Januargier. Ulrich Behmann
Читать онлайн книгу.tippte er die Internetseite von Degussa an. Er lächelte zufrieden, als er die Summe sah. Ein Barren Feingold wurde dort für 4831 Euro angeboten. Nach Adam Riese war Holdorfs Gold also 48310 Euro wert. Wie geil ist das denn? Der Mann, der vor weniger als einer Stunde skrupellos und heimtückisch einen Menschen mit einer Injektion ins Jenseits befördert hatte, grapschte sich das Gold, steckte es hastig in seine Hosen- und Jackentaschen. Als er sich aus der Hocke erhob, stellte er fest, dass seine Hose von den Hüften rutschte. Er musste den Gürtel enger schnallen, ausgerechnet deshalb, weil er so viel Gold bei sich trug. Was für ein irrer Witz ... Der Spritzenmann prustete laut los. Er kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen ... Als er sich wieder beruhigt hatte, ging er zurück ins Wohnzimmer und schaute von oben herab auf sein Opfer – wie ein Habicht auf eine von ihm erlegte Maus. Mitleid hatte er nicht mit dem Mann, den er getötet hatte. „Selbst schuld“, dachte er. „Warum konntest du auch nicht dein Maul halten?“
Der Serientäter zog mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand ein aus roten und weißen Wollfäden zu einem winzigen Zopf geflochtenes Band aus der Brusttasche seines bordeauxroten Oberhemds. Er beugte sich hinab zu Holdorf, legte das Bändchen um das linke Handgelenk der Leiche und knotete es zu. „So, mein Guter. Das ist mein Abschiedsgeschenk für dich“, sagte er. „Vielleicht siehst du ja irgendwo da oben einen Storch. You never know. Gute Reise.“ Was er damit meinte, sagte er nicht. Warum auch? Holdorf konnte ihn nicht mehr hören. Der Mörder lachte nur – er schien amüsiert. Er schaute auf das Band – es war seine geheime Signatur.
Die Ermittler würden sie übersehen. Dessen war er sich sicher. Niemand war ihm bislang auf die Schliche gekommen. „Tja, ich bin halt schlauer, als die Polizei erlaubt“, brabbelte er grinsend vor sich hin. Bevor der Spritzenmann die Wohnung seines Opfers verließ, ging er ins Badezimmer. Er drehte den Wasserhahn auf und wusch seine Hände, die bei der Suche nach dem Gold schmutzig geworden waren. Das heiße Wasser, das von seinen Fingern lief, färbte sich schwarz, tropfte in das weiße Waschbecken und hinterließ dort Schlieren. Der aufsteigende Wasserdampf hatte sich auf dem Spiegel niedergeschlagen. Er konnte sein Gesicht nicht sehen. Ihm kam die Idee, noch ein Zeichen zu hinterlassen. Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand malte er drei Striche auf die beschlagene Spiegeloberfläche. Es waren die Anfangsbuchstaben der Namen seines Idols, dem er seit fünf Jahren nacheiferte. Niemand würde seine Hinterlassenschaft deuten können. Wenn überhaupt, wurden die Initialen erst sichtbar, wenn der Spiegel ein weiteres Mal beschlug. Aber das würde wohl kaum passieren. Und falls doch ... Auch egal. Sichtlich zufrieden, mit einem Kilo Gold in den Taschen, verließ er Holdorfs Wohnung, die in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses an der Domeierstraße lag. Er würde jetzt nach Hause gehen, sich ein kühles Zagorka einschenken und den Tag mit Hits von Emilia ausklingen lassen. So ein Volltreffer kam schließlich nicht allzu oft vor – der Erfolg musste gefeiert werden.
Kapitel 4
Doktor Karl Mertens spürte ein leichtes Unbehagen in der Magengegend. Das hatte aber nichts damit zu tun, dass die 20. Leiche, die er sich heute kurz nach Sonnenaufgang im großen Kühlraum des Krematoriums auf dem Friedhof in Hannover-Lahe genauer anschaute, schon stark verwest war und deshalb einen intensiven süßlichen Geruch im Raum verströmte, den selbst er als unangenehm empfand. Der Rechtsmediziner kannte den Geruch des Todes nur zu gut. In seinen fast 40 Dienstjahren hatte er schon so ziemlich alles gesehen und gerochen, was mit dem Tod zu tun hatte – an ungezählten Leichenfundorten, in den Kühlräumen der Feuerhallen und im Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule, dessen stellvertretender Leiter er war. Mertens war für seine ausgezeichnete Nase bekannt. Er verstand es wie kaum ein anderer, Gerüche – wenn sie für die forensische Begutachtung einer Leiche wichtig waren – zu bewerten und zu identifizieren. Das konnte für die Klärung einer Todesursache von äußerster Wichtigkeit sein. Einmal hatte er einen Giftmord förmlich erschnüffelt. 1992 war das gewesen. Eine betrogene Ehefrau hatte sich seinerzeit ihres Mannes entledigt, indem sie ihm Zyankali in seine Leibspeise gemischt hatte. Weiß Gott, woher sie das Zeug hatte. Doktor Mertens hatte sofort den Bittermandelgeruch bemerkt – im Gegensatz zu manchen Menschen, die aus genetischen Gründen gar nicht dazu in der Lage waren, diesen verräterischen Geruch wahrzunehmen. Die hellroten Totenflecke waren ein weiteres sicheres Zeichen für eine Cyanid-Vergiftung gewesen.
Seit mittlerweile acht Jahren führte der Rechtsmediziner im Krematorium Leichenschauen durch. Er machte das gleich nach dem Frühstück, noch bevor er mit seinem dunkelblauen Audi A6 das Institut für Rechtsmedizin ansteuerte, in dem die Leichen von Ermordeten, tödlich Verunglückten und Selbstmördern in Kühlfächern lagerten. Diese Toten wurden nicht wie die im Krematorium nur äußerlich genau unter die Lupe genommen, sondern auch aufgeschnitten und deren Organe und Körperflüssigkeiten untersucht. Vor der Einäscherung eines Verstorbenen musste immer dann eine zweite Leichenschau durchgeführt werden, wenn ein Arzt einen natürlichen Tod bescheinigt und die Polizei deshalb keine Kenntnis von dem Sterbefall hatte. Ein Totenschein genügte in diesen Fällen nicht. Bis zur Freigabe durch einen Rechtsmediziner oder Amtsarzt verblieben diese Verstorbenen in den Kühlanlagen des Krematoriums. Erst wenn ein Leichenbeschauer seine Zustimmung zur Einäscherung gegeben hatte, durfte ein Toter mitsamt dem Sarg in den Ofen geschoben und bei Temperaturen um 1000 Grad Celsius verbrannt werden. In der Regel dauerte dieser Vorgang 75 Minuten. Von einer Leiche blieben nur zwei bis drei Kilo Asche übrig. Anschließend wurden die sterblichen Überreste noch mineralisiert, um ihnen Schwermetalle und andere Schadstoffe zu entziehen, was sich für gewöhnlich ebenfalls über mehr als eine Stunde hinzog. War eine Leiche erst einmal kremiert und die fein zermahlene Totenasche in eine spezielle Kapsel gefüllt worden, ließ sich ein Fremdverschulden definitiv nicht mehr nachweisen. Deshalb legte der Gesetzgeber so viel Wert auf eine abschließende Zweitmeinung.
Doktor Mertens war ein gewissenhafter Mann. Er verstand sich als Anwalt der Toten und hatte schon das eine oder andere Mal eine Leiche „angehalten“, wie es im Fachjargon hieß, weil er Hinweise auf einen Unfalltod oder auf ein Verbrechen gefunden hatte. Er nannte das scherzhaft Boxenstopp. An diesem Morgen war Mertens froh, dass er im eisigen Vorraum der Feuerhalle nicht mehr als die üblichen 20 Leichenschauen durchführen musste. Er wollte, so schnell es ging, ins Institut für Rechtsmedizin. Ihm ging die Tote aus Kühlfach Nummer sechs nicht aus dem Kopf. In der vergangenen Nacht hatte er von dieser Frauenleiche geträumt. Das war ihm noch niemals zuvor passiert. Mertens deutete das als Zeichen – er wollte die Tote ein zweites Mal untersuchen. Der Leitende Oberarzt hatte bereits während der kurzen Fahrt von seinem Haus in Hannover-Bothfeld zum Krematorium in Lahe seinen jungen Kollegen Doktor Klaus Martin telefonisch darüber informiert und ihn gebeten, alles für eine zweite Sektion vorzubereiten.
Doktor Mertens wischte die Gedanken an die bevorstehende Nachuntersuchung beiseite, zwang sich, konzentriert zu arbeiten. Jetzt war erst einmal diese Tote an der Reihe. Leichnam Nummer zwanzig. Er lag nackt in einem geöffneten Sarg – wie die anderen 19, die er bereits zuvor akribisch in Augenschein genommen hatte. Bernie Krause, ein Mitarbeiter des Krematoriums, ging ihm heute zur Hand. Der Mann mit der roten Knollennase und den kräftigen Bauarbeiter-Händen drehte die Toten auf die Seite und auf den Bauch, wenn der Gerichtsmediziner ihn darum bat. Krause war Ende vierzig, von kräftiger Statur – und kein Freund von Nebensätzen. Er hatte sich im Laufe der Zeit an den Anblick von toten Menschen, an die seltsamen Schmatz- und Zischlaute der sogenannten Fäulnisleichen und an den üblen Geruch, den sie verbreiteten, gewöhnt.
Der Rechtsmediziner warf einen kurzen Blick auf den Totenschein. Seine wachen Augen erfassten innerhalb weniger Sekunden die für ihn wichtigen Daten: „Name: Heide-Marie Roth, Alter: 69, Todesursache: Verdacht auf Herzinfarkt. Am 27. Januar 2020 um 21.35 Uhr leblos zu Hause aufgefunden.“ Viel mehr wusste Doktor Mertens nicht über die Verstorbene, die von ihm für die Feuerbestattung freigegeben werden sollte. Viel mehr musste er auch nicht wissen. Das, was ihn interessierte, musste er selbst bei der Leichenschau herausfinden. Die Seniorin dürfte schon vor mehr als zwei Wochen gestorben sein. Darauf deutete der fortgeschrittene Verwesungszustand hin. Die Bauchdecke war gebläht und hatte sich grün verfärbt. Die nässende Haut sah marmoriert aus und war mit Bläschen übersät. Typische Anzeichen für eine Fäulnisleiche. Bernie Krause verzog sein Gesicht. „Alter Schwede ... Gut, dass nicht alle Leichen so heftig riechen ...“, sagte der Helfer. Doktor Mertens nickte. „Ja, Herr Krause. Das stimmt wohl. Aber auch diese Tote verdient es, dass wir ganz genau hinschauen und