1975. Wolfram Hanel

Читать онлайн книгу.

1975 - Wolfram  Hanel


Скачать книгу
hättest, wäre das nicht passiert«, war sein üblicher Kommentar gewesen, wenn sich wieder einer von ihnen die blutende Nase hielt.

      Sie nahmen sich einen nach dem anderen vor. Bei Kunze hatten sie im Unterricht der Reihe nach ans Klavier treten und die Handzeichen für die einzelnen Noten herunterbeten müssen. Wer einen Fehler machte, bekam den Taktstock über die ausgestreckten Hände gezogen. Der Sportlehrer hatte einige Übung darin, unerwartet mit seinem Schlüsselbund quer durch die Turnhalle nach irgendwelchen Störenfrieden zu werfen. Der Geschichtslehrer schlug gerne mit seiner prall gefüllten Aktentasche zu. Und im Religionsunterricht lernten sie, dass der Russe nach dem Krieg, als er in Deutschland einmarschiert war, seine Kartoffeln grundsätzlich in der Kloschüssel wusch und zum Kacken den Keller benutzte. Weil er es nun mal nicht besser wusste. In Gemeinschaftskunde wiederum erfuhren sie, dass es den Negern vor allem an Milchpulver mangelte. Und in Erdkunde durften sie immer wieder den gleichen Super-8-Film sehen, in dem ihr Lehrer mit seinem Mercedes irgendwo mitten in Afrika bunte Bonbons an kleine Negerkinder verteilte.

      »Meint ihr Gnuschke?«, fragte Lepcke von hinten. »Den hatte ich in Bio, und da musste ich mich auf den Tisch legen, damit er an meinem Knie die Kühnsche Nagelung zeigen konnte …«

      »Hat er bei mir auch gemacht«, erklärte Kerschkamp mit einem Nicken.

      »Wisst ihr noch, wie er uns mal erzählt hat, dass seine Frau deshalb keine Kinder kriegen kann, weil sie Moos im Bauch hätte?«, fragte Appaz.

      »Pervers«, sagte Kerschkamp. »Aber voll. Und jetzt müssen wir nochmal für ein Jahr dahin, Mann, Scheiße!«

      »Hättest ja mehr machen können«, sagte Lepcke, »dann wärst du vielleicht nicht durchgefallen …«

      »Ach ja, ganz bestimmt!«, regte sich Kerschkamp auf. »Als ob das damit was zu tun gehabt hätte! Die wollten uns fertigmachen, kapierst du das nicht? Das finden die klasse, so was, die sind alle echt pervers, Mann, so Typen wie Böhmer, weißt du, was der zu mir gesagt hat? >Wer mit einem Individuum wie Appaz befreundet ist, der hat bei mir keine Chance!< Hat er echt gesagt, letztes Jahr erst, habe ich dir das überhaupt erzählt?«

      Er drehte sich zu Appaz.

      Appaz nickte. Kerschkamp hatte es ihm erzählt. Er zuckte mit der Schulter und versuchte ein müdes Grinsen. Obwohl ihm nicht nach Grinsen zumute war.

      »Du hättest trotzdem mehr machen können«, beharrte Lepcke.

      »Ach nee, und was ist mit dir?«, fragte Kerschkamp.

      »Hört doch mal auf mit dem Scheiß, Leute!«, bölkte Ratte, »wir haben Ferien, Mann, wir fahren nach Frankreich! Kennt ihr den: Les jeunes Alles ä douze ans aiment le chocolat, les jeunes Alles ä seize ans aiment le choque au lit?! Gut, was?!«

      »Haha«, machte Kerschkamp.

      Irgendwann gegen Mittag kamen sie an Frankfurt vorbei. Als sie zum Tanken auf eine Raststätte einbogen, fragte Appaz den Ami, ob er weiterfahren wolle.

      »Klar«, sagte der Ami und kletterte hinters Lenkrad.

      »Sag ich doch«, sagte Lepcke, »ist doch besser so, wenigstens noch einer mit Führerschein …«

      Appaz verzog sich nach hinten auf die Schlafsäcke.

      Der Ami fuhr nicht schlecht. Appaz lag noch eine Weile einfach nur so da und starrte an die Decke. Der Motor dröhnte leise vor sich hin.

      Ratte hatte sich den Kassettenrecorder halb unter den Kopf geschoben und hörte Ton Steine Scherben. Ich will nicht werden, was mein Alter ist …

      Rattes Vater war vor ein paar Jahren gestorben.

      Aber das spielte keine Rolle, es ging nicht um Rattes Vater. Du musst arbeiten, du musst schuften, so wie ich, sang Rio Reiser. Darum ging es. Dass ihnen keiner sagte, was sie zu tun hätten.

      Als Appaz wach wurde, waren sie schon irgendwo hinter Saarbrücken. Kurz vor der Grenze nach Frankreich tankten sie wieder. Appaz tauschte den Platz mit dem Ami.

      Als er das Seitenfenster zurückschob, um dem Zöllner ihre Pässe hinzuhalten, wusste er schon, dass es Ärger geben würde.

      Ratte hatte den Kassettenrecorder auf volle Lautstärke gestellt. Immer noch Ton Steine Scherben. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Der Zöllner verschwand mit ihren Pässen in seiner Bude. Es dauerte. Kerschkamp rauchte.

      »He, Mann, was wird das denn?«, fragte Lepcke von hinten. Er trommelte mit den Fingern nervös auf der Rückenlehne. Sein Kopf war knallrot, und auf seiner Stirn glänzten dicke Schweißperlen.

      »Komm runter, Alter«, sagte Kerschkamp und zog in Sekundenabständen an seiner Kippe.

      Ein anderer Zöllner kam aus der Bude und winkte sie auf einen Parkplatz neben der Fahrbahn. Sie sollten aussteigen. Appaz stellte den Motor ab.

      Der Ami tat so, als hätte er nichts mitgekriegt. Im nächsten Moment waren die Bullen da. Junge Typen, kaum älter als sie selbst. Zwei von ihnen hatten eine Maschinenpistole. Sie rissen die Heckklappe auf und zerrten den Ami vom Bett. Der Steppenwolf klatschte mit aufgeschlagenen Seiten zu Boden.

      Sie mussten sich breitbeinig an der Seite des Busses aufstellen, die Arme ausgestreckt, die Hände gegen die Scheiben gedrückt.

      Als die Bullen sie abtasteten, fing der Ami an zu kichern.

      »Scharfe Nummer«, meinte Ratte halblaut, »muss ich mir für Sabine merken …« Aber seine Stimme klang anders als sonst, irgendwie dünner und höher.

      Der Ami hatte ein Messer in einer Lederscheide am Gürtel hängen.

      Was das sei, wollte einer der Bullen wissen.

      Der Ami kicherte.

      Appaz fragte, ob Messer seit neuestem verboten seien.

      »Nein«, sagte der Bulle, »nicht, wenn man sie nur zum Brotschneiden benutzt.«

      Der Ami kicherte schon wieder.

      Appaz wusste nicht, was er antworten sollte.

      Der Bulle beugte sich zwischen Appaz und Ratte hindurch und zog Rattes funkelnagelneue Reisetasche unter der Sitzbank hervor. Machte den Reißverschluss auf und wühlte mit einer Hand eher halbherzig zwischen Rattes Unterhosen. Bis er eine eingeschweißte Packung Leberkäse in die Finger bekam. Die Packung war von innen beschlagen, der Leberkäse schimmerte grünlich-grau durch das Schwitzwasser.

      »Herta«, ließ sich Ratte vernehmen, »billig und gut.«

      Angewidert zog der Bulle die Hand zurück. Aus den Augenwinkeln sah Appaz, wie der Zöllner mit ihren Pässen zurückkam. Er zuckte mit der Schulter und nickte. Die Bullen nahmen ihre Maschinenpistolen runter. Sie durften sich wieder normal hinstellen und bekamen die Pässe ausgehändigt.

      »Und was sollte das Ganze jetzt?«, fragte Ratte. »Ich meine, das ist doch echt Scheiße, Mann …«

      »Halt’s Maul«, zischte Kerschkamp.

      »Routinekontrolle«, sagte der Bulle. Im Umdrehen trat er mit dem Stiefel wie aus Versehen gegen den hinteren Reifen. Die Stoßstange schepperte. Der Bulle bückte sich, um einen Blick auf das Reifenprofil zu werfen. Der Reifen war fast neu.

      Ohne ein weiteres Wort zog der Bulle ab. Die Maschinenpistolen-Knechte hinter ihm her.

      Der Zöllner wünschte ihnen eine gute Weiterfahrt.

      Sie kletterten zurück in den Bus. Als Appaz die Kupplung trat, merkte er, dass ihm die Knie zitterten.

      »Dein Leberkäse hat es voll gebracht«, sagte Kerschkamp grinsend nach hinten zu Ratte. »Guter Trick! Wenn du Dope schmuggeln willst, packst du einfach jede Menge gammligen Leberkäse oben drauf.«

      »Ist nicht gammlig«, sagte Ratte, »ist bei meiner Mutter aus dem Kühlschrank.«

      »Genau das meine ich«, sagte Kerschkamp.

      »Hä?«, machte Ratte.

      »Was glaubt ihr,


Скачать книгу