X-Mas: Hochdramatisch. Andrea Gerecke
Читать онлайн книгу.getummelt hatte.
„Jämmerlicher Schlappschwanz“, zischte seine Frau am Herd und hatte in der Zwischenzeit die vorbereiteten Kartoffelscheiben in das neuerlich eingefüllte und erhitzte Öl gleiten lassen.
„Das räumst du mir aber alles nachher auf. Und wehe, ich sehe noch irgendwo einen Dreckkrümel oder Spritzer!“
Am liebsten wäre er liegen geblieben, mit geschlossenen Augen. Er rappelte sich langsam auf, mit der Rechten auf der schmerzenden Gesichtshälfte. Kaltes Wasser, dachte Jens, da muss sofort kaltes Wasser drauf … Grit schaute nur kurz zu ihrem Mann.
„Denk dran, dass heute Sonnabend ist“, säuselte sie ihm noch hinterher, als er aus der Küche lief. Plötzlich war ihre Stimme ausgewechselt, hatte einen völlig anderen Klang.
Zwischen den Gedanken an das kalte, lindernde Wasser schaltete sich die energische Aufforderung aus dem Hintergrund, am Abend seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Er drehte im Bad den Wasserhahn am Waschbecken voll auf und beugte sein Gesicht unter den Strahl. So lange er es aushielt, blieb er in dieser Position. Dann fing er plötzlich an zu frieren, zitterte am gesamten Körper, erhob sich und drehte den Hahn zu. Er griff nach seinem Handtuch, mit dem er vorsichtig über Gesicht und Kopf tupfte. Beim Blick in den Spiegel schrak er nicht einmal zurück. Er hatte das erwartet: knallrote Brandblasen auf den Wangen und an der Stirn, die ihn entstellten. Sie würden aufgehen, sich vielleicht entzünden.
Jens sah sich nur in die Augen und blendete alles andere aus. Wie um alles in der Welt war er nur in dieser scheinbar ausweglosen Situation gelandet? Warum fand er nicht die Kraft, alles hinter sich zu lassen? Wie lange wollte er dieses Hamsterrad noch im Kreis drehen? Dabei waren sie doch einst ein richtiges Traumpaar gewesen, schon in der Schulzeit. Alle hatten sie um ihre große Liebe beneidet. Sie war seine erste und einzige Freundin.
Du hättest damals schon die Anzeichen wahrnehmen können, nervte sein Inneres. Du wolltest es nur nicht sehen, du Tölpel! Aber es gab doch immer wieder diese tollen Versöhnungen, nach jedem kleinen Streit, schlug die zweite innere Stimme vor. Allerdings verschlimmerte es sich von Mal zu Mal, das musstest du doch erkennen, fing die erste Stimme wieder bohrend an. Und was ist mit den Ruhephasen, die gab es doch auch dazwischen. Wenn alles mit einem Mal ganz harmonisch erschien, war wieder der zweite Ratgeber versöhnlich dran. Das hast du völlig falsch gedeutet und sofort alles entschuldigt, lautete das bissige Echo.
Jens schüttelte sich und fasste sich an den Kopf, der zu zerspringen drohte, so heftig waren die Schmerzen. Migräne hatte sein Hausarzt schon bescheinigt und seine Frau ihn daraufhin als Weichei bezeichnet. Dem Mediziner waren auch Jens’ Verletzungen nicht verborgen geblieben. Aber der entschuldigte das immer mit seiner Tollpatschigkeit.
„Sie können sich gar nicht vorstellen, was mir daheim alles passiert, Herr Doktor“, hatte Jens einmal erklärt, als der Arzt ihn direkt ansprach, ob er etwa Probleme hätte, über die er – natürlich ganz im Vertrauen – reden wolle.
„Wenn irgendwas im Wege steht, dann stolpere ich garantiert darüber. Und meine Haut ist eben sehr empfindlich, nicht nur bei Sonnenstrahlen, die mich sofort verbrennen. Da gibt es schon nach einem leichten Stoß Spuren. Vielleicht hätte ich ein Mädchen und kein Junge werden sollen …“
Der Doktor hatte nur den Kopf geschüttelt und sich seinen Teil gedacht. Auch Jens’ hochwertige Garderobe täuschte ihn nicht über den Sachverhalt hinweg. Die sollte bestimmt nur ablenken vom wirklichen Geschehen, weil sich schick angezogene Leute so etwas gegenseitig nicht antaten. Brutalität war eher in ärmeren Verhältnissen angesiedelt, so die öffentliche Meinung.
Aber wenn einer Hilfe brauchte, dann musste er diese auch wollen. Er hatte etliche ähnliche Fälle in seinem Berufsleben kennengelernt. Manche schafften es, andere gingen dabei drauf. Dem Doktor blieb keine Zeit, sich weiter Gedanken um seinen Patienten zu machen. Der war schon aus der Tür des Sprechzimmers hinaus, und auf dem Computerbildschirm standen die Daten des Nächsten, der, dessen eine Niere zu versagen drohte. Da war dringend eine Dialyse angesagt, aber in der nahe gelegenen Klinik waren schon alle Plätze belegt.
Und jetzt, grübelte Jens, nach unzähligen körperlichen Übergriffen und psychischer Gewalt, die oft weitaus mehr Wunden erzeugte? Nach seiner totalen Isolation? Keinen einzigen Freund hatte er mehr, alle hatten sich über die Jahre verabschiedet, auch weil er keinen Augenblick mit ihnen allein verbringen durfte. Seine Frau hatte ihn unter totaler Kontrolle, jeder Moment seines Lebens war überwacht.
Neulich hatte er in der Tageszeitung von familiären Gewalttaten gelesen. Der umfangreiche Beitrag zog sich über eine halbe Seite hin. Eigentlich hatte Grit das Blatt schon zum Altpapier gelegt. Er kam sowieso selten dazu, mal hineinzuschauen, auch konnte er sich nicht mehr wirklich konzentrieren, wenn er etwas las. Da aber hatte er nach aussortiertem Papier gesucht, um seine nassen Schuhe auszustopfen, damit es die Feuchtigkeit aufsaugte. Und so war ihm die Überschrift ins Auge gesprungen. Von einem speziellen, unauffälligen Hilferuf las er dort, der entwickelt worden war, um auf die eigene Situation aufmerksam zu machen. Wenn man gerade am Computer saß und im Internet war, aber nicht wollte, dass der Partner etwas mitbekam. Erst die Innenseite der flachen Hand zeigen, dann den Daumen in die Handinnenfläche beugen und schließlich die restlichen vier Finger über den Daumen legen. Jens machte das bei seiner Lektüre wieder und wieder. Es war ganz einfach.
Aber wen wollte er denn damit benachrichtigen, auf sich und seine vertrackte Lage hinweisen? Ihm fiel niemand mehr ein. Schwachsinn, tat er den Ratschlag in der Zeitung ab. Grit würde doch so etwas mitbekommen und dann würde sich alles für ihn noch verschlimmern. Er las dennoch weiter. Natürlich ging es wieder nur um Frauen, und die Bundesfamilienministerin wurde in diesem Zusammenhang zitiert. Dann musste er seine Auffassung revidieren. Ganz am Ende war auch eine spezielle Nummer für betroffene Männer angegeben. Ein kleines Anhängsel nur.
Er hatte sich dann diese Nummer in einem Kochbuch notiert, das sie nie zur Hand nahm. Und so unverfänglich gesplittet, dass sie nicht als Telefonnummer auffiel. In einer Notsituation sollte man dort rund um die Uhr anrufen können. Später wollte er die von dieser Helpline auf dem Milchkarton dort ergänzen. Eigentlich war er immer in Not, und wie sollte er diese Nummern betätigen, ohne dass es auffiel? Da müsste er sich ja ein separates Telefon zulegen. Es war einfach ausweglos. Ob sie ihn wohl eines Tages totschlagen würde? Dann hätte er endlich seine Ruhe.
Jens seufzte tief auf. Er lief in die Küche und setzte sich an den Tisch. Grit ließ eine Portion Bratkartoffeln auf seinen Teller gleiten. Dann nahm sie sich den Rest und stellte die Pfanne in die Spüle.
„Kannst du nachher machen. Jetzt lassen wir es uns erst einmal schmecken. Guten Appetit.“
„Danke, dir auch“, hauchte Jens und schob mit der Gabel eine aufgespießte Kartoffelscheibe über den Teller.
„Schmeckt dir wohl nicht oder hast du etwa keinen Hunger?“, kam die drohende Frage seiner Frau.
„Doch, doch“, beeilte sich Jens mit der Antwort und schob mehrere Bissen in seinen Mund.
„Nun schling nicht so, das sieht ja unappetitlich aus. Essen muss man genießen! Mach es einfach so wie ich“, sagte Grit und kaute überaus gründlich an einer kleinen Gabelportion, die sie anschließend herunterschluckte, bevor sie zu einem Glas mit Mineralwasser griff.
„Und nimm ein paar von den sauren Gürkchen. Ich habe das Glas extra für dich aufgemacht.“ Die Frau wies auf einen kleinen Teller in der Tischmitte. Sie war noch nicht am Ende ihrer Ausführungen angelangt, als Jens schon ein Stück ergriff und in den Mund steckte.
Grit zog sich nach dem Essen in ihren Bereich zurück, um sich mit ihren allerbesten Freundinnen per WhatsApp auszutauschen. Meist reichte ja ein witziges Foto oder ein originelles Video aus, das man weiterleitete. Viel an Kommentaren war gar nicht gefragt. Und eventuelle Fragen wurden eher selten beantwortet. Sie wischte auf ihrem Smartphone herum und kicherte zwischendurch.
Jens hatte sich daran gemacht, die Unordnung in der Küche zu beseitigen. Er wusste genau, dass Grit ihn hinterher überprüfen würde. Manchmal sogar mit Taschenlampe und einem weißen Stofftaschentuch, auf dem man garantiert jede Dreckspur erkannte. Gern nahm sie Fotos von den Stellen auf, die