Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.»Sie halten diesen jury12 für den Aachener Mörder?«, fragte Lena, die auch zugehört hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt. Im Augenblick gehe ich davon aus, dass die Geschworenen eher die Strippenzieher sind. Sie manipulieren die Leute, heizen die Stimmung auf und betreiben gezielt Mobbing, um missliebige Personen auszuschalten. Bis jetzt haben sie nicht ausdrücklich zu Gewalt aufgerufen, aber das war im Fall des Lobbyisten Scholz offenbar auch nicht nötig.«
»Mobbing bis zum Mord«, murmelte Lena nachdenklich, »eine ganz neue Dimension.«
Chris verstand nicht viel von Psychologie. Es reichte, um Verhöre zu führen, mehr nicht. Sie konnte sich dennoch gut vorstellen, dass genügend labile Geister im Netz unterwegs waren, die davon träumten, dem Aachener Phantom-Polizisten nachzueifern. Uwe arbeitete konzentriert an seinem Computer. Bald schüttelte er ärgerlich den Kopf.
»Auf Anhieb nichts zu machen. Jury12 benutzt das Tor-Netzwerk.«
»Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, Uwe.«
Das implizierte Kompliment ließ ihn kalt. Er interessierte sich wie gewohnt nur für die scheinbar unlösbare Aufgabe. Seine Finger tanzten auf der Tastatur wie zu einem up tempo Solo von Wynton Marsalis, bei dem kein Metronom mehr mitkommt.
»Es gibt neuerdings ein Hashtag #dieGeschworenen auf Twitter«, verkündete Lena.
Chris ließ Uwe arbeiten und wechselte zu Lenas Bildschirmen. Unter dem neuen Hashtag fanden sich schon nahezu tausend Einträge. Nutzer mit Spitznamen wie WeißerHai oder LawAndOrder interessierten sie nicht, Namen, die auf Firmen oder Medien schließen ließen, hingegen schon. Ein Name tauchte immer wieder auf, wie sie rasch feststellte: RuhrStahl. Die Beiträge von RuhrStahl waren professionell verfasst. Sogar die Interpunktion stimmte, die sonst fast gänzlich fehlte. Der Tenor von RuhrStahl war eindeutig: Freihandel mit China ist Teufelszeug. Insofern zeigte man Verständnis mit den Protesten gegen Scholz und das Kanzleramt.
»Kein Wunder, fürchten unsere Stahlkocher die Chinesen mit ihren Dumping-Preisen«, sagte sie. »Kann man herausfinden, wer sich hinter RuhrStahl verbirgt?«
Lena lachte. »Klar kann ich das – mit einem Gerichtsbeschluss.«
»Dauert Tage«, warf Uwe ein, der offenbar mit einem Ohr mithörte.
Sie rief Haase an. Eine Stunde später lag die Information in ihrer Inbox. RuhrStahl war das offizielle Kürzel eines Portals, das als Sprachrohr der deutschen Stahlindustrie diente. Als Chefredakteurin zeichnete eine gewisse Nora Schreiber. Haase lieferte ein Dossier über sie als Anhang gleich mit. Sie hatte nun genügend Munition beisammen, um das LKA Düsseldorf heimzusuchen. Uwe arbeitete wie besessen an der Suche nach jury12. Er bekam nicht mit, wie sie sich entfernte, nachdem sie Lena eingeschärft hatte, neue Entwicklungen im Netz unverzüglich zu melden.
Gegen Mittag grüßte der Düsseldorfer Rheinturm mit seiner Dezimaluhr von fern. Nach einem Halt beim Gemüse Döner, gut wie zu ihren Zeiten in Wiesbaden, fuhr sie nach Hamm zum Landeskriminalamt. Der alte Kripochef, der mit ihr noch eine Rechnung offen hatte, war wohl inzwischen in Rente, hoffte sie. Trotzdem betrat sie das Gebäude mit der Abneigung, die schlechte Erfahrungen begleitete wie der Geschmack von Blut und Zahnpasta nach der Zahnkontrolle.
Das Gefühl täuschte sie nicht. Nach drei Minuten war klar: Der zuständige Ermittler im Fall Aachen, Hauptkommissar Tom Fischer, war eine jüngere Ausgabe des ehemaligen Chefs. Eine gute Eigenschaft besaß er allerdings. Er sprach offen aus, was er dachte. Das hörte sich zwar meist nicht gut an aber besser so als in den Rücken schießen, sagte sie sich. Ihre Taktik der Deeskalation fruchtete nicht. Während sie nüchtern den Fragenkatalog abarbeitete, gab er ihr mit jeder Antwort zu verstehen, ihr Einsatz in Düsseldorf wäre so überflüssig wie Fußschweiß. Außer dem jungen Kriminalassistenten Becker fanden das alle im Büro amüsant. Becker musste sie sich merken. Sein rotes Kraushaar blendete wie die grünen Augen, als wollte er sie für ein Fotoshooting ausleuchten. Ungefähr eine halbe Stunde spielte sie Fischers Spiel mit, dann riss ihr Geduldsfaden.
»Ich möchte jetzt die Befragungs-Protokolle der diensthabenden und vor allem der dienstfreien Polizisten zur Zeit der Morde in Aachen sehen«, verlangte sie.
Das Ansinnen schien ihn zu überraschen. Zum ersten Mal schwieg er betreten. Sie legte nach:
»Und wir müssen dringend mit den Sympathisanten der Geschworenen sprechen, allen voran Nora Schreiber von RuhrStahl.«
Er betrachtete sie, als spräche sie plötzlich Chinesisch, dann stieß er einen leisen Fluch aus und knurrte:
»Wie wäre es, wenn Sie uns einfach unsern Job machen ließen, statt ihn uns zu erklären?«
»Haben Sie Ihren Job denn gemacht? Haben Sie die dienstfreien Kollegen alle befragt?«
»Meine Partnerin ist dran, was glauben Sie denn?«
Die grünen Augen behaupteten das Gegenteil, falls sie die Blicke richtig deutete. Es sah nicht gut aus für die Zusammenarbeit mit Fischer. Darin waren sie sich wohl einig. Cool bleiben wäre angezeigt, aber an Tagen wie diesem schaffte sie es nicht. Sie wollte nur noch dafür sorgen, dass er bei der Suche nach den Geschworenen nicht störte.
»Es gibt ja hier offensichtlich noch viel zu tun«, sagte sie. »Mein Auftrag lautet, die Geschworenen zu identifizieren. Ich werde Sie also nicht weiter belästigen bei der Suche nach dem Phantom-Polizisten.«
Er wandte sich kommentarlos ab.
»Können wir uns darauf einigen?«, rief sie ihm nach. »Sie das Phantom, ich die Geschworenen, und wir informieren uns laufend gegenseitig.«
Die Geste, mit der er antwortete, konnte alles Mögliche bedeuten. Sie interpretierte sie als ein Ja. Zu den grünen Augen gewandt, fragte sie nach dem Bericht der KTU. Die Techniker hatten zwar gründliche Arbeit geleistet, doch etwas fehlte.
»Wurde der Stein nicht untersucht, mit dem der Zettel bei Scholz beschwert war?«
»Doch!«, betonte Becker eifrig. »Die KT hat weder Fingerabdrücke noch DNA daran gefunden. Das muss im Bericht stehen.«
Sie schüttelte den Kopf. Dabei lächelte sie beschwichtigend. »Das meine ich nicht. Ich habe nirgends einen Hinweis auf die Herkunft des Steins gefunden.«
Nun blickten sie die grünen Augen ebenso ratlos an wie Fischer, als sie Nora Schreiber erwähnte. Sie klärte den Kriminalassistenten auf:
»Die physikalische und chemische Zusammensetzung eines Gesteins ist manchmal eindeutig wie ein Fingerabdruck. Wenn wir wissen, woher der Stein stammt, gibt uns das vielleicht einen Hinweis auf den Täter.«
»Jawoll!«, rief er aus und griff wie elektrisiert zum Telefon.
Sie zog sich schmunzelnd auf ihren temporären Arbeitsplatz im Besprechungszimmer zurück. Nora Schreiber war unter keiner Kontaktadresse in Haases Dossier erreichbar. Die Mail an die Online-Redaktion des Portals wurde automatisch mit einer Abwesenheitsmeldung beantwortet. Bei dringenden Anliegen kontaktieren Sie bitte meinen Stellvertreter … Der Stellvertreter bestätigte es. Nora Schreiber befand sich auf Geschäftsreise in Übersee. Chris war versucht, Schreibers Handynummer ermitteln zu lassen, verzichtete jedoch darauf. Sie hatte zu wenig in der Hand, um sie dringend vorzuladen.
Im Dossier fand sie einen anderen interessanten Kontakt. Der Stahlbaron Nils Bergmann aus Bochum finanzierte offenbar Schreibers Online-Redaktion praktisch im Alleingang. Wer zahlt, befiehlt. Sie rief im Hauptsitz seiner Firmengruppe an. Es dauerte eine geschlagene halbe Stunde, bis sie von seinem Anwalt erfuhr, dass der CEO seit zwei Wochen in Südamerika weilte und noch weitere drei Wochen dort bleiben würde. Sie verzichtete darauf, ihre Fragen dem Anwalt zu stellen und legte frustriert auf.
Kaum begonnen, stockten ihre Ermittlungen. Es war das altbekannte Phänomen, mit dem sie sich nie abfinden würde. Wenigstens sprach bisher nichts gegen ihre Vermutung, der Schlüssel zu diesem Fall läge irgendwo in dieser Ecke des Landes. Becker brachte ihr die Protokolle der bisherigen Befragungen, obwohl sie im Grunde nichts mehr mit der Suche nach dem Phantom am Hut hatte.