Strohöl. Hansjörg Anderegg

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Strohöl - Hansjörg Anderegg


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bewegte sich, setzte sich aufrecht und öffnete die oberste Schublade des Schreibtisches. Sehnte er sich heimlich nach einer Domina? Ihr fehlte im Grunde nur die neunschwänzige Katze.

      »Sie haben den Bericht sicher schon gelesen«, sagte er, wobei er sich demonstrativ den Kiefer rieb.

      »Tut‘s weh?«, fragte sie lächelnd.

      Der Kommissaranwärter in der dunklen Ecke musste sich abwenden.

      »Ich bin im Bilde über den Stand der Ermittlungen. Allerdings vermisse ich die Vernehmungsprotokolle der beiden Verletzten.«

      »Einer liegt noch im Koma. Der Zweite kann erst seit gestern Abend vernommen werden.«

      »Und – was sagt er?«

      »Gar nichts. Die Vernehmung ist für heute geplant.«

      Sie traute ihren Ohren nicht.

      »Ach, Sie planen die Vernehmungen langfristig«, brauste sie auf. »Warum nicht erst am nächsten Freitag?« Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: »Mensch, Rappold! Der Verletzte ist der vorläufig einzige Zeuge in einem Sprengstoffanschlag! Der Hauptverdächtige läuft da draußen frei herum. Wer weiß, wie viel von dem Zeug der noch in seiner Garage hat. Wir müssen den Mann sofort befragen. Auf geht‘s!«

      Der Tonfall der Domina setzte ihn tatsächlich in Bewegung. Die Rolle begann ihr zu gefallen. Müsste ich mal bei Jamie versuchen, dachte sie, während sie sich in Rappolds Dienstwagen zwängte.

      Die Befragung des Verletzten lieferte keine neuen Erkenntnisse. Er gab an, im Magazin »Zusatz« für die Druckleitung geholt zu haben, als es krachte. Er verlor das Bewusstsein und wachte erst im Krankenhaus wieder auf. Er erinnerte sich zwar, vor der Explosion Geräusche vernommen zu haben, als befände sich noch jemand in der Halle, hatte aber niemanden gesehen.

      »Wir müssen alle Mitarbeiter und Zulieferer des Projekts Kranich befragen«, sagte sie, als sie wieder im Auto saßen.

      »Kranich?«

      »So nennt die NAPHTAG ihr Fracking Projekt in Überlingen. Wussten Sie das nicht?«

      Er wusste es nicht, ebenso wenig kannte er die mögliche Verbindung der Gruppe Gaia zum Campus der Uni Konstanz.

      »Mensch, Rappold! Es wird Zeit, dass wir uns ernsthaft unterhalten.«

      Die Domina hatte gesprochen. Der Sklave fuhr schweigend weiter.

      Ein Tag mit Rappold genügte für ein halbes Leben. Chris fehlte die Kraft, noch am selben Tag an den Tatort in Überlingen zu fahren. Stattdessen verließ sie das Präsidium fluchtartig nach dem langen Gespräch mit dem Kommissar kurz vor dem Ruhestand, der seinen Arbeitsplatz schon einmal vorsorglich geräumt hatte. Sie schlenderte eine Weile ziellos durch die Gassen der Altstadt. Jetzt saß sie in einem Café am Hafen. Lustlos stocherte sie in ihrem Salat. Immer wieder blickte sie auf die Uhr. Es war zu früh, um Jamie anzurufen.

      »Alles in Ordnung?«, fragte die Bedienung.

      Sie nickte stumm und zwang sich, das Grünzeug in sich hineinzustopfen. Sie musste den Magen irgendwie beruhigen. Er war schon dabei, sich um sich selbst zu wickeln. Sie dachte ernsthaft darüber nach, die Maschinerie in Bewegung zu setzen, um dem offensichtlich überforderten Rappold den Fall zu entziehen und allein weiter zu ermitteln. Unschlüssig wog sie die Vor- und Nachteile ab, bis sie wütend beschloss, den Kommissar im Vorruhestand aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie verließ das Lokal und rief Jamie an, während sie an der Mole entlang schlenderte. Es war noch zu früh. Sie würde ihn in der Vorlesung stören, aber sie konnte nicht länger warten. Zu ihrer Überraschung hob er sofort ab.

      »Langweilst du dich?«, fragte er lachend.

      »Ich wollte testen, ob du an der Arbeit bist, und prompt habe ich dich erwischt. Ich warte gespannt auf deine Erklärung.«

      Eine kurze Pause entstand. Zu ihren Füßen klatschte der Kot einer Möwe auf die Plastikplane eines Bootes, dass sie unwillkürlich mit einem Kraftausdruck zurückwich.

      »Also hör mal!«, rief er erschrocken.

      Sie stellte sich sein verdutztes Gesicht vor, und der Tag im Präsidium war schon fast vergessen.

      »Eine Möwe hat mich erschreckt«, beruhigte sie.

      »Hat sie getroffen? Bist du verletzt?«

      »Jetzt mach aber einen Punkt.«

      Das Geplänkel ging weiter. Mit jeder Minute fühlte sie sich besser. Sie hätten übers Wetter oder Nordkorea reden können. Der Inhalt zählte nicht, nur seine warme Stimme.

      »Du bist also tatsächlich an den Bodensee gereist«, sagte er unvermittelt.

      »Wegen der Möwe meinst du? Die gibt‘s auch woanders, aber es stimmt. Ich bin in Konstanz, ein Einsatz am Bodensee.«

      »Schade, wirklich schade«, seufzte er. »Ich hatte gehofft, du könntest nach dem letzten Fall für ein paar Tage rüber kommen.«

      »Nach London?«

      »Ja, wenigstens für ein verlängertes Wochenende. Ich bin einigermaßen flexibel.«

      »Hab ich‘s doch gewusst! Dein Seminar ist nur Show. Du wolltest in die alte Heimat zurück. Das ist es doch. Gib’s zu.«

      Er lachte schallend, ein wenig zu heftig, fand sie.

      »Leider kann ich hier nicht weg. Die Kollegen brauchen jede Unterstützung.«

      Da war es wieder, das Gespenst mit dem Schmerbauch. Um es endgültig zu vertreiben, holte sie nach dem Anruf das Saxofon aus dem Hotel und setzte sich im Stadtgarten ans Ufer. Eine angenehm laue Brise wehte vom See her. Sie saß lange unbeweglich an der Böschung und ließ ihre Gedanken übers Wasser schweifen, bevor sie den Instrumentenkoffer öffnete. Erstaunlich wenige Spaziergänger waren unterwegs. Nur eine Gruppe junger Leute unterhielt sich lautstark im Rasen zwischen den alten Bäumen. Ab und zu wehte ein Lacher zu ihr herüber. Behutsam nahm sie das Instrument aus dem Koffer. Das goldene ›Senso‹ von Buffet Crampon stellte so ziemlich den einzigen echten Luxus dar, den sie sich bisher geleistet hatte. Sie liebte die samtig weichen Tiefen des Altsaxofons. Jedes Mal, wenn sie zu spielen begann, hörte ihr verstorbener Vater lächelnd zu. Er hatte ihr in seinem Musikladen die ersten Töne auf der Blockflöte beigebracht. Sie begann, in tiefen Lagen zu improvisieren, leise, als spielte sie nur für sich und ihren Vater. Allmählich befreite sich die Musik wie von selbst. Sie verband die liebsten Motive ihres Meisters Charlie Parker im Blues-Schema zu einer nicht enden wollenden Kette von Kadenzen und Akkorden. Es war, als wehte die Brise durch ihren Kopf, trüge den Müll mit sich fort und füllte die grauen Zellen mit reiner Freude. Ins Spiel vertieft, bemerkte sie nicht, wie die jungen Leute sich näherten. Sie lauschten im Halbkreis hinter ihrem Rücken der Darbietung, als hätten sie teuer dafür bezahlt. Der Applaus erschreckte sie, als sie das Instrument absetzte.

      »He – fantastisch – wer bist du, woher kommst du, was war das?«

      Lächelnd ließ sie die Fragen an sich abperlen. Nur eine beantwortete sie gerne:

      »Charlie Parker. Das waren Motive von Charlie Parker. Der war noch etwas besser auf dem Altsaxophon.«

      »Wer ist Charlie Parker?«

      Die jungen Leute gehörten zu einer anderen Generation. Sie kannten wohl die Namen aller angesagten DJs. Jazzgrößen wie ›the bird‹ waren etwas für Ewiggestrige, interessant nur, dass ihre Musik immer noch faszinierte.

      »Du musst unbedingt am Freitag in der ›Blechnerei‹ spielen«, rief einer und drückte ihr einen Flyer in die Hand.

      Open Stage!, stand darauf, quer über die Seite gedruckt, mit Ausrufezeichen. Sie bekam endlich Gelegenheit, ihre Frage zu stellen:

      »Wer seid ihr?«

      Die Jungs erinnerten sich blitzschnell an ihre Vornamen. Die Mädchen hielten sich zurück. Sie schüttelte lachend den Kopf.

      »Ich meinte eigentlich: Was tut ihr hier in Konstanz?«

      Es


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