Blindlings ins Glück. Ria Hellichten

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Blindlings ins Glück - Ria Hellichten


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Mutter erwiderte nichts, aber er hörte, dass sie den Reißverschluss ihrer Tasche wieder zuzog. Dann breitete sich die Stille erdrückend zwischen ihnen aus.

      Nach einer Weile räusperte er sich. „Hast du den Kater gefüttert?“

      Seine Mutter brauchte einen Moment, bis sie sich gefangen hatte. „Ja, ja … das mache ich nachher gleich. Das mache ich gleich als Erstes.“

      Johnny biss die Zähne zusammen. Auf einmal drohte all die Wut, die sich in den letzten Stunden in ihm aufgestaut hatte, über ihm zusammenzubrechen. Wut über die Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet ihm so etwas Schreckliches zugestoßen war, Wut über die Ärzte, in deren fremde Hände er sein Leben legen musste, ob er wollte oder nicht. Wut über seine ganze, sinnlose Existenz. Und jetzt auch noch darüber, dass sein Kater, dieses unschuldige Tier, das nichts für Johnnys Dummheit konnte, darunter leiden musste. Er wollte all das am liebsten herausschreien, aber derbe Flüche und zornige Vorwürfe hatten Violetta noch nie beeindruckt. Also tat er, was er schon früher, als Kind, stets getan hatte, wenn sie nicht seiner Meinung gewesen war: Er schluckte die Wut herunter, ignorierte das Gefühl, als sich schmerzhaft sein Magen verkrampfte, und atmete tief ein und wieder aus. Dann sagte er so gefasst wie möglich: „Du musst ihn mit zu dir nehmen. Er frisst nur sein gewohntes Futter, aber im Vorratsschrank in der Küche sollten genügend Dosen sein.“ Es würde mehr als nur ein Bad brauchen, um den Gestank nach Nikotin und teurem Parfum wieder aus dem Fell seines geliebten Tieres zu bekommen – dabei war der Kater wasserscheu.

      Violetta seufzte schwer. „Ach, Junge. Die ganzen Katzenhaare überall … du weißt doch, dass ich da manchmal ein bisschen allergisch reagiere.“

      „Bitte“, fügte Johnny in flehendem Ton hinzu und deutete ihr Schweigen als Zustimmung. Zu seiner Erleichterung stellte seine Mutter auch keine Fragen mehr. Er war sicher, dass die Ärzte ihr bereits alles gesagt hatten, was es zu wissen gab. Nach einer Weile stand Violetta auf, nahm den Wohnungsschlüssel vom Nachttisch – Johnny konnte hören, wie das Metall auf dem Plastik klirrte – und verabschiedete sich, indem sie unerwartet sanft über seine Wange strich.

      Obwohl die Kopfschmerzen allmählich besser wurden und auch die Übelkeit nachließ, verbrachte Johnny den Rest des Morgens wie im Delirium und auch den Nachmittag und den Abend.

      Aus den Stunden wurden Tage, in denen seine Gedanken immer wieder um dieselben Dinge kreisten: Er dachte an die Papierberge auf seinem Schreibtisch, die sich inzwischen wohl kaum noch bewältigen ließen, und an die Stellen im Außendienst, die erst einmal unbesetzt bleiben würden. Er dachte an seine Kollegen, die mit einer sonderbaren Mischung aus Sensationslust und Entsetzen über ihn sprechen und für Blumen samt Genesungskarte sammeln würden. Vielleicht waren sie sogar so geistesgegenwärtig, einen duftenden Strauß zu nehmen. Und er dachte an den Kater, der jetzt ein ebenso trostloses Dasein in einer Wohnung im achten Stock eines heruntergekommenen Plattenbaus in Haslach-Weingarten fristete.

      Nur selten erlaubte sich Johnny, sich seine Zukunft auszumalen; sich vorzustellen, wie sein Alltag als Blinder überhaupt aussehen würde. Diese Überlegungen drohten ihn jedes Mal zu überwältigen und endeten nicht selten damit, dass er um Luft ringend, panisch und völlig aufgelöst nach der Schwester klingelte. Die gab ihm meist eine Beruhigungsspritze, mit der sich die quälenden Gedanken in einem weißen Nebel auflösten. Manchmal dachte Johnny auch an die dunkelhaarige Frau, die an diesem verhängnisvollen Abend vor zwei – oder drei? – Wochen sein schreckliches Schicksal geteilt hatte, ohne es zu wissen. Dann fragte er sich, ob Chiara, oder Camila, jetzt auch blind war. Aber er glaubte, sich dunkel daran zu erinnern, dass sie im Gegensatz zu ihm selbst nur wenig von dem Schnaps getrunken hatte.

      Einmal, als die Sonne durch das geschlossene Fenster in sein Krankenzimmer fiel und kribbelnd seine Haut wärmte, ertappte sich Johnny sogar dabei, an Franzi zu denken und sich zu fragen, was sie sagen würde, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte. Je klarer sein Verstand wurde und je besser es ihm nach Meinung der Ärzte ging, desto pathetischer fühlte er sich. Dann endlich, nach schier endlosen Wochen, war der Tag seiner Entlassung gekommen.

      „Ich hatte Ihnen ja schon angeboten, dass Sie ein Sozialarbeiter aus unserer Klinik besuchen kann, um die weiteren Anträge zu stellen“, begann der Oberarzt. „Wollen Sie sich das vielleicht noch einmal überlegen?“

      Johnny schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich vage an das Gespräch. „Danke, aber meine Sekretärin wird sich um den ganzen Papierkram kümmern.“

      Der Arzt schwieg einen Moment lang. „Gut. Aber bitte melden Sie sich noch diese Woche bei Ihrem Hausarzt. Die Nachsorgetermine sollten Sie ernst nehmen. Und er wird Sie auch zu den Angeboten beraten, die Sie in Anspruch nehmen können: spezielle Rehabilitationsangebote bei Späterblindung zum Beispiel und natürlich auch psychologische Betreuung.“

      Johnny machte eine abweisende Handbewegung. „Ich brauche keinen Psychologen.“ Er stand mit wackeligen Schritten auf. In den letzten Wochen hatte er sein Bett nur für ein paar kurze Spaziergänge im Park des Klinikums verlassen, stets in Begleitung einer Schwester natürlich.

      „Die Entlassungspapiere schicken wir direkt an Ihren Hausarzt. Sollen wir jemandem Bescheid geben, der Sie abholen kann?“

      „Ich kann meine Mutter selbst anrufen, danke.“

      „Möchten Sie, dass eine Schwester Sie ins Foyer bringt?“

      Johnny wollte widersprechen. Aber der Wunsch, wieder nach Hause zu kommen, war größer als das bisschen Stolz, das ihm noch geblieben war – und allein würde er sich zweifellos im Irrgarten der Klinikflure verlaufen. Er nickte stumm. Der Arzt drückte auf den Rufknopf und verabschiedete sich.

      Als er wieder allein war, zog Johnny sein Handy aus der Hosentasche. „Siri, ruft Violetta an.“ Am Telefon fasste er sich so kurz wie möglich und legte auf, bevor seine Mutter ihn mit neuen Fragen überhäufen konnte. Gleich darauf kam die Schwester herein und begrüßte Johnny freundlich. Für einen Moment atmete er auf.

      Schließlich stand er mit der Sporttasche in der Hand im Krankenhausfoyer. Er überlegte, ob er nicht lieber ein Taxi hätte rufen sollen, aber das wäre nur wieder ein Fremder gewesen, der ihn angestarrt hätte; selbst wenn er die brennenden Blicke nicht sehen, sondern nur spüren konnte.

      Johnny lauschte auf die automatische Eingangstür, die bei jedem Öffnen und Schließen ein disharmonisches Surren von sich gab. Vermutlich standen hier auch die Aschenbecher, denn eine Nikotinwolke drang zu ihm herüber und er konnte hören, dass sich in ein paar Metern Entfernung jemand unterhielt. Am liebsten wäre er hingegangen, um nach einer Zigarette zu fragen. Das hätte sein miserables Leben wenigstens für einen Moment erträglicher gemacht. „Verdammte Scheiße“, fluchte er leise, aber mit jeder Sekunde wuchs die Gleichgültigkeit, die ihn betäubend umhüllte. Er war Ende dreißig und wartete wie ein Schuljunge, der etwas ausgeheckt hatte, darauf, dass seine Mutter ihn abholte. Es war entwürdigend – und es machte ihm nicht einmal etwas aus.

      BEA

      Endlich war es so weit: Der ältere Mann hielt inne, zumindest für einen Augenblick. Kurz zuvor hatte er sich von dem Eichenpult erhoben – die ausgeblichene schwarze Robe spannte dabei nicht sehr würdevoll an seinem Oberkörper –, um zu verkünden: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Die Angeklagte wird für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 20 Euro verurteilt.“

      Tabea unterdrückte den Drang, sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn zu streichen. Jetzt war ihr Einsatz. Auch wenn sie jedes Mal Panik überkam, liebte sie den Augenblick. Die Stille, die nur einen Herzschlag lang andauerte, kurz bevor man das erste Mal zu seinem Publikum sprach. Es war der gleiche vertraute Adrenalinrausch, der sie immer dann durchströmte, wenn sie hinter dem Vorhang hervortrat, auf die Bretter trat, die die Welt bedeuteten. Dabei dachte sie immer nur an den ersten Satz oder das erste Wort. Wenn man einmal angefangen hatte, lief es von allein. Auch wenn das hier eigentlich keine Bühne war.

      Sie sah dem Richter in die Augen. Er hatte schon den kleinen Hammer erhoben und der hölzerne Kopf zitterte in der Luft, als sie den Mund öffnete, um zu sprechen. „Ich beantrage, eine Ersatzfreiheitsstrafe


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