Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Vollzug - Hansjörg Anderegg


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Handy summte. Hauptkommissar Hansen vom LKA Hamburg war am Apparat.

      »Ich habe soeben erfahren, dass sich die Prognose für Ihren Partner verbessert hat. Dachte, das müssten Sie wissen.«

      Ihr Herz hüpfte vor Freude. »Und ob! Vielen Dank. Was sagen die Ärzte?«

      »Soviel ich mitbekommen habe, ist jetzt so gut wie erwiesen, dass keine bleibenden Hirnschäden zu erwarten sind.«

      »Gut, ausgezeichnet. Hoffentlich täuschen sie sich nicht. Wann wird er – geweckt?«

      »Darüber schweigt die Medizin.«

      »Und die Moussouni Brüder?«

      »Noch keine Spur von Hassan. Ahmed wird überleben, ist aber noch nicht ansprechbar.«

      Richter nahm die gute Nachricht gelassen zur Kenntnis. Er saß ihr schweigend gegenüber und strich sich dabei in Gedanken versunken übers Kinn. Ihre Abneigung gegen den psychologischen Dienst schien ihn ordentlich zu erschüttern.

      »Vielleicht nehme ich einige Tage Urlaub«, schlug sie als Zeichen guten Willens vor.

      Ein Ruck ging durch seinen Körper. Begeistert schlug er mit der flachen Hand auf die Tischplatte, als hätte sie sein schwierigstes Problem gelöst.

      »Unbedingt«, betonte er. »Etwas Abstand wirkt wahre Wunder, glauben Sie mir. Ich erlebe das jedes Mal auf dem Golfplatz.«

      Wunder geschahen also wesentlich häufiger, als sie angenommen hatte. Ihr schien, der Staatsanwalt blühe geradezu auf beim Gedanken, sie für ein paar Tage loszuwerden.

      »Apropos Golf …«, sprudelte es weiter aus seinem Mund, »da fällt mir ein, dass uns der BND noch einiges schuldet.«

      Dieser Gedankengang war selbst für ihr analytisch geschultes Hirn nicht nachzuvollziehen.

      »Klären Sie mich auf«, sagte sie etwas ratlos.

      »Ein alter Golfspezi beim BND besitzt ein schönes Haus in Port Grimaud an der Côte d‘Azur, das dauernd leer steht. Der ideale Ort, um ein paar Tage auszuspannen. Ich rufe ihn gleich an.«

      Er griff zum Telefon. Sie überlegte einen Augenblick, ihn daran zu hindern, verzichtete aber darauf. Ihr Quantum Widerspruch war erschöpft für diesen Tag. Beim Verlassen des Büros sprang ihr die reißerische Schlagzeile der Boulevardzeitung ins Auge, die neben der braven ›FAZ‹ im Eingangskorb lag:

       ISLAMISTISCHER TERROR IN HAMBURG!

       Wie sicher sind wir noch in Deutschland?

      Hamburg

      Die Berichterstattung über die Schießerei im Plattenbau entzündete ein Pulverfass. Das Trauma von Ahmed Moussounis Geiseln, bei denen er sich versteckt hatte, war ein gefundenes Fressen für die Sensationspresse. Schneewittchen mit ihrer alleinerziehenden deutschen Mutter, die mit Hartz IV und Gelegenheitsjobs kaum über die Runden kamen, in der Gewalt des algerischen Terroristen! Ein Terrorist war er, ein fanatischer islamistischer Terrorist, kein gewöhnlicher Gewaltverbrecher, daran ließen diese Blätter und das Frühstücksfernsehen nicht den geringsten Zweifel.

      Im Morgengrauen des 8. Juni brannte die Imam Ali Moschee an der Außenalster, Hauptgebäude des Islamischen Zentrums Hamburg und eine der ältesten Moscheen Deutschlands. Brandbeschleuniger und Brandsätze im Gebetsraum sorgten dafür, dass in kurzer Zeit alles ein Raub der Flammen wurde, was nicht aus Stein oder Beton bestand. Der Gebetsteppich, mit seinen sechzehn Metern Durchmesser einer der größten handgeknüpften Rundteppiche der Welt, war zu Asche zerfallen, als die Feuerwehr eintraf. Nur ein Zufall rettete Ajatollah Rahimi das Leben. Er durfte den sechs Uhr Flug nach München nicht verpassen und verrichtete deshalb sein Fadschr, das Gebet vor Sonnenaufgang, eine halbe Stunde früher als üblich an diesem Morgen.

      »Jetzt hamer den Scheiß Kriech!«, kommentierte Hauptkommissar Hansens türkischstämmiger Kollege in akzentfreiem Hamburger Deutsch an jenem Freitagmorgen in der Kantine des LKA. »Krieg« war kaum übertrieben, wie sich am folgenden Sonntagmorgen herausstellte. Der Anruf aus dem Präsidium erlöste Hansen um fünf Uhr früh aus einem unangenehmen Traum. Er hörte stumm zu, während er versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben.

      »Bin schon unterwegs«, brummte er schließlich.

      Seine Frau ließ er weiterschlafen. Sie befand sich an einem besseren Ort, mit Watte in den Ohren und einem Lächeln im Gesicht. Überdies wollte er sie nicht damit erschrecken, beim Frühstück anwesend zu sein.

      »Wie viele?«, fragte er beim Betreten des Büros.

      »Schon über fünftausend«, erwiderte sein Türke mit finsterer Miene. »Die Kollegen von der Bereitschaft haben die muslimische Minderheit in unserm Land wohl gründlich unterschätzt. Aber die Reiterstaffel und Wasserwerfer stehen bereit.«

      »Die Bereitschaft braucht mehr von deiner Sorte«, murmelte Hansen und verzog das Gesicht.

      Der Kaffee schmeckte bitter und sauer. Die Hoffnung, schnell wieder nach Hause zurückzukehren an diesem schönen Sonntag, zerschlug sich schnell. Die in letzter Minute bewilligte ›Demonstration friedliebender Muslime‹, zu der das islamische Zentrum aufgerufen hatte, lockte weit mehr Anhänger in die Hansestadt als befürchtet. Der Zustrom aus dem Bundesland und angrenzenden Gebieten wollte nicht abreißen. Muslime aller Glaubensrichtungen, darunter viele Familien mit Kindern, marschierten auf das Zentrum zu, um ihre Solidarität und Betroffenheit friedlich zu demonstrieren. Gegen zehn Uhr schätzte man die Masse auf zehntausend Leute. Der Aufmarsch überforderte die Dienststellen heillos, die eigentlich für die Sicherheit der Demonstranten und der Stadt sorgen sollten. Deshalb waren alle verfügbaren Kräfte im Einsatz, inklusive aller erreichbaren Kommissare des LKA.

      »Falls wirklich die Neonazis hinter der Brandstiftung stecken, sind sie noch dümmer, als ich angenommen habe«, sagte sein Kollege kopfschüttelnd. »Der Algerier Moussouni als Sunnit ist ein Todfeind der iranischen Schia. Er wird sich ins Fäustchen lachen, wenn eine schiitische Moschee brennt.«

      »Ganz abgesehen davon, dass ihm nichts Besseres passieren kann als ein Polizeiapparat, dem keine Zeit mehr bleibt, nach ihm zu fahnden«, ergänzte Hansen.

      Wie recht er damit hatte, zeigte sich gegen Mittag. Zur selben Zeit, als Ajatollah Rahimi vor der Ruine zur Rede ansetzte, detonierten gegenüber im Alsterpark Knallkörper, die zwar keinen Schaden anrichteten, aber eine Massenpanik auslösten. Eine Horde Kahlköpfe, mit Baseballschlägern, Schlagstöcken und Messern bewaffnet, hatte sie geworfen, bevor sie begannen, auf die flüchtenden Demonstranten einzuprügeln. Rettungskräfte verloren wertvolle Zeit, bis sie zu den Verletzten vordringen konnten. Hansens Uhr zeigte Punkt 12:15 Uhr, als das erste Todesopfer über Polizeifunk gemeldet wurde. Gleichzeitig schrillten die Telefone in der Mordkommission.

      »Eine Gruppe Verdächtiger zieht Richtung Eppendorf. Gehen wir«, sagte er nach kurzem Gespräch.

      Als Letzte verließen er und sein Partner das Büro.

      »Wo bleibt eigentlich die Verstärkung aus Mecklenburg und Bremen?«, fragte der Kollege, während er den Zündschlüssel suchte.

      »Vergiss die Verstärkung. Bremen hat das gleiche Problem. Lübeck und Rostock stehen Gewehr bei Fuß.«

      »Ick sach‘s ja, Kriech!«

      Er legte die Stirn in Falten und fuhr ab.

      Rostock

      Jonas Ullrich wartete, bis die Wohnungstür ins Schloss fiel, bevor er sich der Treppe zuwandte. Bedrückt und enttäuscht stieg er langsam hinab, ohne auf den Lärm zu achten, der von der Straße ins Haus drang.

      »Kennen wir uns?«, hatte der alte Mann mit dem Ulbricht-Bärtchen zum Abschied gefragt.

      Ullrich wollte es erst nicht wahrhaben. Eine geschlagene Stunde lang erzählte er seinem ehemaligen Professor für Chemie und verehrten Mentor vom wissenschaftlich-technischen Wunderwerk, das er bei der ›TransX‹ in Lubmin, im nordöstlichen Zipfel Mecklenburg-Vorpommerns, geschaffen hatte. Er redete und redete


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