Januargier. Ulrich Behmann
Читать онлайн книгу.Schultz holte kurz Luft, dann startete er einen Erklärungsversuch.
„Du musst wissen, dass die Standardatmosphäre hier bei uns – also auf Meereshöhe – einen Luftdruck von 1013,25 Hektopascal hat. Das ist das weltweite Mittel. Hier im Therapieraum herrscht ein Druck von cirka 1000 Hektopascal. In einem Autoreifen ist es doppelt so viel. Und wie ich schon sagte: An zwei Tagen hatten wir an der Küste einen Luftdruck von mehr als 1040 Hektopascal. Das wirkt sich schon auf den Kopf aus – bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Es liegt auf der Hand, dass das bei empfindlichen Menschen heftige Kopfschmerzen auslösen kann.“
Herma hob ihren Kopf an, schaute Georg in die Augen. „Ich war nie wirklich wetterfühlig. Okay, ein bisschen vielleicht, aber nicht so richtig ...“
Der Physiotherapeut zog seine Augenbrauen hoch. „Du, ich bin kein Arzt, aber ich kann mir gut vorstellen, dass dich die schweren Schädel-Hirn-Verletzungen, die dir von diesem Arschloch zugefügt wurden, anfällig für diese Luftdruckschwankungen gemacht haben.“ Herma van Dyck biss sich auf die Unterlippe – ihr liefen plötzlich Tränen über die Wangen. Sie schluchzte. „Hast du mal ein Taschentuch für mich, Georg?“ Der Cheftherapeut zog ein unbenutztes Stofftaschentuch aus seiner weißen Hose und reichte es seiner Patientin. Er schämte sich dafür, dass er bei Herma einen wunden Punkt getroffen und seine Bekannte zum Weinen gebracht hatte. Warum konnte er auch seinen Mund nicht halten.
Der Angriff auf Herma lag gerade mal zehn, elf Wochen zurück. Herma van Dyck hatte die Attacke definitiv nicht verarbeitet. Sie war noch nicht wieder die Alte. Das hätte er ahnen können. Georg Schultz kratzte sich verlegen auf seiner Glatze. Dann strich er Herma übers Haar.
„Hey, nicht weinen. Das wird schon wieder. Wirst schon sehen. Du bist eine starke Frau. Aber du musst Geduld haben ...“
Herma schnäuzte sich die Nase. „Ja, klar. Ich kriege das schon hin. Mich kotzt es nur an, dass da vielleicht etwas in meinem Gehirn kaputtgegangen ist – und dass mich das bis an mein Lebensende schmerzlich an dieses beschissene Arschloch erinnern wird. Auf dieses Andenken kann ich gut verzichten.“
Georg machte eine abwehrende Handbewegung. „Noch ist nicht aller Tage Abend. Vielleicht ist das ja auch nur der Winterblues, der dir aufs Gemüt geschlagen hat. Und wie gesagt: Diese extremen Luftdruckschwankungen haben bei vielen Menschen Kopfschmerzen ausgelöst. Meine Praxis wird von diesen leidgeprüften Menschen förmlich überrannt. Bei einigen lösen diese Wetterkapriolen Migräneattacken aus. Denk positiv ... Wichtig ist doch nur: Der Scheißkerl ist tot – und du lebst. Kopf hoch ... Wirst sehen: Bald bringst du wieder Verbrecher zur Strecke und trägst dazu bei, dass unser Land noch sicherer wird.“
Georg Schultz hatte es geschafft, Herma zum Lächeln zu bringen. „Hast ja recht, Georg. Ich bin eine Kämpferin. Ich beiße mich schon durch. Weißt du, wie sie mich in Rumänien früher genannt haben?“ Herma schob die Antwort gleich grinsend hinterher. „Starke Typin.“ Sie strahlte dabei Zuversicht aus, erzählte von der Zeit, als sie als Ehrenamtliche der DLRG-Ortsgruppe Wangerland in Ostfriesland Hilfsgüter für Siebenbürgen gesammelt und auf den Balkan gefahren hatte. 20 Jahre war das jetzt her. Wie schnell doch die Zeit verging. Herma wurde nachdenklich. In 20 Jahren würde sie schon längst in Pension sein. Georg Schultz blieb nicht verborgen, dass Herma van Dyck Stimmungsschwankungen hatte. Er fragte sich, wann die Mordermittlerin wohl wieder diensttauglich sein würde. Sie musste möglichst rasch wieder das tun, was sie am liebsten tat – Mörder jagen und festnehmen. Der Physiotherapeut verkniff sich die Frage, ob Herma Hilfe vom Polizeipsychologischen Dienst bekam. Er wusste aus Fernsehserien, dass Polizisten, die Schreckliches erlebt hatten oder im Dienst schwer verletzt worden waren, erst dann wieder als dienstfähig eingestuft wurden, wenn sie zuvor von einem Polizeipsychologen oder Psychiater eine Art Unbedenklichkeitserklärung bekommen hatten. Aber ob das der Wahrheit entsprach oder ob sich das die Drehbuchautoren bloß ausgedacht hatten, wusste Schultz nicht. Während er mit seinen Händen Hermas Nacken- und Rückenmuskulatur bearbeitete, dachte er über das nach, was seiner alten Freundin im Dezember im Dienst widerfahren war. Er war froh, etwas dazu beitragen zu können, dass Herma wieder auf die Beine kam. Die Arbeit würde ihr guttun. Davon war er überzeugt.
Kapitel 6
Schneller als sonst üblich hatte sich Doktor Karl Mertens in einem mit Spinden gefüllten Nebenraum des Sektionssaals umgezogen und seinen steingrauen Lieblingsanzug gegen einen hellgrünen Kittel getauscht. Darüber trug der stellvertretende Leiter des Instituts für Rechtsmedizin eine schneeweiße Schürze aus hauchdünnem Kunststoff. Sie sollte seine Berufskleidung vor Blutspritzern und anderen unkontrolliert austretenden Körperflüssigkeiten schützen.
Um 8.45 Uhr betrat Mertens den Saal, der sich im Erdgeschoss des Gebäudes I6 befand. Er ließ die Glastür hinter sich ins Schloss fallen und verschaffte sich zunächst von seiner leicht erhöhten Position einen Überblick. Die rechte Hand lässig gegen die geflieste Wand gestützt, seine linke in die Hüfte gestemmt, ließ er seinen Blick über die drei Stufen tiefer liegenden fünf baugleichen, etwas klobig wirkenden Sektionstische aus poliertem Edelstahl schweifen. Mertens’ Pose erinnerte an einen Feldherrn, der versuchte, ein Schlachtfeld zu überblicken. In gewisser Weise stimmte das Bild – wenn auch im übertragenen Sinne. Im Sektionsraum wurde zwar nicht gestorben, aber hier lagen immerhin die sterblichen Überreste derjenigen, die in den vergangenen Tagen und Nächten möglicherweise durch fremde oder eigene Hand Opfer stumpfer oder scharfer Gewalt geworden waren. Die Toten hatten eines gemeinsam – sie warteten darauf, dass ihnen jemand ihr Geheimnis entlocken würde. Auf jedem Untersuchungstisch lag eine unbekleidete Leiche. Mertens zählte drei weibliche und zwei männliche Tote. Die Präparatoren hatten bereits aufgetischt. Den stechenden Geruch von Formalin, der sich an der kühlen Luft mit dem leicht süßlichen Gestank von faulendem Fleisch vermischte, nahm Doktor Mertens nicht wahr. Er betrachtete die Szene ein, zwei Minuten lang und stieß sich dann ruckartig von der kalten Wand ab. Na, dann mal frisch ans Werk, dachte der Leitende Oberarzt und klatschte dabei – lauter, als ihm lieb war – in die Hände.
Mertens war voller Elan. Auch nach fast vier Jahrzehnten konnte er sich noch für seine Arbeit begeistern. Der von Neonröhren bis in den letzten Winkel ausgeleuchtete große Raum war bis zur Decke weiß gekachelt, der Fußboden bestand aus unzähligen kleinen grau-weißen Mosaikfliesen. Mertens kniff die Augen zusammen – er hielt angestrengt Ausschau nach Assistenzarzt Doktor Martin. Dort, wo sich Klaus aufhielt, war die Tote aus Kühlfach Nummer sechs vermutlich nicht weit. Das hoffte Mertens zumindest. Er wollte sich als Erstes um die junge Frau aus Hameln, die ihn bis in den Schlaf verfolgt hatte, kümmern. Als der stellvertretende Institutsleiter seinen Mitarbeiter erspäht hatte, ging er zielstrebig auf ihn zu. „Guten Morgen, Klaus“, sagte Mertens und klopfte seinem jungen Kollegen väterlich auf die linke Schulter. Doktor Klaus Martin war Anfang 30 – er schnitt erst seit vier Jahren Leichen auf und lamellierte eigenständig deren innere Organe. Auch Martin hatte offenbar schlecht geschlafen. Seine braunen Augen, die die Farbe dunklen Holzes hatten, sahen müde aus, als er seinen Chef über den oberen Rand seiner rahmenlosen Brille hinweg anschaute. „Was soll an diesem Morgen gut sein?“, fragte Martin und zeigte auf die Seziertische. „Da liegen fünf Tote, die wir obduzieren müssen. Und in den Kühlfächern lagern bei konstanten sechs Grad Celsius noch sieben weitere Polizeileichen.“ So nannten Gerichtsmediziner die Toten, die auf Anweisung der Staatsanwaltschaft ins Institut gebracht worden waren.
Doktor Mertens runzelte die Stirn, signalisierte mit ausgebreiteten Armen Unverständnis. „Was willst du mir damit sagen, mein Lieber? Das ist doch fast jeden Tag so ...“ Klaus Martin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Äh ... Na ja ... Ich meine nur: Wir können uns über Arbeit nicht beklagen, und wir beide nehmen uns jetzt noch mal die Leiche einer Frau vor, die wir bereits gestern obduziert haben. Ganz offen und ehrlich: Ich verstehe nicht, warum ...“ Der Leitende Oberarzt lächelte wissend, verschränkte seine Arme vor der Brust. „Geht es in unserem Job nicht immer um das Warum?“
Doktor Martin winkte ab. „Ist ja auch egal ... Du machst ja eh, was du willst. Die Frau liegt auf Tisch eins.“ Präparator Hermann Schmidt stand am Kopfende und wartete geduldig auf die Mediziner. Auf Anweisung von Doktor Klaus Martin hatte er die Bahre, auf der der Leichnam lag, vor einer halben Stunde aus dem Kühlfach, von dort auf einen höhenverstellbaren Rollwagen gezogen