Dresden und Berlin. Immer wieder fragte er sich, wie es möglich war in einer aufgeklärten Gesellschaft, dass ein einziges tragisches Ereignis eine derart extreme Gewaltwelle auslösen konnte. Als er seine Wohnungstür aufschloss, suchte er immer noch nach der Antwort.
Kapitel 3
Wadi Djedi, Algerien
Der sandfarbene Hummer passierte den Posten am Eingang zur Schlucht, ohne anzuhalten. Islam Bencherif hob kurz die Faust zum Gruß und als Zeichen, die zwei Kalaschnikows in der Grotte über der Wüstenpiste sehr wohl bemerkt zu haben. Ein paar Hundert Meter weiter stoppte er abrupt. Wie auf ein geheimes Zeichen füllte sich die felsige Einöde mit Leben. Ein flüchtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes am Steuer. Sein Camp im Wadi Djedi war hervorragend getarnt, unmöglich aus der Luft zu entdecken, solang sich die Bewohner in den Höhlen beiderseits der Schlucht verbargen. Bärtige Männer umringten das staubige Gefährt. Fäuste flogen in die Luft und Hochrufe begrüßten den Anführer, stets begleitet vom begeisterten »Allahu akbar!« – »Allah ist groß!«.
Islam Bencherif stieg aus und überließ es wie üblich seinem Adjutanten, das Fahrzeug ins Versteck zu fahren und die Spuren zu beseitigen. Er nickte seinen Brüdern nur kurz zu und zog sich mit Sorgenfalten auf der Stirn in seine Höhle zurück. Die Unterredung mit dem Emir war nicht nach seinem Wunsch verlaufen, ganz und gar nicht. Mehr denn je war er überzeugt vom nahen Ende der Herrschaft des Weisen, wie die Anhänger den Emir ehrfürchtig nannten. Der alte Mann zeigte zu viele Schwächen. Unfähig, die immer zahlreicheren Splittergruppen der AQIM, der gefürchteten al-Qaida des Islamischen Maghreb, zusammenzuschweißen, ruhte er sich auf seinen Lorbeeren aus, sonnte sich in den Lobpreisungen der einfachen Kämpfer und lebte nur noch in der Vergangenheit. Es war Zeit für eine Erneuerung, drohte der Heilige Krieg doch buchstäblich im Sande zu verlaufen. Dafür hatten er und die Zehntausende ehemaliger Freiheitskämpfer des FLN und des GIA nicht die unzähligen Opfer gebracht. Dafür lebten sie nicht das harte Leben der Guerilla. Der Feind war näher denn je. Die algerische Armee bereitete ihm weniger Sorgen als die französischen Truppen und die Blauhelme im benachbarten Mali. Die verfluchten Franzosen hatten seine lukrativste Geldquelle praktisch zum Versiegen gebracht. Der ehemals florierende Schmuggel südamerikanischer Drogen durch den Maghreb in den Nahen Osten und nach Europa existierte praktisch nicht mehr. Sie brauchten neue, sichere Routen. Deshalb war die Unterstützung oder mindestens Toleranz und Zurückhaltung der Tuareg des ›Mouvement national pour la libération de l’Azawad (MNLA)‹ so wichtig, doch der Emir lehnte Verhandlungen mit den in seinen Augen säkularen Nationalisten rundweg ab.
Motorenlärm schreckte ihn aus den Gedanken. Er erkannte den Jeep seines Technikers am röhrenden Geräusch. Kurz danach erschien die hagere Gestalt des jungen Fahrid Saadi am Eingang. Er grüßte ihn mit freundlichem Lächeln. Sein Techniker gehörte einer neuen Generation von Dschihadisten an. Wie die alten Kämpfer hatte er sich mit Leib und Seele der Sache der Gläubigen verschrieben, aber im Unterschied zu den meisten seiner Leute verfügte Fahrid über umfangreiche technische Kenntnisse und kämpfte vor allem mit seinem scharfen Verstand. Ohne jemanden wie Fahrid wäre sein großer Plan nicht umzusetzen.
»As-salamu alaikum«, grüßte der Techniker. »Das Paket ist auf dem Weg zum Hafen.«
»Gut, Fahrid. Ich habe nichts anderes erwartet. Die Brüder sind instruiert, wie wir besprochen haben?«
Fahrid nickte. »Sie sind bereit.«
Er wandte sich zum Gehen.
Islam Bencherif hielt ihn zurück. Er reichte ihm ein Papier mit der Bemerkung:
»Der Text für die Botschaft.«
Er geleitete Fahrid bis vor die Höhle, eine Ehre, die er nur wenigen Freunden zuteil werden ließ. Sein Blick wanderte vom jungen Hoffnungsträger zum Felsvorsprung gegenüber. Zwei Knaben, keiner älter als zehn, traten mit hängenden Köpfen auf die Behausung des greisen Mohammed Mokdad zu, den alle ehrfürchtig Abu Jihad nannten, Vater des Heiligen Krieges. Der Geistliche verkörperte den heiligen Eifer der Gerechten im Kampf gegen die Ungläubigen wie kein Zweiter. Für ihre Sache war er ebenso unverzichtbar wie sein Techniker. Daher genoss er seit jeher eine Art diplomatische Immunität. Islam Bencherif hasste ihn dafür,