X-Mas: Hochdramatisch. Andrea Gerecke

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X-Mas: Hochdramatisch - Andrea Gerecke


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Stimmung verhießen. Sie schien die Kälte nicht zu bemerken. Auch nicht das unbeleuchtete Auto mit dem Anhänger, von dem gerade zwei Männer weiteren Sperrmüll auf dem Parkplatz abluden und auf den schon vorhandenen Berg schichteten. Wie immer in einer Nacht-und-Nebel-Aktion und nicht etwa dann, wenn offiziell dazu aufgerufen wurde.

      Ob der Weihnachtsmann ihr und ihren beiden Brüdern auch schöne Geschenke bringen würde? Im Gegensatz zu den beiden Jungs war sie ja immer artig gewesen und der Mutter bei allen Hausarbeiten zur Hand gegangen. Martha hatte die Hände auf die Balkonbrüstung gelegt und wippte jetzt mit den Füßen hin und her. Das Gedicht, hatte sie es denn noch parat? Bald würde sie es aufsagen müssen. Fehlerfrei natürlich. Aber sie kannte ja viele schöne Verse, und die Entscheidung für eine Variante fiel ihr jedes Jahr so unendlich schwer. Am liebsten mochte sie das Gedicht von Knecht Ruprecht. „Von drauß’ vom Walde komm ich her, ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr …“, sprach Martha in die stille Nacht. Ihr Atem flog mit einem sichtbaren Hauch davon. Als sie damit fertig war, grübelte sie weiter. Oder doch vielleicht ein Lied, das mochten die Eltern besonders gern. Sie räusperte sich und setzte mit etwas brüchiger Stimme an:

      „Alle Jahre wieder kommt das Christuskind

      Auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind.

      Kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus,

      Geht auf allen Wegen mit uns ein und aus …“

      Walthers Traum war abrupt beendet. Vielleicht war es das ungewohnte Streicheln gewesen, eine Erinnerung an früher. Er hatte es ganz deutlich gespürt. Martha, wo war sie denn nun schon wieder hin? Eigentlich wollte er aufspringen, aber das gaben seine Knochen nicht mehr her. Er ächzte, als er sich mühsam erhob und sich dafür mit beiden Händen auf der Bettkante abstützte.

      Schon im Flur spürte er den Frost, der durch die Wohnung zog. Nein, die Tür war es nicht. Die war fest verschlossen, und den Schlüssel hatte er wie stets extra auf der Hutablage deponiert, ganz am Ende. Eine generelle Sicherheitsmaßnahme. Martha sollte nicht drankommen und sich eventuell auf den Weg machen können. Dann der Balkon. Natürlich. Walther fuhr sich durch die Haare, die dadurch nicht mehr zerzaust wurden als ohnehin. Von dort vernahm er plötzlich auch ihren Gesang.

      „Was machst du denn hier, Liebes?“ Er legte ihr vorsichtig einen Arm um die Schultern, um sie nicht zu erschrecken. „Du wirst dich noch erkälten. Hättest dir wenigstens eine Jacke überziehen sollen.“

      Marthas Augen glänzten im Schein der funkelnden Nacht, aber sie sagte kein Wort mehr, sondern ließ sich nur willig ins Innere führen. Walther schloss hinter ihr die Balkontür. Ein richtiges Schloss wäre auch hier eine Lösung, fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf. Das hättest du schon längst machen lassen sollen. Er nickte und zugleich fiel ihm ein, dass er dafür eigentlich Edgar hatte ansprechen wollen. Das war ihm bislang nur durch die Lappen gegangen, weil er den Hausmeister so lange nicht gesehen hatte.

      Walther betrachtete seine Frau. Ihre Füße waren knallrot und nass von dem Schnee draußen. Selbst beim Nachthemd zog sich die Feuchtigkeit nach oben. Jetzt ein heißes Bad? Oh nein, nicht doch mitten in der Nacht. Er hätte dafür keinesfalls die nötigen Kräfte aufgebracht. Dann wenigstens mit einem Frotteetuch trocken rubbeln.

      Er führte Martha ins Bad und zog ihr das Nachthemd über den Kopf. Zum Vorschein kam ein ausgemergelter, abgemagerter Körper, bei dem die Knochen hervorstanden. Was hättest du früher dafür gegeben, so wenig Kilos auf die Waage zu bringen?, bohrte sich eine Frage in Walthers Gehirn. Hast immer gehadert mit deinem Gewicht. So ein Blödsinn. Jedes Gramm an dir habe ich geliebt. Jetzt wirst du immer weniger …

      Resolut zog sich Walther das große Badetuch vom Haken und fing an, Martha vom Kopf bis zu den Füßen abzurubbeln. Ganz behutsam. Schließlich war auch ihre Haut über die Jahre äußerst empfindlich geworden, und er wusste, was in dem Alter und diesem Zustand eventuelle Verletzungen bedeuten konnten. Offene Stellen heilten mitunter nie wieder.

      „So, mein Schatz.“ Walther führte seine Frau an der Hand wieder ins Schlafzimmer. „Dann suche ich dir noch ein schönes warmes Flanellnachthemd heraus. Und eins, zwei, drei schläfst du wieder den Schlaf der Gerechten. Wir haben ja bis zum Aufstehen noch alle Zeit der Welt.“

      Sie schaute zu ihm hoch, und es wirkte fast liebevoll. Wenn der Großvater sagte, dass sie ins Bett sollte, dann gab es keine Widerrede. Martha legte sich gehorsam hin und ließ sich von Walther bis ans Kinn zudecken. Die Augen hielt sie geschlossen. Morgen, dachte sie, morgen werde ich ganz bestimmt die Liebesperlen essen, die der Opa in seinem Nachtschränkchen verstaut hat. Sehr weit hinten zwar, sodass sie nicht auf Anhieb ins Auge fielen. Aber sie hatte ihn dabei beobachtet, wie er sie in den Händen hielt. Bestimmt sollte das eine Überraschung für sie sein. Und er würde garantiert nicht böse sein, wenn sie die Liebesperlen schon naschen würde …

      3. Kapitel

      Nur Fassade

      Als Swenja die Post ihrer Schwester durchging, hörte sie dumpfe Geräusche aus der Wohnung darüber. Sie zuckte zusammen. Hatte Sybilla nicht mal davon berichtet, dass sie der festen Überzeugung sei, das Pärchen würde sich gegenseitig verprügeln?! Nur nach außen hin würden sie die Fassade wahren und immer wie aus dem Ei gepellt und nach dem neuesten Trend gekleidet das Haus verlassen. Wenn man mal von der Sonnenbrille absah, die der Mann gelegentlich auch im Winter trug. Wobei ja irgendwelche Hämatome meist größer waren als die Abdeckung …

      Swenja hatte noch Sybillas höhnisches Lachen im Ohr und die Bemerkung: „Geschieht diesem Schwachmaten recht. Der hat einfach Prügel verdient, so wie der aussieht!“

      Dazu hatte Swenja eine beschwichtigende Bemerkung auf den Lippen gelegen, aber sie hatte sie sich verkniffen. So redete man nicht über andere Menschen. Das war jedenfalls ihre feste Überzeugung.

      Eben war die Bratpfanne schwungvoll in Jens’ Gesicht gelandet. Er hatte noch versucht, ihr auszuweichen, aber ein Teil des Bodens hatte ihn doch getroffen, und er war mit dem Stuhl umgekippt. Der Mann spürte das schmerzhafte Brennen auf der Haut, an unterschiedlichsten Stellen, weil das Fett durch die Gegend geschossen war. Grit hatte gerade Öl erhitzt, um Bratkartoffeln zu machen. Eigentlich sein Leib-und-Magen-Gericht. Doch seit Langem hatte er keine Präferenzen mehr, was kulinarische Spezialitäten anging.

      Wieder hatten sich beide im Streit hochgeschaukelt. Und er, er wollte diese üblen Verdächtigungen nicht auf sich sitzen lassen. Er hatte nichts vom Wirtschaftsgeld für sich abgezweigt, nicht einen einzigen Cent, er hatte nicht mit der Verkäuferin geliebäugelt … Jens wehrte sich mit hilflosen Worten.

      „Du deutest das völlig falsch“, hatte er gesagt. „Das war alles ganz harmlos. Ich wollte einfach nur freundlich sein. Und die Verkäuferin muss doch nett dreinschauen, gehört zu ihrem Job dazu.“

      „Ach was, der feine Herr turtelt mit allem rum, was nicht bei drei auf dem Baum ist, und ich, ich soll dabei kommentarlos zusehen. So weit kommen wir noch. Das wüsste ich aber. Nicht mit mir.“

      „Ich würde nur gern in Ruhe etwas Leckeres essen“, hatte daraufhin Jens noch eingelenkt. Seine Stimme klang dabei schwach.

      Grit redete sich in Rage. Und dann kam irgendwann die Pfanne angeschossen.

      Auf dem Küchentisch stand ein Ein-Liter-Karton mit fett­armer H-Milch, aus dem er sich zuvor noch für seinen Kaffee bedient hatte. „Zu Hause nicht sicher?“ hatte sich Jens die Frage ins Gehirn gebrannt, die auf einer Seite mit ziemlich großen Buchstaben stand. „Sind Sie akut von Gewalt zu Hause betroffen oder kennen Sie jemanden, der von Gewalt betroffen ist?“, stand dort zu lesen. JA, JA, hätte Jens am liebsten geschrien, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, während er wimmernd auf dem Boden lag.

      War das aber nicht doch ein Hoffnungsschimmer? Wenn so ein Hinweis sogar schon auf einem Alltagsgut wie einem Milchkarton stand. Er konnte schließlich unter der angegebenen Website alle wichtigen Informationen dazu finden, was zu tun wäre und wo man Hilfe bekommen könnte. Stärker als Gewalt, nannte sich die Internetseite, und das Bundesministerium für Familie, Soziales, Frauen und Jugend war in diesem Fall der Initiator. Hallo, sei mal realistisch, das betrifft dich doch


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