X-Mas: Hochdramatisch. Andrea Gerecke

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X-Mas: Hochdramatisch - Andrea Gerecke


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wenn alles klappt, kann ich Heiligabend vorbeischauen. Momentan ist da noch keine neue Dienstreise geplant. Aber man weiß ja nie. Jetzt erst mal ganz liebe Grüße aus Neuseeland. Bleibt gesund und munter. Und Bussi, ihr beiden!“

      Noch bis vor Kurzem hatte Walther recht gut funktioniert und die Situation mit seiner Frau im Griff, deren Demenz immer deutlichere Züge annahm. Da hatte er auch stets zum Hörer gegriffen, wenn das Telefon klingelte. Und er wartete mit Notlügen auf, denn er wollte seinen Kindern nicht das Herz schwer machen. Martha befand sich also in der Wanne, war beim Friseur, bei der Fußpflege oder stand am Herd …

      „Ja, Mam geht es gut. Sie steht natürlich in der Küche und zaubert was Leckeres für uns beide. Momentan ist sie total unabkömmlich. Aber sie lässt euch herzlich grüßen.“

      Dann tauschte er sich mit seinem Sohn aus, und beide fachsimpelten über medizinische Fragen. Wenn es Walther auch nur zum Pfleger gebracht hatte, so hatten sie all ihre Kräfte in die Ausbildung der Kinder gesteckt, vor allem des Jungen, der später seinen Doktor machte.

      Marie-Ann war Reiseverkehrskauffrau geworden und tat genau das, was sie sich immer gewünscht hatte, schon als kleines Mädchen. Wenn sie damals etwas spielte, dann war es in der Mehrzahl der Fälle Urlaubmachen. Bei früheren Telefonaten mit ihr ging es stets um phänomenale Eindrücke einer neuen Destination. Die Tochter beschrieb jedes Mal ausgiebig und sehr gut vorstellbar Land und Leute, Flora und Fauna. Fragen nach dem Wohlbefinden der Eltern wurden rhetorisch ans Ende des Gesprächs gelegt und meist gleich selbst beantwortet. Oder aber es endete mit einer Floskel: „Ich muss dann mal wieder, mein Chef drängt. Wir haben ja auch richtig lange geplaudert …“

      Die letzte Lieferung der bestellten Waren aus dem Supermarkt war Mitte November eingetroffen. Ein paar Kisten Mineralwasser, etliche Päckchen Knäckebrot, Margarine, Wurst- und Fischdosen, Obst und Gemüse in Gläsern, auch einiges an Frostware. Walther hatte alles verstaut, allerdings auch schon nicht mehr unbedingt an den Orten, wo es hingehörte. Die Tasche mit den gefrorenen Artikeln landete im ehemaligen Kinderzimmer, das der Sohn und die Tochter nie wieder genutzt hatten, seit sie bei den Eltern ausgezogen waren. Gleich zu Beginn ihrer Berufsausbildungen. Dennoch hielten sie es immer bereit für beide, falls sie sich einmal dafür entscheiden würden.

      Auf der rechten Seite stand die Carrera-Bahn an ihrem Platz, der abgenutzte, einst hellbraune Teddy saß auf dem Bett, das in geordneter Regelmäßigkeit frisch bezogen wurde, und an der Wand darüber klebten die Plakate von vor vielen Jahren angesagten Musikgruppen. Auf der linken Seite des Raumes war das Reich der Tochter gewesen, optisch etwas abgetrennt durch ein frei stehendes Bücherregal. Hier saß eine viel geliebte Barbiepuppe auf dem Bettzeug, mit einer märchenhaften, etwas verwaschenen Blumenwiese darauf. Auf dem Kopfkissen prangte ein grüner Frosch mit einer goldenen Krone auf dem Haupt. Irgendwann hatte Martha das alles genau so arrangiert, ein Zustand von vor vielen, vielen Jahren, und es hatte Walther sehr berührt.

      „Wir wollen euch ja keine Umstände machen“, war stets die Rede des Sohnes, wenn er sich mit seiner Frau und später auch mit dem Nachwuchs von den Eltern für die Übernachtung ins Hotel verabschiedete. „Ist doch viel zu eng für uns alle!“

      Und auch Marie-Ann fand immer einen Grund, wa­rum sie nicht in diesem Zimmer schlafen konnte, obwohl sie Single geblieben war und die Enge nicht als Argument gelten konnte.

      Für dieses Weihnachtsfest hatte sich der Sohn auch schon weit vorher, irgendwann im Herbst, am Telefon wortreich entschuldigt. Zu viel Arbeit, der enorme Stress, einfach keine Zeit … Natürlich zeigte Walther Verständnis, hoffte aber im Stillen, es würde ein Wunder geschehen und beide Kinder wären am Heiligen Abend daheim. So, wie sich das gehörte.

      Am liebsten hing der alte Mann seinen Gedanken an die alten Zeiten nach, als man ihn noch im Beruf anerkannte. Gern saß Walther dazu auf dem sonnigen Balkon, inmitten der Ranken, die von Britta Baumgartens Balkon he­runtergewachsen waren. Er liebte diesen grünen Dschungel, in dem man sich fast verbergen konnte. Im heißen Sommer spendete er schattige Kühle, und es roch, als wäre man auf einem Spaziergang in der freien Natur. Natürlich nur, wenn er die Augen schloss.

      Martha ließ ihm diese Ruhe, während sie sich um die Hausarbeit kümmerte, gern etwas Leckeres auf dem Herd zauberte, solange sie konnte. Zum Beispiel Szegediner Gulasch, sein absoluter Favorit. Mit Sauerkraut und Kassler und zuletzt zur Abrundung eine ganze Packung saurer Sahne in das fast fertige Gericht. Wenn die Düfte aus der Wohnung um seine Nase zogen, dann versank er noch lieber in seinen Erinnerungen oder in die Lektüre eines guten Buches.

      „Walther, Sie haben unserer Mutter das Leben gerettet mit Ihrer einfühlsamen Pflege. Das hat ihr wieder Mut gegeben“, bedankte sich eine Frau bei ihm, eine seiner Standarderinnerungen. Mit einem großen Blumenstrauß in der Hand und einer Schachtel Pralinen. An dem Strauß ein Umschlag mit einem größeren Geldschein darin. Er winkte nur ab: „Nicht der Rede wert, das ist doch mein Job. Und jeder von uns tut hier sein Bestes. Schön, dass es Ihrer Mutter wieder so gut geht.“

      Natürlich steckte er später das Geld in das große rote Sparschwein der Station und teilte die süßen Kalorienbomben mit den Kollegen.

      Das mit den Erinnerungen auf dem Balkon musste im vergangenen Sommer gewesen sein oder doch schon im Sommer davor? Walther wusste es nicht mehr. Außerdem trat er jetzt im Winter nicht ins Freie, weder auf den zugeschneiten Balkon noch vor die Haustür.

      Und wann es den letzten Szegediner Gulasch gegeben hatte, das war Walther auch nicht mehr bewusst. Lediglich der Auslöser für ein letztes, selbst bereitetes Mahl. Da hatte Martha Spargel, Kartoffeln und Sauce hollandaise zubereiten wollen. Zur Krönung mit Schweinefilet vom Biobauern. Der bot einmal die Woche an seinem Stand neben dem Supermarkt seine Ware feil. Walther hatte nur noch eine schöne Flasche Weißwein zum Essen aus dem Keller holen wollen und war auf dem Weg mit der Hausmeisterin ins Plaudern geraten.

      Als er wieder nach oben kam, quoll schon dicker Qualm aus der Wohnung, und die Rauchmelder piepten. Dann funktionierte er nur noch. Riss in der Küche die Pfanne mit dem schwarzen Fleisch von der Platte und stellte den Herd aus. Dann öffnete er weit die Fenster in allen Zimmern, um für Durchzug zu sorgen. Zuletzt erst holte er sich einen Stuhl und stieg unter die Rauchmelder, die Alarm signalisierten. Stück um Stück deaktivierte er sie. Während Martha im Wohnzimmer saß und vor sich hin starrte. Um die Reste der Mahlzeit kümmerte sich dann Walther und servierte auch den Wein dazu. Beide aßen und tranken schweigend. Zum Glück waren die Nachbarn an jenem Tag schon ausgezogen, und niemand bemerkte das Missgeschick.

      Als sich Walther abends neben seine Frau legte, zog er das Schubfach seines Nachtschränkchens heraus. Natürlich lagen die Tabletten darin. Wo sollten sie auch sonst sein?! Zwei Rationen an Schlafmitteln, bei denen es kein Danach mehr gab. Er hatte die richtige Sorte ausgewählt und die entsprechende Menge abgezählt. Schließlich kannte er sich in dem Metier aus. Zur Sicherheit war er bei der Anzahl etwas großzügiger gewesen.

      Im Bett floh ihn zunächst der Schlaf, aber dann umfing er ihn mit wohligen Träumen. Wie er und Martha sich einst kennengelernt hatten, auf der Hochzeitsfeier seines besten Freundes. Er war der Trauzeuge, und sie streute Blumen in der Kirche, weil die Kinder, die das ursprünglich tun sollten, aus unerfindlichen Gründen in einen Streit geraten waren, sich plötzlich prügelten, dabei in einer Pfütze landeten und in der folgenden Anzugsordnung kein gutes Bild abgegeben hätten. Martha sprang ein und zwinkerte ihm dabei zu. Die Initialzündung, wie Walther später immer wieder zum Besten gab. Da hatte es bei ihnen beiden gefunkt. Nur ein Jahr später führte er seine Liebste zum Traualtar.

      Jetzt umarmte er sie und hob sie hoch, federleicht, wie sie war. Trug sie über die Schwelle in das neue gemeinsame Zuhause. Nicht eine Falte hatte sein Marthchen, und wie sie duftete, wie der leibhaftige Frühling. Nach Maiglöckchen und noch viel mehr.

      Walther drehte sich von einer Seite auf die andere. Eine Träne rollte aus einem Augenwinkel über sein verbrauchtes Gesicht. Martha erwachte, machte die Nachttischlampe an, schaute zu ihm hinüber und streichelte ihm sanft über den Kopf. Wer war nur dieser Mann da neben ihr im Bett? Hatte sie sich zum Großvater dazugelegt, weil sie einen Albtraum hatte, davon hochgeschreckt war und nicht mehr einschlafen konnte? Bestimmt, beschloss Martha. Dann stand sie betont leise auf


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