Blindlings ins Glück. Ria Hellichten

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Blindlings ins Glück - Ria Hellichten


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… Unfall weitergehen soll.“

      Er erwiderte nichts.

      Sie schien einen Moment zu überlegen, dann fuhr sie fort. „Herr Döring meint, dass Sie unter diesen Umständen vorerst nicht in die Abteilung zurückkehren können. Es gibt allerdings spezielle Rehabilitationsmaßnahmen für den Wiedereinstieg in den Beruf. Ich könnte Ihnen helfen, die Anträge auszufüllen, und vielleicht ergeben sich in der Zwischenzeit Möglichkeiten, dass Sie anderweitig …“

      „Wie bitte?“ Johnny ließ sein angebissenes Pizzastück in den Karton fallen und stand abrupt auf. „Ich brauche keine Rehabilitationsmaßnahmen! Und was soll das überhaupt heißen, ich kann nicht in die Abteilung zurück? Das hätte ich ja nicht mal von Döring erwartet. So ein verdammter Mistkerl! Selbst blind bin ich immer noch zehnmal fähiger als dieser Idiot!“

      Und das war eine schamlose Untertreibung. Seit der neue Geschäftsführer vor etwas über einem Jahr die Leitung der Firma übernommen hatte, ging es nach Johnnys Meinung mit Sanacur bergab. Das Unternehmen biederte sich vielversprechenden Kunden gegenüber geradezu an, umgarnte sie mit teuren Geschäftsessen und protzigen Präsentationen, anstatt wie zuvor durch Qualität zu überzeugen. Nicht dass Johnny etwas gegen gutes Essen oder schicke Technik einzuwenden gehabt hätte, aber er konnte es nicht ausstehen, wenn nichts hinter der blendenden Fassade steckte. Wobei er ja gute Arbeit leistete. Menschenkenntnis und Intuition machten einen hervorragenden Personaler aus und er konnte die Stärken und Schwächen der meisten Menschen schon auf den ersten Blick erahnen. Nach einem kurzen Gespräch kannte er ihr Potenzial. Das galt zumindest für die Zeit, als er noch in der Lage gewesen war, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen.

      Babsi klopfte angespannt mit den Fingernägeln auf den Tisch.

      „Sie wissen, dass ich mich aus solchem Gerede he-

      raushalte, Herr Baumann. Wie dem auch sei: Ich helfe Ihnen gerne mit dem Papierkram, wenn ich kann, aber ich werde auf keinen Fall Ihre persönliche Krankenschwester sein.“

      Bildete er sich das nur ein, oder war ihr Tonfall ihm gegenüber forscher geworden? Er war vielleicht ein wenig paranoid, aber nicht dumm. Sie wusste genau, dass er eine Konfrontation mit Döring nicht überstehen würde – auch wenn er schon seit fast einem Jahrzehnt in der Firma arbeitete. Johnny lächelte verbittert in sich hinein.

      „Babsi“, begann er schließlich und versuchte, sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. „Wenn Sie es nicht für Ihren Vorgesetzten tun können, dann tun Sie es doch für einen alten Freund. Wollen Sie mich ausgerechnet jetzt hängen lassen? Herrgott noch mal, meine Mutter will, dass ich wieder bei ihr einziehe! Verlegen Sie doch einfach Ihr Büro in mein Gästezimmer.“

      Babsi schnaubte verärgert. „Für solche Fälle gibt es Sozialarbeiter, Johannes. Ich werde dir sicher nicht beim Anziehen und Duschen helfen! Es war ein Fehler, überhaupt hierherzukommen.“

      In diesem Moment entglitt Johnny ein spöttisches Lachen, ehe er es verhindern konnte. Selbst in seinen eigenen Ohren klang er verzweifelt, ja, beinahe hysterisch. Hatte sie ihn geduzt? Und beim Vornamen genannt! Johannes nannte ihn ja nicht einmal seine eigene Mutter. Babsi hielt ihn für einen Invaliden. Einen Krüppel, der sich nicht ohne Hilfe waschen und anziehen konnte. Und für größen­wahnsinnig noch dazu, aber das war ja nichts Neues.

      Obwohl ihm klar war, dass sie ihn missverstanden hatte, lagen ihm ihre Worte im Magen wie ein Stein. Das Lachen verklang und er starrte in die Leere. Die Vorstellung, wie Babsi ihn duschte, nahm vor seinem inneren Auge Form an, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er kannte Dutzende Frauen wie sie und er hatte immer geglaubt, dass ihm diese Geschichten nichts bedeuteten. Aber jetzt? Würde er jemals wieder mit einer Frau zusammen unter der Dusche stehen?

      Er wollte zu Babsi herübergehen und wenigstens ihre Hand berühren. Dem Spott und vor allem dem Mitleid die Stirn bieten, aber die Übelkeit, die in ihm aufstieg, überwältigte ihn. Er war doch immer noch ein richtiger Mann … War er das? Die Frage hallte in seinen Gedanken wider, ließ alte Erinnerungen und neue Ängste aufsteigen, die sich miteinander verwoben und sich wie ein Seil um seinen Hals legten, immer fester, bis er flach um Luft rang und keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er war nur noch ein kranker Körper, eine papierdünne Hülle und darunter ein gebrochener Mann. Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, sich nicht vor seiner ehemaligen Assistentin auf den Teppich zu übergeben.

      Babsi stand auf, brachte ihr Glas und den Pizzakarton in die Küche und verabschiedete sich wortkarg. Johnny konnte sich gerade noch so lange zurückhalten, bis die Wohnungstür ins Schloss fiel. Dann stürmte er ins Badezimmer, stieß sich auf dem Weg den Ellenbogen und den Knöchel und brach über der Kloschüssel zusammen.

      Er wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis er endlich in der Lage war, aufzustehen, sich das Gesicht zu waschen und den Mund auszuspülen. Als das Rauschen des fließenden Wassers verklungen war, miaute es neben ihm. Sein Kater. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn plötzlich und schmerzte fast mehr als das wunde Gefühl in seiner Kehle. Er nahm das Tier hoch und trug es in die Küche. Dort suchte er den Wassernapf und füllte ihn auf. Er fand auch eine Dose Katzenfutter im Schrank. Als er sie öffnete, wurde ihm wieder ein wenig übel. Trotzdem kratzte er das Futter in den Napf und stellte es auf den Boden. Sein Kater machte sich schmatzend über die Mahlzeit her und schmiegte dann dankbar den Kopf in seine Hand, die noch immer ein wenig zitterte. Der Flaum im Katzennacken war weich und Johnny schloss die Augen, obwohl es nicht nötig war.

      Er wählte Babsis Nummer an diesem Abend nicht noch einmal, weil ihm die Kraft fehlte. Stattdessen schickte er ihr eine kurze Sprachnachricht: „Barbara, bitte leiten Sie das mit dem Sozialarbeiter in die Wege, es wäre mir eine große Hilfe.“

      BEA

      Als Tabea an der Haltestelle Lorettostraße aus der Straßenbahn stieg, schlug ihr die Mittagshitze ins Gesicht. In den letzten zwei Wochen hatte der pausenlose Sonnenschein – dem Klimawandel sei Dank – dafür gesorgt, dass es in Freiburg, auch bekannt als „Toskana Deutschlands“, so warm war wie am Gardasee oder auf Mallorca. Aber natürlich war es hier viel schöner. Das Blätterdach der stämmigen Rosskastanien, die sich nach dem wolkenlosen Himmel ausstreckten, spendete Tabea Schatten. Die Bäume waren so dicht belaubt, dass nur ab und zu die romantische Turmspitze einer der alten Fabrikantenvillen durch das Grün blitzte oder ein vereinzelter Sonnenstrahl auf das Kopfsteinpflaster fiel. Tabeas Pluderhose flatterte im lauen Wind, darüber fiel ihre bunte Tunika. Beide Kleidungsstücke mochte sie besonders: Weil sie bequem waren und weil es sie jedes Mal mit Schadenfreude erfüllte, sich so anzuziehen, dass ihrer Mutter die Haare zu Berge stehen würden, könnte sie sie sehen. Du hast immer etwas von einer Vogelscheuche, hatte sie einmal gesagt. Aber das machte nichts, fand Tabea, denn als Spatzenschreck konnte man sich wenigstens den ganzen Tag auf den Getreidefeldern die Sommerluft um die Nase wehen lassen und müsste bestimmt nicht irgendeinem Personalchef hinterherjagen, der sich in letzter Zeit nicht sonderlich oft in seinem Büro sehen ließ. Dass der aufgeplusterte Vogel ernsthaft krank sein sollte, konnte sie sich nur schwerlich vorstellen.

      Tabea bog ein letztes Mal in eine Seitenstraße ein, um der Beschreibung auf Google Maps zu folgen. Geschmack hatte Herr Baumann ja, zumindest was seine Behausung anging. Die neobarocke Villa an der Straßenecke war ein eindrucksvolles Relikt aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Ehrfürchtig bestaunte Tabea das dreigeschossige Gebäude mit den gesprossten Rundbogenfenstern und den ausladenden Erkern. Sie dachte daran, dass es bald immer weniger dieser gemütlichen Straßen und grünen Plätze in Freiburg geben würde, wenn der Bauwahn weiter voranschritt. Und das nicht zuletzt wegen Menschen wie Johannes Eduard Baumann – ja, sie hatte sogar seinen Zweitnamen recherchiert, um die Kohlmeise zufriedenzustellen –, denn die Betonklötze, in denen sie arbeiteten, brauchten Platz und ebenso die Golfplätze und Parkhäuser voller Sportwagen.

      Aber als Tabea vor dem großen Eisentor stand, das von einer Buchenhecke umrahmt wurde, stiegen Zweifel in ihr auf. War es die richtige Entscheidung gewesen, unangemeldet hier aufzutauchen? Die freundliche Stimme von Baumanns Assistentin klang ihr noch in den Ohren: Sanacur, Büro Baumann, Barbara Münzer am Apparat … Ach, schön, dich zu hören, Tabea – es tut mir leid, aber Herr Baumann ist krankgeschrieben … Nein, ich glaube,


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