Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.»Frau Hahn, guten Tag. Keine Angst, es ist alles in Ordnung. Ich wollte Sie nur informieren. Emma hat angerufen. Ist es O. K., wenn sie Tim mit in den Zoo nimmt? Er freut sich …«
Tim, der Schreihals, unterbrach sie:
»Wir besuchen die Affen!«
Ein wohliger Schauer durchrieselte ihren Körper. Tims Welt war noch in Ordnung, obwohl – die Affen sahen das vielleicht anders, aber das war ein ganz anderes Thema. Sie gab ihre Zustimmung und widmete sich der Arbeit mit neuem Schwung. Dieser Hashtag führte nicht weiter. Sie klickte auf den Link, der zum Benutzer juri12 führte, dem Wortführer der Geschworenen. Warum war ihr das nicht früher eingefallen? Schon im dritten Post von juri12 fand sie einen Link auf die Webseite mit der Überschrift Die Geschworenen – für Gerechtigkeit und Ordnung. Ein Ausruf der Überraschung entschlüpfte ihr. Der rote Peter sah kurz auf, schnitt eine Grimasse und hieb wieder auf die Tastatur ein. Der Hashtag #dieGeschworenen fehlte ausgerechnet in dieser Meldung, deshalb hatte sie die Webseite bisher nicht gefunden.
Als hätte sie eine Geheimtür zu einer unbekannten Welt aufgestoßen, betrachtete sie die Seite auf dem Bildschirm sekundenlang.
»Heilige Scheiße«, murmelte sie leise und sprang auf.
Sie brauchte etwas Süßes zwischen die Zähne. Die Tortelloni waren vergessen, Zeit für die längste Praline der Welt. Die Webseite erweckte einen durchwegs professionellen Eindruck und verblüffte mit dem Design. Sie kannte diesen Aufbau und die benutzten grafischen Elemente. Die Seite der Geschworenen sah aus wie eine Seite aus dem Web-Auftritt der PR-Agentur Stein.
»Also doch!«, murmelte sie grimmig lächelnd.
»Was meinst du?«, fragte das Zebra.
Die Sitznachbarin war unbemerkt vom Außeneinsatz zurückgekehrt. Sie wiegelte ab.
»Nichts. Alles im grünen Bereich.«
Die Zeit bis zur abendlichen Redaktionskonferenz reichte knapp, um die wichtigsten Informationen dieser Webseite, die in Wirklichkeit über fünfzig Seiten umfasste, zusammenzustellen. Sie druckte ein paar krasse Texte aus, bevor sie sich ins Sitzungszimmer begab. Die Berichte und Aufhänger der andern Ressorts interessierten sie kaum. Gedankenverloren wartete sie auf ihren Einsatz.
»Julia, Neues von den Geschworenen?«, fragte Martin endlich.
Ein Adrenalinschub versetzte ihre Sinne in Alarmbereitschaft. Sie brachte den Knüller für die morgige Ausgabe. Den würde sie sich nicht nehmen lassen. Es war ihr großer Auftritt. Sie schilderte die Entdeckung kurz und nüchtern. Theatralik war unnötig. Die Texte und die ganze Atmosphäre von Law and Order und hemmungsloser Selbstjustiz unterstrichen deutlich genug, mit wem sie es bei den Geschworenen zu tun hatten.
»Nur schon der Name: die Geschworenen. Was für ein Haufen Spinner!«, schimpfte Martin nach einer Weile betretenen Schweigens.
»Ich denke, Spinner trifft es nicht, Martin«, widersprach sie. »Diese Leute sind gebildet, was man an der Ausdrucksweise erkennt, und fanatisch. Deshalb halte ich sie für brandgefährlich.«
»Sie sind trotzdem Spinner«, wagte der rote Peter einzuwerfen, »akademische Spinner. Von denen gibt›s ja genug heutzutage, wo jeder Depp an der Uni landet.«
Selbstkritik?, dachte sie schmunzelnd. Die eigentliche Sensation hob sie sich bis zum Schluss auf.
»Stellenweise lesen sich die Texte wie Gerichtsprotokolle«, fuhr sie fort. »Das sieht man schön an der Akte Scholz.«
Alle Augen hingen an ihren Lippen.
»Ihr habt richtig gehört. Es gibt eine umfangreiche Akte über das Aachener Opfer Albrecht Scholz auf der Webseite. Darin wird peinlich genau nachgewiesen, welche Verfehlungen sich der ehemalige Lobbyist in Brüssel geleistet und weshalb er versagt hat. Es läuft darauf hinaus, dass Scholz das Lotterleben eines Tunichtguts und Playboys geführt habe, statt Dampf zu machen für ein Freihandelsabkommen der EU mit China, woran insbesondere die Autoindustrie ein vitales Interesse hat. Nach Ansicht der Geschworenen hat Scholz also komplett versagt. Das steht in der Urteilsbegründung. Das Urteil lautet denn auch: schuldig. Darunter steht das Motto, das die ganze Webseite prägt: Wir kriegen euch alle.«
Nach einer Schrecksekunde begannen die Kollegen, wild durcheinander zu sprechen. Sie beobachtete verstohlen Martins Mienenspiel. Da hatte er die Verbindung mit dem heiklen Thema Freihandel. Die Enthüllung machte ihm zu schaffen. Er kämpfte mit sich. Es war nicht zu übersehen. Schließlich klopfte er energisch mit der Krücke auf den Boden. Sofort kehrte Ruhe ein. Gewonnen!, wusste sie, bevor er den Mund öffnete.
»Leute, das wird unser Aufhänger«, sagte er. »Julia, zu mir!«
Sie war gut vorbereitet. In der Sauna erläuterte sie ihm rasch die Struktur des geplanten Leitartikels. Sein einziger Einwand betraf die Stellen, die als peinlich oder gar beschämend für die Ermittler des LKA interpretiert werden könnten. Sie einigten sich auf einen Kompromiss, mit dem auch ein Tom Fischer leben konnte, ohne eines Nachts mit vorgehaltener Pistole in ihrem Schlafzimmer aufzutauchen. Chris würde auch ihr Fett weg bekommen, da die Presse offenbar mehr über die Geschworenen wusste als das BKA. Sie fühlte sich wie eine Verräterin dabei.
»Ich denke, wir müssen das BKA nicht unbedingt erwähnen«, versuchte sie sich zu beruhigen.
Martin überlegte, stimmte dann zögernd zu. »Einverstanden, es genügt, dass die selbst merken, wer da versagt hat.«
Sie verließ den Glaskubus mit einem inneren Stoßseufzer. Kaum am Arbeitsplatz, stand der rote Peter auf, sein Spielzeug-Megafon in der Hand.
»Alle mal herhören«, brüllte er. »Die Aktivistin Lotte Engel hat für Samstag zu einer Demo gegen Freihandel und Globalisierung vor dem Reichstag aufgerufen. Alle Infos darüber bitte sofort an mich. Ich werde vor Ort berichten.«
Die Lage spitzte sich gefährlich zu. Mit ihrem Leitartikel würde sie Öl ins Feuer gießen, aber das ließ sich nicht vermeiden. Es war ihre Pflicht als Journalistin, die Leser umfassend zu informieren. Wie würden die Geschworenen reagieren? Lobbyist Scholz lebte nicht mehr, weil er zu wenig für die Automobilindustrie getan hatte. Lotte Engel als berüchtigte Linksaktivistin war eine radikale Gegnerin von Freihandel aller Art. Sie hatte an vorderster Front gegen CETA und TTIP gekämpft. Julia fröstelte beim Gedanken, jetzt in Engels Haut zu stecken.
Bevor sie zu schreiben begann, kehrte sie zum Hashtag #dieGeschworenen zurück. Der erste neue Tweet versetzte ihr den vierten heftigen Adrenalinschub des Tages nach Chris, der Kita und der Redaktionssitzung. Ein neuer Benutzer trat auf, dessen Name nichts Gutes verkündete: das Phantom.
Das Phantom @phantombulle
Hat sich schon mal jemand gefragt, wer die Urteile vollstreckt? #dieGeschworenen richten, das Phantom schießt.
Das Phantom @phantombulle
So einfach ist das Leute. Ihr dürft mir gratulieren.
Bernd der Elf @berndeckstein23
Lol! #dieGeschworenen werden sich bedanken für Aufschneider wie dich, @phantombulle! Lächerlich und peinlich.
Rosa Brille @diebrillenschlange
Echt jetzt! Hört auf, #dieGeschworenen zu verarschen. Die sorgen für Ordnung und das ist gut so. Klappe, @phantombulle!
Das Phantom @phantombulle
Beweis: Auf dem Zettel unter dem Stein bei der Leiche von #PlayboyScholz steht: Wir kriegen euch alle #dieGeschworenen. Fragt die Bullen.
Die Geschworenen