Staatsfeinde. Hansjörg Anderegg

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Staatsfeinde - Hansjörg Anderegg


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vor Augen geführt: An dieser Sitzung ging es nicht einfach um einen Vertrag. Er war jetzt überzeugt, es ginge um den inneren Frieden der Bundesrepublik.

      »Beeilung bitte«, sagte er, als er in den Streifenwagen stieg, »sonst geschieht ein Unglück.«

      Noch eins, ergänzte er im Stillen. Klaus Hartmann, der Kanzleramtsminister, erwartete ihn allein im Sitzungszimmer. Er spielte den Betroffenen. Das hatte er drauf.

      »Du meine Güte, Hannes, wir stehen alle unter Schock! Wie geht es dir? Solltest du nicht lieber …«

      »Zu Hause herumsitzen?«, unterbrach er. »Hättest du wohl gern, damit ihr euer Geschäft ohne mich durchwinken könnt.«

      »Also hör mal!«

      »Wo sind die andern? Können wir endlich anfangen?«

      »Die Kollegen warten auf Abruf. Wir konnten ja nicht wissen …«

      Er winkte ab, setzte sich an seinen Platz und breitete die Notizen vor sich aus. Nach und nach trafen die Kollegen ein. Sie grüßten ihn und warfen ihm Blicke zu, als wäre er von den Toten auferstanden.

      »Übertreibt mal nicht«, sah er sich genötigt zu bemerken. »Was wir hier tun, ist wichtiger als die paar Dellen am Dienstwagen.«

      Die Sondersitzung begann mit dem Bericht aus Peking. Der Leiter der Kommission, die Vorgespräche vor Ort durchführte, bestätigte wie erwartet Pekings offenes Ohr für das deutsche Anliegen.

      »Als ob nichts geschehen wäre«, brummte Hannes nach dem Ende des Ferngesprächs. Lauter sagte er: »Leute, habt ihr mal aus dem Fenster geschaut? Wir können nicht weitermachen, als wäre nichts geschehen. Wir müssen die Vorgespräche abbrechen. Brüssel wird es uns auch danken.«

      Klaus Hartmann schüttelte entschieden den Kopf. »Was da draußen abgeht, ist bedauerlich, aber es ist nichts weiter als ein linkes Strohfeuer, angefacht von unserer alten Freundin Lotte Engel.«

      »Da sind bestimmt zehntausend Menschen da draußen, und es werden stündlich mehr«, widersprach er. »Ich war mittendrin und kann euch versichern, das sind nicht alles Linksextremisten. Das sind mit Recht besorgte Bürger, die sich hintergangen fühlen, die Angst um ihren Arbeitsplatz, Angst um ihre Gesundheit, Angst um ihre Zukunft haben. Das Echo auf die Enthüllung über die Geheimverhandlungen ist gigantisch und hat jetzt auch die ganz seriöse Presse erfasst. Ihr habt die Frontseite der FAZ gesehen. Wir dürfen so etwas nicht ignorieren. Da mache ich nicht mit.«

      Hartmann warf dem Justizminister einen fragenden Blick zu. Der schüttelte den Kopf und murmelte kleinlaut:

      »Bis jetzt gibt es keinen Anhaltspunkt, wer die Informationen an die Presse gespielt hat.«

      »Dann mach Druck!«

      Das Kanzleramt war sichtlich nervös. Hartmann sah seine Felle davonschwimmen. Gut so. Hannes unterdrückte den Anflug eines Schmunzelns. Verkehrsminister Vince Vogel hatte das Streitgespräch angespannt verfolgt. Jetzt räusperte er sich umständlich.

      »Ich kann nicht glauben, was ich höre«, begann er düster. »Wir brauchen diesen Freihandelsvertrag mit China, da waren wir uns doch einig.«

      »Außer mir!«, unterbrach Hannes zornig.

      »Außer Landwirtschaftsminister Lang«, gab Vogel zu, »der sich vor billigem Reis und Geflügel fürchtet. Als gebärde sich China plötzlich wie ein Weltmeister im Nahrungsmittelexport. Ehrlich, Hannes, ich verstehe dich nicht.«

      Kein Wunder, dachte er, unterdrückte aber den Drang nach einer geharnischten Antwort. Im Übrigen begann sein Arm wieder empfindlich zu schmerzen. Vogel sprach weiter:

      »Ich habe es schon in meiner Aktennotiz dargelegt und wiederhole es gerne noch einmal. Jeder siebte Arbeitsplatz im Land hängt direkt oder indirekt an der Autoindustrie. Insgesamt sprechen wir von nahezu einer Million Beschäftigten, deren Schicksal an dieser Industrie hängt. Diese Menschen und damit diese Firmen müssen wir unter allen Umständen schützen. In den letzten paar Jahren allein konnten durch die Autoindustrie hunderttausend Arbeitsplätze geschaffen werden. Die und noch ein paar hunderttausend mehr werden im Nu wieder verloren gehen, wenn wir nicht schleunigst für den Abbau von Exportschranken in den größten Zukunftsmarkt sorgen.«

      Hannes wollte intervenieren, doch Vogel wehrte mit rotem Gesicht ab.

      »Ich bin noch nicht fertig! Seit unsere Freunde – oder muss ich sagen – Ex-Freunde jenseits des großen Teichs jeden Tag neue Hürden erfinden, um ihr dämliches America first durchzusetzen, müssen wir die Flucht nach vorn antreten. China ist die einzige Chance, unsere Arbeitsplätze und unseren Standard zu erhalten, Freunde.«

      »Und das um jeden Preis«, fügte Hannes sarkastisch an.

      Vogel war ein guter Redner. Die Mehrheit am Tisch folgte seinen Argumenten. Es war deutlich auf ihren Gesichtern zu lesen. Er zog das rote Flugblatt aus der Tasche und wandte sich direkt an den Kollegen Vogel.

      »Vince, die Leute da draußen verstehen das alles nicht. Sie skandieren immer wieder Freihandel – Mordsschwindel! und tragen Transparente mit Sprüchen wie China killt unsere Industrie, wie du auf diesem Flugblatt lesen kannst. Warum wohl? Ich sage es euch: weil wir kläglich versagt haben Freunde. Der Versuch, unseren Wählern zu erklären, weshalb Freihandel und Globalisierung im Prinzip gut und notwendig sind, ist total in die Hose gegangen. Ich plädiere nicht für Abschottung, aber wir sollten behutsam vorgehen. In einer derart aufgeheizten Stimmung, wie sie jetzt da draußen herrscht, halte ich jede weitere Verhandlung mit China für brandgefährlich.«

      Kanzleramtsminister Hartmann setzte zu einer Entgegnung an. Bevor er ein erstes Wort sagen konnte, ging die Tür auf. Es gab nur einen Menschen in der Bundesrepublik, der unangemeldet in eine solche Sitzung platzen durfte. Die Kanzlerin trat ein. Mit besorgter Miene eilte sie auf Hannes zu.

      »Gott sei Dank, Hannes. Du bist O. K.? Ich hab›s bei der Landung erfahren, abscheulich, diese Gewalt.« Sie wandte sich ans Kabinett und sagte mit Bedauern in der Stimme: »Leute, wir legen alle Aktivitäten mit China auf Eis und geben ein Dementi heraus. Es hat nie irgendwelche Verhandlungen gegeben. Klaus, du kümmerst dich darum.«

      Düsseldorf

      Erst unter der kalten Dusche erwachte Chris an diesem Morgen. Sie fühlte sich gemartert. Es lag nicht am harten Hotelbett. Der Fall verursachte Albträume. Da half auch das hübsch traurige Gesicht des reizenden Käfers von der Abendzeitung nicht darüber hinweg, von dem sie geträumt hatte, bevor sie schweißgebadet aufwachte.

      Vor dem Frühstück besorgte sie sich die neuste Ausgabe der Kölner Abendzeitung. Der Kaffee erkaltete während der Lektüre des Leitartikels. Diesmal erschien der Name Julia Hahn im Klartext, als wäre sie besonders stolz auf ihr Werk. Grund dazu hatte sie. Ein smartes Mädchen, der reizende Käfer, dachte sie schmunzelnd. Julia hatte fast alles aufgedeckt, was in Uwes Meldung aus Wiesbaden von letzter Nacht stand. Ihre Vermutung schien sich also zu bestätigen: Das Phantom verstand sich als Scharfrichter, der das Urteil der Geschworenen vollstreckte. Das Urteil – die Urteile? Automatisch holte sie die Webseite der Geschworenen aufs Display des Smartphones. Es gab kein neues Urteil. Wie sie nach einigem Suchen feststellte, war die Webseite seit einer Woche nicht mehr aktualisiert worden. Auch bei den Geschworenen schien Funkstille zu herrschen. Kein gutes Zeichen, sagte ihr Bauchgefühl. Die Ermittlungen liefen an allen Fronten ins Leere. Nichts an diesem Fall war wirklich greifbar außer den beiden Opfern in Aachen. Aus Ärger zwang sie sich, die scheußliche, kalte Brühe in einem Zug zu trinken.

      Auf dem Weg in die Parkgarage rief sie Jamie an. Er klang aufgeregt.

      »Gut rufst du an. Ich wollte gerade … Wir haben etwas zu besprechen.«

      Allerdings, dachte sie. Ein kalter Schauer rieselte über ihren Rücken. Seine Bemerkung klang wie eine Drohung. Sie hatte ohnehin das Gefühl, mit einem Fremden zu sprechen.

      »Ist es dringend?«, fragte sie mit einem Knoten im Magen. »Ich bin gerade unterwegs zum LKA.«

      »Es ist wichtig.«

      Sie


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